25.10.2017

Medea-Hypothese: Ist die Erde eine Todesfalle?

Von Kolja Zydatiss

Titelbild

Foto: katja via Pixabay / CC0

In der Erdgeschichte kam es immer wieder zum Massenaussterben. Ohne menschliche Eingriffe, meinen Forscher, neigt das Leben zur Selbstzerstörung. Unsere Beziehung zur Natur muss neu bewertet werden.

Treffen sich zwei Planeten im Weltall. Sagt der eine zum anderen: „Siehst schlecht aus.“ Sagt der andere: „Ja, ich habe Homo sapiens.“ Sagt der Erste: „Hatte ich auch mal. Das geht vorbei.“

Dieser (ziemlich misanthropische) Witz gibt eine Vorstellung wieder, die in westlichen Gesellschaften heute weit verbreitet ist. Für viele ist der Mensch ein Schädling, dessen Aktivitäten das „natürliche Gleichgewicht“ stören. Dieser Gedanke bildet die philosophische Grundlage der modernen Umweltbewegung. Man fordert ein neues, demütiges Verhältnis zur Natur. Der Mensch soll seine Eingriffe minimieren, damit die Erde zu einem harmonischen Urzustand zurückkehren kann.

Gaia-Hypothese

Einen wissenschaftlichen Anstrich bekam diese romantische Sicht auf die Natur vor allem durch die Arbeit der Mikrobiologin Lynn Margulis und des Chemikers, Biophysikers und Mediziners James Lovelock. Sie formulierten Mitte der 1960er Jahre die sogenannte Gaia-Hypothese. Der Name leitet sich von der Urmutter der griechischen Mythologie, Gaia, ab. Margulis und Lovelock beschrieben in ihrem Modell die Erde und ihre Biosphäre als dynamisches, selbstregulierendes System, das auf einer metaphorischen Ebene wie ein Lebewesen betrachtet werden kann. Diese These bekam eine Aufmerksamkeit, die weit über die wissenschaftliche Gemeinschaft hinausging. Die Vorstellung von der Erde als sanftmütiger Göttin traf einen Nerv in einer Gesellschaft, die sich zunehmend von der traditionellen, „anthropozentrischen“ Religion, aber vor allem vom aufklärerischen Anspruch, Umwelt und Gesellschaft umfassend gestalten und kontrollieren zu können, abwandte. In der Popularität der Gaia-Hypothese spiegelten sich die niedrigen Erwartungen unserer Zeit. Sie wies dem Menschen eine sehr bescheidene und zudem vor allem destruktive Rolle im planetaren Ökosystem zu und passte zur aufkommenden Umweltbewegung.

„Für viele ist der Mensch ein Schädling, dessen Aktivitäten das ‚natürliche Gleichgewicht‘ stören.“

Lovelock distanzierte sich später von animistischen und esoterischen Interpretationen (die Erde habe ein Bewusstsein, empfinde Schmerzen usw.) und berief sich ausschließlich auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Seine Arbeit begründete die Erdsystemwissenschaft, eine Disziplin, die die globalen Wechselwirkungen physikalischer, chemischer, biologischer und sozialer Prozesse untersucht. Im Wesentlichen unterscheiden Wissenschaftler heute zwischen zwei ‚Versionen‘ der Gaia-Hypothese:

  1. Optimierende Gaia
    Lebewesen verändern die Beschaffenheit der Biosphäre und machen sie bewohnbarer. Diese Tendenz soll ein Produkt der Evolution sein, da die natürliche Selektion Organismen bevorzuge, die ihre Umwelt optimieren.
  2. Homöostatische Gaia
    Negative Rückkopplungsschleifen halten die Bedingungen für das Leben (z.B. die Temperatur, die Zusammensetzung der Atmosphäre) günstig und stabil und regulieren sie auf diesem Niveau.

Gaia auf dem Prüfstand

Optimierende Gaia war die ursprüngliche Gaia-Hypothese. Kritiker wie der Geowissenschaftler James Kirchner haben darauf hingewiesen, dass diese These eine Art Zirkelschluss ist. Alles Leben auf der Erde hatte sehr viel Zeit, sich evolutionär an die Bedingungen der Erde anzupassen. So ist es wenig überraschend, dass die Erde für das Leben ‚optimiert‘ zu sein scheint. Auch Lovelock hält optimierende Gaia heute für nicht wissenschaftlich haltbar.

Einer der schärfsten Kritiker der Gaia-Hypothese ist der amerikanische Paläontologe Peter Ward. Er ist der Meinung, dass die Hypothese mit einigen bekannten Eigenschaften des Lebens unvereinbar ist:

  1. Populationen von Lebewesen überschreiten regelmäßig die Tragfähigkeit ihres Lebensraums. Die „überschüssigen“ Individuen verhungern.
  2. Der Stoffwechsel von Lebewesen produziert gasförmige, flüssige und feste Abfallstoffe, die meist giftig sind. In geschlossenen Räumen neigt das Leben zur Selbstvergiftung.
  3. Im Konkurrenzkampf um Ressourcen bringen Arten nicht selten andere Arten zum Aussterben.
  4. In der Natur gibt es unzählige Rückkopplungsschleifen. Die meisten davon wirken jedoch nicht stabilisierend (negatives Feedback), sondern verstärkend (positives Feedback).

„Das Leben reduziert die Bewohnbarkeit der Erde.“

Ward nennt diese „medeische Eigenschaften“, in Anlehnung an Medea, eine Frauengestalt aus der griechischen Mythologie, die ihre eigenen Kinder tötet, um sich an ihrem Mann Jason zu rächen. Als Gegenstück zur Gaia-Hypothese postuliert er die sogenannte Medea-Hypothese: Das Leben hat die Bewohnbarkeit der Erde beeinflusst. Aufgrund der medeischen Eigenschaften des Lebens ist der Gesamteffekt jedoch negativ – das Leben reduziert die Bewohnbarkeit der Erde.

Peter Ward und andere Wissenschaftler haben viele Daten zusammengetragen, die die Medea-Hypothese stützen (einen guten Überblick bietet Wards 2009 erschienenes Buch „The Medea Hypothesis“). Neben den bereits erwähnten positiven Rückkopplungsschleifen wurde vor allem die Langzeitentwicklung der globalen Biomasse untersucht. Temperatur-, CO2- und andere Daten können genutzt werden, um die vergangene und zukünftige Biomasse der Erde zu modellieren. Führend auf diesem Gebiet war der 2011 verstorbene Physiker Siegfried Franck an der Universität Potsdam. Franck und seine Mitarbeiter kamen zu dem Schluss, dass die globale Biomasse nicht etwa zunimmt, oder stabil bleibt, sondern vor ca. einer halben Milliarde Jahre ihren Höhepunkt erreichte und seitdem stetig abnimmt.

Medeische Ereignisse

Der stärkste Beweis für die selbstzerstörerischen Tendenzen des Lebens sind vom Leben selbst ausgelöste Extremzustände, die im Laufe der Erdgeschichte immer wieder eine große Anzahl an Arten auslöschten. Beispiele solcher „medeischer Ereignisse“ sind:

  1. Methanvergiftung
    Vor ca. 3,7 Milliarden Jahren entstanden an den Küsten geschichtete Mikrobenkolonien (sogenannte Stromatoliten). Ihr Stoffwechsel produziert Methan. Laut dem Geowissenschaftler James Kasting schufen die Stromatoliten einen Methannebel, der das Sonnenlicht zurückwarf und die Erde rapide abkühlte. Wenn die Erde nur ein wenig weiter von der Sonne entfernt gewesen wäre, hätte diese Abkühlung jegliches irdisches Leben ausgelöscht. 1
  2. Große Sauerstoffkatastrophe
    Vor ca. 2,5 Milliarden Jahren entwickelten Mikroorganismen, wahrscheinlich die Vorläufer der heutigen Cyanobakterien, eine neue Form der Photosynthese. Im Gegensatz zur alten Form entstand als Abfallprodukt Sauerstoff. Ein Teil dieses Sauerstoffs konnte durch Oxidation gebunden werden. Der Rest begann sich jedoch im Meerwasser und in der Atmosphäre anzureichern. Für anaerobe Lebensformen war der freie Sauerstoff giftig. Es kam zu einem Massenaussterben, dem die meisten anaeroben Arten zum Opfer fielen. 2
  3. Schneeball Erde
    Die oben erwähnten photosynthetischen Mikroorganismen lösten noch ein zweites Extremereignis aus. Vor ca. 2,3 Milliarden Jahren wurden sie so zahlreich, dass sie fast die ganzen Treibhausgase wie Methan und CO2 aus der Atmosphäre entfernten. Die Erde kühlte sich ab, die Eiskappen und Gletscher wuchsen. Der Schnee reflektierte das Sonnenlicht und kühlte den Planeten weiter ab. Die Erdoberfläche vereiste fast vollständig. Nur wenige Arten überlebten .3 Diese Katastrophe wiederholte sich vor ca. 700 Millionen Jahren. Damals entstand eine Vielzahl neuer Pflanzenarten. Erstmals waren große Teile der Erde mit Wäldern bedeckt. Was auf den ersten Blick wie ein Aufblühen des Lebens erscheint, stellte sich als tödlich heraus. Wieder sank das CO2 und löste eine Supereiszeit aus, die die Artenvielfalt erheblich reduzierte. 4
  4. Treibhaus Massensterben
    Immer wieder kam es in der Erdgeschichte zu einem Anstieg der Treibhausgase, was eine globale Erwärmung auslöste. Mindestens acht Mal führte diese Erwärmung zum Abreißen der thermohalinen Zirkulation, dem gigantischen „Förderband“ aus Meeresströmungen, das in den Ozeanen für Massen- und Wärmeaustausch sorgt. Ohne thermohaline Zirkulation werden die Meere schnell anoxisch, also frei von Sauerstoff. Plankton und andere Meeresorganismen, die viel Sauerstoff brauchen, sterben. Sie werden u.a. durch schwefelliebende Bakterien ersetzt, die extrem giftigen Schwefelwasserstoff abgeben. Die Erde verwandelt sich in eine stinkende Hölle mit lila Meeren und grünem Himmel. Peter Ward glaubt, dass Schwefelbakterien vier der fünf größten Massenaussterbensereignisse in der Erdgeschichte verursachten (die Ausnahme bildet der Meteoriteneinschlag, der vor ca. 65 Millionen Jahren u.a. die Dinosaurier auslöschte). Das extremste dieser Ereignisse war das „Große Sterben“ an der Perm-Trias-Grenze vor ca. 250 Millionen Jahren, dem 90 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten zum Opfer fielen. 5

„Die Erde verwandelte sich in eine stinkende Hölle mit lila Meeren und grünem Himmel.“

Das kaputte Thermostat

Lange Zeit beschäftigte sich die Wissenschaft kaum mit dem Ende der Welt. Man wusste, dass die Sonne ihre Vorräte an brennbaren Elementen aufbraucht und immer heller wird (plus zehn Prozent Lichtintensität jede Milliarde Jahre). Lange nahm man an, dass das Verdampfen der Ozeane in ca. 2-3 Milliarden Jahren das Ende des Lebens einläuten würde. Die neue Disziplin der Erdsystemwissenschaft brachte jedoch einen Schock: Das Ende wird wahrscheinlich viel früher kommen. Eine wesentliche Rolle wird dabei das Leben selbst spielen.

Die globale Durchschnittstemperatur ist langfristig erstaunlich konstant geblieben. Seit Milliarden von Jahren liegt sie zwischen 0 und 40 Grad Celsius. Der Grund dafür ist der sogenannte Carbonat-Silicat-Zyklus. Es handelt sich dabei um eine klassische negative (stabilisierende) Rückkopplungsschleife. Wenn die Temperatur der Erde steigt, erhöht sich die Verwitterungsrate Silikat-reicher Gesteine wie Granit. Dabei wird Calcium freigesetzt. Das Calcium reagiert zu Calciumcarbonat (dem Hauptbestandteil von Kalkstein) und entzieht dabei der Atmosphäre CO2. Dies senkt die globale Temperatur wieder ab, was die Verwitterung des Silikatgesteins verlangsamt.

Dieses „globale Thermostat“ schafft günstige Bedingungen für das Leben. Doch es birgt auch den Keim seines Untergangs. Denn der Regelungsmechanismus kann den Wettlauf mit der Sonne langfristig nicht gewinnen. Die immer intensiver strahlende Sonne heizt den Planeten auf. Die Verwitterung des Silikatgesteins beschleunigt sich. Immer mehr CO2 wird im Kalkstein gebunden. Der CO2-Gehalt der Atmosphäre wird in Zukunft immer weiter absinken. In ca. 500 Millionen Jahren wird er ein Niveau erreichen, bei dem die Photosynthese unmöglich wird. Pflanzen und Tiere (die auf den Sauerstoff angewiesen sind, den die Pflanzen produzieren) werden aussterben. Das Zeitalter des komplexen Lebens ist nur ein kleiner Abschnitt der Erdgeschichte, eingerahmt von langen Phasen, in denen es nur mikrobielles Leben gibt. „Unser“ Zeitalter, erklärt Peter Ward, ist schon zur Hälfte vorüber (siehe Abbildung 1).

„Der CO2-Gehalt der Atmosphäre wird in Zukunft immer weiter absinken.“

Abbildung 1: Uhr des Lebens (Grafik: K. Zydatiss, nach P. Ward, 2016).

Das Aussterben des komplexen Lebens wird ein medeisches Ereignis sein. Denn es ist nicht die Sonne, die die Pflanzen und Tiere auslöscht. Das Leben selbst verursacht den CO2-Rückgang. Kalkstein wird in erster Line von Lebewesen gebildet. Er besteht größtenteils aus den Skeletten von Meeresorganismen wie Korallen, Foraminiferen und Weichtieren. Im Laufe der Evolution ist das Leben immer besser darin geworden, Skelette aus Calciumcarbonat zu bilden, und damit der Atmosphäre CO2 zu entziehen. Daneben gibt es einen weiteren medeischen Faktor: Pflanzen verstärken die Verwitterung des Silikatgesteins und damit den Carbonat-Silicat-Zyklus (auf Planeten ohne Leben ist dieser kaum vorhanden).

Soziale Implikationen

In einer Zeit, in der steigende Treibhausgasemissionen vielen Menschen Sorgen bereiten, erscheint die Beschwörung einer CO2-freien Endzeit befremdlich. Der Vater der Medea-Hypothese, Peter Ward, betont, dass der anthropogene Klimawandel kurzfristig das größere Problem darstellt. Er verdeutliche, dass auch die Menschheit medeische Züge trägt. Im schlimmsten Fall könnte das Abschmelzen der Polkappen die thermohaline Zirkulation unterbrechen und zum Wiederaufblühen der tödlichen Schwefelbakterien führen. Diese Bedrohung, schreibt Ward, sollte sehr ernst genommen werden. Neben der intensiven Nutzung der Atomkraft (die übrigens auch vom Erfinder der Gaia-Hypothese Lovelock aus ähnlichen Gründen entschieden bejaht wird) werden wohl auch Geoengineering-Maßnahmen nötig sein, um das Klima stabil zu halten. 6

„Wie bei einer Flugzeugentführung müssen wir das Cockpit stürmen und das Leben von seinem selbstzerstörerischen Kurs abbringen.“

Langfristig bleibt jedoch die Tatsache, dass das atmosphärische CO2 eines Tages ein Niveau erreichen wird, bei dem die Pflanzen aussterben. Selbst die Verbrennung aller fossilen Brennstoffvorräte kann diesen Trend nicht umkehren. 7 Dies hat weitreichende Implikationen für die Menschheit und ihr Verhältnis zur Natur. Umweltschützer, schreibt Ward, sind oft wohlmeinend. Doch die philosophische Basis der Öko-Bewegung, die Vorstellung, dass wir uns aus der Natur zurückziehen sollten, damit sie sich „heilen“ kann, ist nicht nur unwissenschaftlich. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes selbstmörderisch. Die Menschen sollten nicht als Störfaktor im planetaren Geschehen gesehen werden. Dank ihrer Intelligenz sind sie die einzigen (potentiell) „gaischen“ Wesen auf diesem ansonsten medeischen Planeten.

Ward nutzt in diesem Zusammenhang die Metapher einer Flugzeugentführung. Wir müssten das Cockpit stürmen und das Leben von seinem selbstzerstörerischen Kurs abbringen. 8 Was können wir konkret tun? Letztlich hängt unser Überleben wohl davon ab, einen Weg zu finden, im großen Stil CO2 aus dem Kalkstein „auszukochen“. Doch wir sollten nicht alles auf eine Karte setzten. Auch die bemannte Raumfahrt sollte vorangetrieben werden. 9

Natürlich ist Wissenschaft per Definition unfertig. Gaia kann als widerlegt gelten, doch auch die Ausführungen der „Medeaner“ sind vermutlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Vielleicht wird man in Zukunft zu ganz anderen Schlussfolgerungen über das Schicksal der Erde und ihrer Lebewesen kommen. In jedem Fall liegt das von Ward und seinen Kollegen beschriebene Szenario in sehr weiter Ferne.

Für aktuelle gesellschaftliche Debatten ist der akademische Streit zwischen Anhängern von Gaia und Medea trotzdem relevant. Denn er zeigt eindrücklich, wie irreführend die simplifizierende Gegenüberstellung von „guter“ Natur und „bösem“ Menschen sein kann. Eine solche Sichtweise führt nicht nur zu einem verklärten Blick auf die in Wahrheit ziemlich düstere Erdgeschichte. Sie ist prinzipiell wenig hilfreich. Hysterische Kampagnen gegen die vermeintlich „unnatürliche“ grüne Gentechnik verursachen in der Dritten Welt großes Leid. Im Westen sterben Menschen durch die Quacksalberei von „Naturheilkundlern“. Zunehmend gerät in Vergessenheit, dass „Natürliches“ nicht zwangsläufig gut und Naturbeherrschung eine zivilisatorische Errungenschaft ist. Die Forschungsergebnisse der Medeaner mahnen ein Umdenken an.

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