24.11.2022

Die offene Gesellschaft und der Klebe-Aktivismus

Von Christian Zeller

Titelbild

Foto: Nabeel Syed via Unsplash

Der Tod einer Fahrradfahrerin in Berlin stellt die Klimakleber vor die Entscheidung, wie weit sie sich radikalisieren wollen. Ein harter Kern und Gemäßigte könnten auseinanderdriften.

Die 44-jährige Fahrradfahrerin Sandra Umann lag am Morgen des 31. Oktober nach einer Kollision schwer verletzt unter einem Betonmischer, ihr Bein unter einem Reifen eingeklemmt. Die herbeigerufene Notärztin entschied, das tonnenschwere Fahrzeug über das Bein der Frau rollen zu lassen, um sie aus ihrer Zwangslage zu befreien. Eine Minute später wäre ein Spezialfahrzeug der Feuerwehr eingetroffen, das den Lastwagen hätte anheben können – wenn Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ auf der A 100 in Berlin nicht den Verkehr blockiert hätten. So jedoch verzögerte sich die Ankunft der Feuerwehr um acht Minuten. Die Notärztin gab nach dem Unfall an, dass sie auch bei rechtzeitigem Eintreffen des Feuerwehrfahrzeugs ihren Weg der Rettung gewählt hätte. Der Abschlussbericht der Berliner Feuerwehr hingegen betont: „Durch das rechtzeitige Eintreffen hätten die Einsatzkräfte und die Notärztin vor Ort weitere Handlungsoptionen gehabt.“ Dies wäre, so der Bericht weiter, „patientenschonender“ gewesen. Am 3. November wurde Umann für hirntot erklärt, am Abend desselben Tages verstarb sie.

Soweit der derzeit vorliegende Sachstand zu einem Verkehrsunfall, der die Republik bewegt. Was sich vor einigen Wochen in Berlin-Wilmersdorf abgespielt hat, ist mittlerweile Gegenstand staatsanwaltlicher Ermittlungen, die sich zu der Frage zusammenziehen: Haben sich die beteiligten Klimaaktivisten, rechtlich gesehen, an der verzögerten Rettung der Frau mitschuldig gemacht? In einem Rechtsstaat gilt für jeden Bürger die Unschuldsvermutung – auch für die beteiligten Aktivisten. Seine politische Unschuld hat der Klebe-Aktivismus allerdings definitiv verloren: Der Berliner Senat gab am 9. November bekannt, dass es bereits zu 18 registrierten Fällen der Behinderung von Rettungsfahrzeugen durch den Klebe-Aktivismus kam – in 2 Fällen drehte sich der Einsatz um die Wiederbelebung des Patienten.

Unabhängig vom Ausgang der strafrechtlichen Ermittlungen liegt nun offen zutage, was für jeden unvoreingenommen Beobachter bereits klar erkennbar war: Die Klebeproteste gefährden Menschen. Wer sich im Verkehr auf der Straße fixiert, um zivilen Widerstand zu demonstrieren, der erhöht nach dem Motto „Hier klebe ich, ich kann nicht anders“ nicht nur sein Commitment, indem er seinen Leib als Pfand im Gerangel mit wütenden Autofahrern und ihren Fahrzeugen einsetzt; er nimmt auch billigend in Kauf, dass Einsätze von Rettungskräften und Polizei – Institutionen, die im Namen aller das Gemeinwohl in Krisensituationen sicherstellen – verzögert werden. Und zwar auch dann, wenn die Protestierer betonen, in ihre Aktionen stets eine Rettungsgasse einzuplanen – denn so komplexe soziale Situationen wie der Verkehr sind nur sehr unzureichend durch eine Gruppe Aktivisten überschau-, geschweige denn beherrschbar.

Reaktionen

Einen tiefen Blick in die soziale Verfasstheit des Klebe-Protests gewährt die Bandbreite der Reaktionen der Klimaaktivisten auf den tödlichen Unfall der Modedesignerin, die nach der Aussage ihrer Zwillingsschwester selbst Anhängerin eines konsequenten Klimaschutzes war. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Unfalls teilten die Aktivisten ihre Bestürzung mit und räumten ein, dass die verzögerte Rettung der Fahrradfahrerin auf den protestbedingten Stau zurückzuführen sein könnte. Wenige Tage später allerdings, die öffentliche Empörung war zu ihrem Höhepunkt gelangt, hatte sich der Ton gedreht. Während die Klebe-Aktivisten weiterhin Bedauern über die verunfallte Fahrradfahrerin zum Ausdruck brachten, reagierten sie mit einer pauschalen Schelte gegenüber eben jenem „System“, das bislang überwiegend mit großer Geduld, teilweise sogar mit Verständnis für die gefährlichen Aktionen reagierte hatte: „Dass ein ganzes Mediensystem sich gegen uns wenden würde, damit haben wir nicht gerechnet“, bekundete die „Letzte Generation“.

„Die Bezugnahme auf eine übergreifende Gerechtigkeitsvorstellung, die den Protest legitimieren soll, wird dann schal, wenn Menschen zu Schaden kommen oder auch nur zu Schaden kommen können.“

Ob es möglicherweise gute Gründe gibt, seinen Protest nicht auf Fahrbahnen zum Ausdruck zu bringen, auf denen sich gleichzeitig hunderte, teilweise tonnenschwere Gefährte mit hohen Geschwindigkeiten bewegen, mit Personen am Steuer, die möglichst zügig von A nach B gelangen wollen? Diesen naheliegenden Gedanken erwägen die Klebe-Aktivisten nicht einmal und beklagen stattdessen „öffentliche Hetze“ und einen angeblichen „Aufhänger“, der dazu dienen soll, ihren „friedlichen Protest durch den Dreck zu ziehen.“ Auch die Klebe-Aktivistin Carla Rochel verwies bei ihrem Auftritt bei „Markus Lanz“ am 9. September auf eine „Instrumentalisierung“ des Unfalls, die darauf abziele, den Klima-Aktivismus zu diskreditieren.

Den Umstand, dass die Klebe-Bewegung mit der Instrumentalisierungs-These ihr Narrativ zum Berliner Unfall gefunden hat, muss man nicht nur als eine politische, sondern auch als eine psychologische Abwehrstrategie verstehen: Wenn sich nämlich „das System“ gegen die Verfechter der Klimagerechtigkeit verschworen hat, können sie sich selbst jeder Schuld entledigen, die sie mutmaßlich moralisch oder gar rechtlich durch die verzögerte Rettung der Radfahrerin auf sich geladen haben. Sich von Schuld freisprechen muss man sich allerdings nur dann, wenn dem Protest die Erwartung an seine Gewaltlosigkeit eingeschrieben ist.

Genau dies, die Gewaltlosigkeit ihres Protests, betonen die Aktivisten deshalb bei jeder Gelegenheit. Die Bezugnahme auf eine übergreifende Gerechtigkeitsvorstellung, die den Protest legitimieren soll – hier: die Sicherung von Spielräumen für künftige Generationen angesichts der Klimakrise –, wird allerdings dann schal, wenn Menschen zu Schaden kommen oder auch nur zu Schaden kommen können. Dem Philosophen John Rawls zufolge ist der Verzicht auf Gewalt, insbesondere gegen Personen, charakteristisch für zivilen Ungehorsam: „Gewalthandlungen, die Menschen verletzen können, sind unverträglich mit dem zivilen Ungehorsam als einer Art Appell. Jede Beeinträchtigung der bürgerlichen Freiheiten anderer würde vielmehr die Aktion nicht mehr als zivilen Ungehorsam erscheinen lassen.“1

Dieser Punkt ist mit der verzögerten Rettung von Umann zweifellos erreicht. Und eine „Beeinträchtigung der bürgerlichen Freiheiten anderer“ war bereits davor allzu offensichtlich gegeben: Menschen, die mit Verspätungen in die Arbeit, zum Arzt, zu Freunden kommen, Waren, die nicht pünktlich geliefert werden, hunderte Menschen, die zeitgleich in Zeitstress geraten, mit allen unerkannten Folgen, die das mit sich bringen kann. Die Klimaaktivisten argumentieren, dass auch Falschparker Staus verursachen. Sind sie im Umkehrschluss bereit, jedem Falschparker ein edles Motiv für sein unsoziales Verhalten zu unterstellen und ihn von jeder polizeilichen Verfolgung freizusprechen?

Abdriften in den Extremismus?

Genau deshalb ist der Klebe-Aktivismus als ziviler Ungehorsam letztlich zum Scheitern verurteilt: Nicht, weil der Grund des Protests für die Gesellschaft nicht relevant wäre, sondern weil er sich zwar auf die Protestform des zivilen Ungehorsams bezieht, aber gleichzeitig dessen legitimatorische Basis, die in einem intakten Rechtstaat mit eingespielten demokratischen Kreisläufen ohnehin tönern ist, unterspült. Die Reaktionen der Klebeaktivisten auf den Unfall schwanken zwischen zwei Polen: dem verzweifelten Festhalten an der Figur zivilen Ungehorsams einerseits – denn auf der (vermeintlichen) Gewaltlosigkeit ihres Protests basiert dessen Rechtfertigung –, und einem sich sehr deutlichen abzeichnenden Weg in die gewaltförmige Radikalität andererseits. Auf drei Indikatoren, die für einen – freilich nie unumkehrbaren – Weg in den Extremismus sprechen, sei hingewiesen:

  1. In den letzten Monaten hat sich der Proteststil der Klebe-Aktivisten noch einmal bedeutend ausgedehnt und verschärft. Zunehmend richten sich die Aktionen der Gruppe auch auf das Festkleben an bekannten Gemälden wie Raffaels „Sixtinischer Madonna“ in Dresden oder an den Stützen eines Dinosaurierskeletts im Berliner Naturkundemuseum. Im Städel in Frankfurt bildete Nicolas Poussins „Gewitterlandschaft mit Pyramus und Thisbe" das Objekt der Klebe-Begierde. Eine weitere Eskalationsstufe erklomm man im Museum Barberini in Potsdam: Monets „Heuschober“ wurde mit Kartoffelbrei übergossen und danach klebte man sich blitzschnell am Fußsockel fest. Während die Blockade eines Verkehrsweges ihr Sanktionspotential aus dem Umstand bezieht, dass Menschen als physische Wesen bisweilen den Ort wechseln müssen, indiziert das Kleben am berühmten Kunstwerk (oder dessen drohende Beschädigung durch Flüssigkeiten), dass die Klimaaktivisten ihre prätendierte Macht auf eine Sphäre ausdehnen, in der sich hoher ökonomischer Wert und geistig-immaterielle Relevanz begegnen. Angesteuert werden dabei zum großen Teil berühmte Gemälde, die durch ihre ästhetische Innovativität gleichsam einen Teil des Menschheitserbes bilden. Die Botschaft der Kunstwerk-Kleber lautet somit: „Wir sind in der Lage, etwas zu zerstören, was der Menschheit als solcher lieb und teuer ist.“ Das Kleben am Bild ist eine ultimative Machtdemonstration, weil ein einmal beschädigtes Kunstwerk als Original für immer vernichtet ist. Der Kunst-Klebe-Aktivismus zieht seine Macht daraus, dass er droht das zu vernichten, was hinsichtlich der Aura eines Kunstwerks „im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (W. Benjamin) noch übriggeblieben ist.
  2. Der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt wurde scharf dafür geißelt, nach dem Unfalltod in Berlin vor einer „Klima-RAF“ gewarnt zu haben. Warum aber soll das „unanständig“ sein, wie der Stern schrieb? Der Präsident des Verfassungsschutzes Thomas Haldenwang meinte aus seiner „fachlichen Perspektive“ gar, das sei „Nonsens“. Man fragt sich auf welche Grundlage sich diese Urteile stützen, denn schließlich kam diese Warnung vor bereits einem Jahr aus eben jenem Aktivistenmilieu selbst. In einem Gespräch mit dem Spiegel im November 2021 sprach Tadzio Müller von einer möglichen „grünen RAF.“ Müller ist kein neutraler Beobachter der Szene, sondern selbst Akteur. Der 46 Jahre alte Aktivist ist Mitbegründer der Anti-Kohle-Bewegung „Ende Gelände“, der der Verfassungsschutz eine Beeinflussung durch die „Interventionistische Linke“ zuschreibt. Die Sabotage von Gaskraftwerken und die Zerstörung von Autos werden in dem Interview als „mittlere Notwehr“ bezeichnet. Und: „Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF.“

     

    Derartige Äußerungen, die Müller fast gleichlautend nach dem Unfall der Berliner Fahrradfahrerin wiederholte, entspringen einem Denkschema, das aus Kreisen, die vom Soziologismus der 1970er Jahre geprägt sind, gut bekannt ist: Nicht der Aggressor ist aggressiv, sondern er wird stets von sozialen Strukturen in die Aggression hineingezwungen. Dieses Denkmuster läuft in offenen Gesellschaften, in denen die Einflussmöglichkeiten nie auf eine einzige vernünftige Option zusammendampfen, auf eine Paradoxie hinaus: So verstehen sich die Protestierer zwar als höchst aktive, von eigenem moralischen Antrieb getragene Personen, aber gleichzeitig weisen sie eine Verantwortung für die schädlichen Nebenfolgen, die ihre Aktionen haben können, weit von sich: ‚Wenn mir die Gesellschaft keine Wahl lässt, dann passieren auf dem einzigen Weg, der mir noch zur Verfügung steht, eben Dinge, für die ich nicht verantwortlich bin.‘ Neben dem Deutungsschema, die Presse als „System“ instrumentalisiere den Unfalltod der Fahrradfahrerin, um den Klima-Aktivismus in ein schlechtes Licht zu rücken, ist der Soziologismus ein weiteres Moment, um sich von allem schlechten Gewissen reingewaschen fühlen zu können, ohne die mögliche Siegesfreude einzubüßen: Wenn das politische Unterfangen erfolgreich ist, kann man es sich vollständig selbst auf die Fahnen schreiben – alles, was schiefgeht, hat man hingegen nicht zu verantworten, denn schließlich handelte man ja unter „Systemzwang“.

  3. Am Tag des Unfalls der später verstorbenen Fahrradfahrerin kommentierte ebenjener  Klima-Aktivist Müller die Berichterstattung über die Verzögerung des Rettungsfahrzeugs über Twitter wie folgt: „Scheiße, aber: nicht einschüchtern lassen. Es ist Klimakampf, nicht Klimakuscheln, & Shit happens.“ Das Deutungsmuster der „Instrumentalisierung“, das sich in den Tagen nach dem Unfall in der „Letzten Generation“ durchsetzen sollte, war hier mit der Warnung vor einer „Einschüchterung“ der Klimabewegung schon vorgezeichnet. Auf die in sozialen Netzwerken und den Medien einsetzende Empörung folgte die prompte Entschuldigung: „[…] entschuldige aufrichtig für diese Formulierung, & hoffe, dass sie durchkommt.“ Zurecht bezeichnete Müller seinen Ausdruck „Shit happens“ später noch einmal als „dumm und pietätlos", atmet er doch genau jenen Geist der Inkaufnahme negativer Begleiterscheinungen, die um der ‚guten Sache‘ willen eben hinzunehmen sind.

     

    Diese Einstellung ist durchaus typisch für Bewegungen, die mit der Offenheit liberal-demokratischer Gesellschaften hadern: Für das große Ganze, das der Aktivist und die seinen souverän im Blick hat, bleiben halt manche links liegen. Die Suggestion, der Klebe-Aktivismus sei der unzweideutige Ausdruck zivilen Ungehorsams – dessen prekäre Legitimität auf Gewaltlosigkeit als seiner Mindestvoraussetzung ruht – wird damit unglaubwürdig.

„Eine mögliche ‚grüne RAF‘, die das 9-Euro-Ticket fordert, und das auch noch, nachdem das 49-Euro-Ticket bereits beschlossen ist?“

Diesen Indikatoren, die auf eine zunehmende Radikalisierung des Klebe-Aktivismus hinweisen, steht ein Umstand gegenüber, der in eine andere Richtung weist und das Gesamtbild ausdifferenziert: Erzwingen wollen die Aktivsten mit ihren gefährlichen Aktionen nämlich erstaunlicherweise die Wiedereinführung des Neun-Euro-Tickets und ein Tempolimit auf Autobahnen. Eine mögliche „grüne RAF“, die das Neun-Euro-Ticket fordert, und das auch noch, nachdem das 49-Euro-Ticket bereits beschlossen ist? Ein 111 Millionen Euro teures Gemälde mit Kartoffelsuppe übergießen für ein Tempolimit, dessen klimapolitischer Nutzen ohnehin marginal ist? Die schwindelerregende Kluft zwischen proklamierter Endzeitstimmung und politischen Forderungen, die nahtlos in der Allerweltsroutine einer liberal-demokratischen Gesellschaft aufgehen, weist wohl auf eine entscheidende Konstellation hin: Trotz der Einheitlichkeit, mit der der Klebe-Aktivismus nach außen hin auftritt, zerfällt er in mindestens zwei unterschiedliche soziale Kreise.

Harter Kern und Gemäßigte

Langjährig erfahrene Aktivisten mit einem ausgereiften weltanschaulichen Überbau, medialer Erfahrung und der Neigung zur Kompromisslosigkeit sind in der Szene genauso anzutreffen wie besorgte junge Menschen, die gerade ihre erste WG bezogen haben und nun ihr Studium unterbrechen, um sich im Klimaschutz zu engagieren und die IT für die Aktivisten-Vernetzung aufzusetzen. Jener Kreis scheint mit den wenig ausgreifenden Forderungen die geringstmögliche Ausstiegsschwelle aus dem Aktivismus anzuvisieren; gleichzeitig wirkt ihr mit höchster moralischer Verve artikuliertes Anliegen passgenau auf die eigenen Lebensumstände abgestimmt: Wenn es erst einmal wieder das Neun-Euro-Ticket gibt, kann man das Studium wieder aufnehmen und günstig mit der Bahn fahren; und Fahrrad und E-Roller nutzt man in universitär geprägten Städten ohnehin gern, so dass die Reisegeschwindigkeit auf Autobahnen nicht besonders relevant ist.

Für die nächsten Monate dürfte folgendes in Aussicht stehen: Die öffentliche Wahrnehmung wird nach dem Unfall in Berlin-Wilmersdorf nicht mehr in eine Richtung zurückkippen, die diese Form des Protests weiterhin als „gut“ erscheinen lässt – auch wenn sich jüngst sogar, wie in München geschehen, jesuitische Geistlichkeit den Klebe-Protesten anschließt. Etliche lautstarke, sogar von Politikern der Grünen stammende Verurteilungen weisen in die Richtung einer zunehmenden Delegitimierung der Klebe-Bewegung. Nachdem bereits Forderungen laut werden, zu prüfen, ob die Klebeaktivisten eine kriminelle Vereinigung darstellen, wird wohl auch die Verharmlosung der Taten durch Staatsanwaltschaften und Polizei ein Ende haben.

„Stur darf man auf dem Primat demokratisch legitimierter Politik auch in klimapolitischen Fragen bestehen.“

Bislang schwanken die Reaktionen des Staates allerdings enorm: Einzelne Richter scheinen gleichsam den zivilen Ungehorsam für sich entdeckt zu haben und vertreten die Auffassung, dass es sich bei den Protesten nicht um Straftaten handelt. Demgegenüber bildet in Bayern das rechtstaatlich fragwürdige Polizeiaufgabengesetz die Grundlage für die vorbeugende Inhaftierung von Klima-Aktivisten.

Die entscheidende Frage wird sein, wie die Klebe-Bewegung auf die Delegitimierung reagiert. Von Sekten ist bekannt, dass öffentliche Ablehnung die Binnensolidarität in der Gruppe eher verstärkt und die geistigen Gehalte, die dieser Solidarität zugrunde liegen, dichter und extremer werden lässt. Denkbar ist, dass ein steigender Sanktionsdruck die Spaltung der Klebe-Aktivisten vorantreibt, und zwar in eine moderate, eher studentisch gelagerte Richtung, deren Anhänger fortan versuchen werden, ihre Anliegen nur noch mit „Fridays for Future“ auf friedlicherem Wege fortzusetzen, und in einen ‚harten Kern‘, bei dem mit dem zunehmenden Glauben an die Unverzichtbarkeit des eigenen Handelns auch die Gewaltbereitschaft ansteigen wird.

Als Bürger brauchen uns die Divergenzen in diesem Milieu im Grunde nicht zu interessieren; stur darf man auf dem Primat demokratisch legitimierter Politik auch in klimapolitischen Fragen bestehen. Selbst wenn man zu dem Schluss kommt, dass kreative Protestformen auch legitim sein können, indem sie Anstöße zum Handeln für bereits erkannte Sachverhalte geben – klug sind diese lebensgefährlichen Klebe-Proteste nicht, denn man produziert mit ihnen in einer offenen Gesellschaft, in der die Interessen eines jeden gleichermaßen zählen sollten, mehr Widerstand als offene Türen. Soll sich zur Klimakrise nicht noch eine veritable politische Krise hinzugesellen, so vertrauen wir im Zweifelfall lieber auf den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (J. Habermas) anstatt sich radikalisierenden Klimaaktivisten das Zepter in die Hand zu drücken.

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