19.05.2014

Lasst die Briten abstimmen!

Analyse von Brendan O’Neill

Die geplante Volksabstimmung zum Verbleib Großbritanniens in der EU droht an politischen Widerständen zu scheitern. Genau wie die EU-Technokraten verachten Teile der britischen Elite das Volk. Im Referendum liegt die Chance für ein besseres Europa.

Bin ich eingeschlafen und im fünfzehnten Jahrhundert wieder aufgewacht?

Das frage ich mich, weil die nicht gewählten Mitglieder des House of Lords die britische Öffentlichkeit zurzeit daran hindern wollen, über ihre Beziehungen mit den ebenfalls nicht gewählten Technokraten in Brüssel mitzubestimmen. Viele Lords erzürnt der Vorschlag des konservativen Premierministers David Cameron, im Jahr 2017 eine Volksabstimmung über Großbritanniens Mitgliedschaft in der Europäischen Union durchzuführen. Mehrere von ihnen beschuldigten den Regierungschef, die Zukunft der Nation aufs Spiel zu setzen, indem er sie in die Hände der Wahlberechtigten legt. Denn ein Großteil der dümmlichen Massen – manipuliert durch „das tagtägliche Kriegstrommeln der unbeugsamen Europhobiker“ – werde absehbar für den Austritt aus der EU stimmen. Deshalb möchten sie den Beratungsprozess so in die Länge ziehen, dass das Gesetz nicht mehr rechtzeitig vor den Europawahlen im Mai 2014 in Kraft treten kann.

Kurz gesagt, eine oligarchische Sekte – bestehend aus wohlgenährten Adligen, die unerhörterweise weiter Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess im Vereinigten Königreich nehmen dürfen – will das einfache Volk daran hindern, auf eine andere oligarchische Sekte Einfluss zu nehmen – nämlich den abgeschotteten Beamtenapparat in Brüssel, dessen Richtlinien und Erlasse das Leben einer riesigen Anzahl von Europäern bestimmen, ohne dass diese nach ihrer Meinung gefragt würden.

Die Kumpanei von Großbritanniens nicht gewählten Lords und Brüssels nichtgewähltem Beamtentum löste erstaunlich wenig Protest im Vereinigten Königreich aus. Kaum jemanden scheint zu kümmern, dass es in Großbritannien im 15. Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht nur noch immer eine nichtgewählte zweite Kammer gibt, sondern zudem eine, die ganz ungeniert die kleinen Leute von der Mitbestimmung darüber abhalten will, ob sie Teil einer politisch bestimmenden Institution in Brüssel bleiben wollen, die sich immer weniger vor den einfachen Menschen verantworten muss.

„Nach Meinung vieler ‚Pro-Europäer‘ leidet man unter einer Phobie, also einer irrationalen Angst, wenn man gegen Brüssel ist.“

In einer der Oberhausdebatte zum vom Unterhaus – also dem von der Bevölkerung gewählten Parlament – vorgelegten Gesetzesentwurf über die Volksabstimmung strotzten viele der Anti-Referendums-Kommentare geradezu vor Verachtung gegenüber dem Volk. Lord (Neil) Kinnock, ehemaliger Führer der Labour Party und früherer Vizepräsident der EU-Kommission, hält das Referendum für eine „lahme“ Idee, mit der man riskiere , Großbritannien zu einer Geisel der „unnachgiebigen Europhobiker“ zu machen. Sprich: Die Öffentlichkeit, mit all ihren schlichten und leicht formbaren Gemütern, könnte durch das hysterische Geflüster der „Europhobiker“ etwas tun, das Lord Kinnock missbilligt – nämlich, die EU verlassen. Sogar sein Gebrauch des Begriffes „Europhobie“ offenbart Verachtung für politische Meinungen, die sich von seinen unterscheiden: Nach seiner und der Meinung vieler anderer ‚Pro-Europäer‘ leidet man unter einer Phobie, also einer irrationalen Angst, wenn man sich gegen Brüssel wendet.

Ein anderer Lord führte an, dass Plebiszite der britischen Kultur „fremd“ seien und beharrte darauf, dass „das Parlament die Entscheidungen trifft, nicht das Volk“. Lord Mandelson, ebenfalls ein ehemaliger EU-Kommissar, sagte: „Wir sollten uns hüten, aus unserer Mitgliedschaft ein Glücksspiel zu machen, von dem wir nicht wissen, welche Faktoren, die noch nicht mal was mit Europa zu tun haben, den Ausgang beeinflussen“. Wie vielsagend, dass ausgerechnet die unnahbaren Lords darüber beunruhigt sind, der demokratische Prozess könne zu einem „Glücksspiel“ verkommen – also zu einem unvorhersehbaren Prozess, über den sie keine Kontrolle haben und dessen „Ausgang“ sie nicht bestimmen können. Sie scheinen nicht zu verstehen, dass genau darin der Sinn der Demokratie liegt: Das Volk, nicht Experten, Eliten oder Aristokraten entscheiden darüber, was Ziel und Ergebnis von Politik sein soll.

Was diese Pro-EU-Lords eigentlich wollen, ist die Abschirmung der EU-Institutionen vor einer wirksamen Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Nahezu jeder EU-Befürworter will der Diskussion über das Referendum ein Ende bereiten. Denn: Der Beschluss über Großbritanniens Beziehungen zu Brüssel gehöre nicht in die Hände von Leuten, die ganz offensichtlich zu wenig aufgeklärt und zu anfällig für „Phobien“ sind, als dass man ihnen so schwerwiegende Entscheidungen anvertrauen könnte.

„Die Argumente gegen ein Referendum sind erstaunlich anti-demokratisch.“

Ein französischer Kommentator lamentiert in der BBC über eine wachsende EU-Hysterie und eine zunehmend fanatischere Europhobie. Spiegel Online schreibt, Cameron sei „der wachsenden Europhobie erlegen“. Er habe sich feige jener „Hälfte der Briten gebeugt, die für ein Ausscheiden aus der EU stimmen würden“. Praktisch wird hier behauptet, dass die britische Öffentlichkeit irrational sei – „phobisch“ – und somit wäre es eine große Torheit, sich auf ihr Niveau hinab zu begeben und ihr ein besonders Mitspracherecht über die Zukunft der EU zu gewähren. Ein Autor des Berliner Magazins The European beklagt sich über die „Vorurteile“ der britischen Öffentlichkeit gegenüber der EU, die offensichtlich durch „die Schreckgeschichten der Boulevardzeitungen“ angefeuert würden und warnt davor, dass ein Referendum den britischen „Rückzug aus dem europäischen Projekt“ zur Folge haben könnte. Kurz gesagt dürfen wir keinen Volksentscheid abhalten, weil die britische Öffentlichkeit aus Sicht der Lords, der EU-Bürokraten und von Brüssel nahestehenden Denkern die „falsche“ Antwort geben könnte. Ein Kolumnist des Guardian äußerte sich sehr klar darüber, wieso es keine Volksabstimmung geben darf: weil „ich mir einfach nichtvorstellen kann, wie die Pro-EU-Seite ein Referendum gewinnen könnte“.

Diese Argumente gegen einen Volksentscheid sind erstaunlich anti-demokratisch. Sie laufen darauf hinaus, das Referendum deshalb abzulehnen, weil die Massen eine aus Sicht von „uns “– einer kleinen Gruppe nicht gewählter, aber kluger Leute – schlechte Entscheidung treffen könnten. Triumphieren würden die Massen, „wir“ jedoch würden verlieren. Der Mob Boulevardzeitung lesender, Schauermärchen glaubender und gedankenloser Phobiker würde sich durchsetzen, während wir besser gebildeten Menschen, natürlich immun gegen den Populismus, etwas für uns sehr Wichtiges verlieren würden: Den Einbezug ins „europäische Projekt“. Es wird also ganz offen die Einschränkung der Demokratie gefordert, um den Sieg des allgemeinen Willens über die Ideen und Interessen der Elite zu verhindern.

So geht es bei Volksabstimmungen über EU-Angelegenheiten immer zu. Als 2005 französische und niederländische Stimmbürger in Referenden zur Ratifikation einer in Brüssel verfassten EU-Verfassung mit Nein votierten, wurden sie von denen, die es besser wissen, als dumm, undankbar und falsch liegend abgekanzelt. Das „Nein“ war ein „Triumph der Ignoranz“, sagte Lord Kinnock. Andrew Duff, EU-Parlamentarier der Liberaldemokraten, charakterisierte die Gegner der vorgeschlagenen Verfassung als „sonderbaren Haufen von Rassisten, Fremdenfeinden, Nationalisten, Kommunisten, enttäuschten Mitte-Links-Wählern und Querulanten“. Also als böse Menschen. Duff drückte die Empfindung vieler EU-Befürworter aus, als er die Frage in den Raum stellte, ob es klug war „die EU-Verfassung einer Lotterie von unkoordinierten, nationalen Volksabstimmungen auszusetzen“. Als die irischen Wähler 2008 den Vertrag von Lissabon, eine leicht aufpolierte Version der zuvor bereits von den Menschen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnten Verfassung, ablehnten, behaupteten Pro-EU Kommentatoren, die Menschen seien von „populistischen Demagogen“ sowie „Lügen und Fehlinformationen“ beeinflusst worden.

„Wie Monarchen vergangener Zeiten lebt die Pro-EU-Lobby in ständiger Angst vor der öffentlichen Meinung und wertet sie als irrational, schlecht begründet, rassistisch oder dämlich ab.“

Wieder und wieder wurde der europäische Demos von der Pro-EU Lobby als unzuverlässig gebrandmarkt. Wir, das Volk, seien so sehr von unseren Vorurteilen eingenommen und nicht geistreich genug, Entscheidungen über so etwas Ernstes wie die Zukunft der EU treffen zu können (einem Kommentator zufolge hätte die irischen „Nein“-Wähler die „technokratische, nahezu unverständliche Sprache“ des Vertrags von Lissabon verwirrt). Instinktiv will man immer wieder neue Barrieren zwischen dem Volk und den Brüsseler Bürokraten errichten, um letztere davor zu bewahren, von ersteren beherrscht zu werden. Wie Monarchen vergangener Zeiten lebt die Pro-EU-Lobby in ständiger Angst vor der öffentlichen Meinung und wertet sie als irrational, schlecht begründet, rassistisch oder dämlich ab – als Getöse, auf das die Beamten in Brüssel bloß nicht hören sollten.

Diese Vorurteile gegen Referenden verweisen auf das Hauptproblem der EU: Sie ist im Kern ein Projekt der nationalen Eliten, die politische Klasse von den derben Sichtweisen ihrer Wählerschaften abzuschirmen. Zu häufig stellen rechtslastige Kommentatoren in Großbritannien die EU als Ergebnis einer deutsch-französischen Verschwörung dar, allen Europäern den Krümmungsgrad ihrer Bananen vorzuschreiben. In Wirklichkeit ist die EU in ihrer heutigen Form Ausdruck einer Legitimitätskrise der nationalen Regierungen aller europäischen Länder. Von Großbritannien über Italien bis Polen empfinden die politischen Klassen eine wachsende Entfremdung vom Volk. In den weit entfernten Institutionen Brüssels suchen sie Zuflucht vor ihren nationalen Öffentlichkeiten und ihrer Autoritätskrise.

Die Europäische Union ist kein Zusammenschluss der Völker Europas, sondern der Eilten, die ihren eigenen Menschen zu entkommen versuchen. Deshalb lässt die Debatte über einen größeren Einfluss der nationalen Öffentlichkeiten auf die Brüsseler Entscheidungen die Befürworter des „europäischen Projekts“ so ausflippen. Denn das EU-Projekt ist das Ergebnis ihrer Entfremdung von ebendiesen nationalen Öffentlichkeiten und ihrer Unlust, sich mit uns zu befassen oder mit uns reden zu müssen.

Das bedeutet, dass der Kosmopolitismus des „europäischen Projekts“ eine reine Konstruktion ist. Die EU ist nicht auf gemeinsamen Interessen und dem Streben nach Kooperation aller europäischen Völker gegründet, sondern auf dem gemeinsamen Streben der europäischen Eliten, die hauptsächlich danach trachten, dem unberechenbaren „Glücksspiel“ der Demokratie zu Hause so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Ich glaube nicht, dass Camerons Referendum alle Probleme demokratischer Verantwortlichkeit im modernen Europa lösen wird, aber dennoch möchte ich, dass das Referendum stattfindet. Und ich möchte auch, dass die Leute mit „Nein“ stimmen. Denn nur mit einer klaren Absage an den verlogenen Kosmopolitismus des elitären EU-Projekts können wir beginnen, für einen wirklich vereinten, wirklich offenen Kontinent Europa zu streiten, auf dem Demokratie und grenzüberschreitende Solidarität wahrhaftig gedeihen können.

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