29.09.2022
Das Kleben auf der Straße
Von Christian Zeller
Klimaaktivisten der ‚letzten Generation‘ und von Extinction Rebellion kleben sich mittlerweile bei ihren Verkehrsblockaden auf der Straße fest. Sie radikalisieren sich.
In Paris, Berlin, Köln, Kassel, München, auf Ausfallstraßen, Autobahnen und Flughäfen – Klimaaktivisten blockieren seit Beginn dieses Jahres zunehmend Verkehrswege. Kettete man sich bei den AKW-Protesten an Eisenbahnschienen um Castor-Transporte aufzuhalten, verleiht man im Klima-Aktivismus seiner Blockadehaltung Nachdruck, indem man sich mit Sekundenkleber am Asphalt fixiert. In Protestbewegungen passiert dabei dasselbe wie in allen anderen sozialen Gruppen auch: Die Beteiligten lernen voneinander. Das Sich-Festkleben“ häuft sich seit Beginn dieses Jahres so, dass sich behaupten lässt: Es handelt sich mittlerweile um einen bestimmten, kollektiv geteilten Stil des Protests, von dem es sich lohnt, ihn in seiner sozialen Bedeutung zu entschlüsseln.
Betrachten wir zunächst allgemein die Blockade eines Verkehrsweges. Wenn das Herz moderner Gesellschaften in ihrem Bedarf nach Mobilität besteht, dann setzt die Blockade von Verkehrswegen auf der politischen Nutzbarmachung dieses Bedarfs auf: Waren müssen von A nach B, Menschen in die Arbeit, zur Schule, zum Studium, zu Freunden und Bekannten, zu Vereinen und Verbänden. „Wir unterbrechen“, lautet die Botschaft der Protestler, „für eine Weile die permanente Ortsveränderung, die uns alle am Leben hält.“ Dass man an einem einzigen Ort alle seine wesentlichen physischen und psychischen Bedürfnisse befriedigen kann, war bis weit ins 19. Jahrhundert für den überwiegenden Teil der Bevölkerung die unhinterfragte Normalität. Nach der zunehmenden Vernetzung der Nationen durch den Handel und das Reisen, durch die Eisenbahn und das Automobil ist dies in fortgeschrittenen Industriegesellschaften so gut wie nicht mehr möglich. Verkehrswege sind deshalb die Lebensadern moderner Gesellschaften.
Aus diesem systemischen Grund ist die Blockade von Verkehrswegen so günstig, um politisch-moralischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Der Aktivist verkündet mit seinem Verhalten eine politische Botschaft, die von den existierenden Gesetzen aus seiner Sicht bislang nicht angemessen absorbiert wurde. Die Blockade der Straße steht stellvertretend für das, was mit dem angeprangerten Verhalten selbst geschehen sollte: Die Gesellschaft soll sich eine Schranke setzen: weniger Autos, weniger CO2-Emmissionen, weniger Lebensmittelverschwendung. Der Aktivist nimmt dabei die Gesetzwidrigkeit seines Tuns in Kauf, um ein neues Gesetz oder eine Handlung der Regierung zu erwirken. Es ist die klassische Figur des zivilen Ungehorsams, die hier aufscheint. Mit einem Akt des zivilen Ungehorsams appelliert eine Teil-Gruppe der Gesellschaft an übergreifend geteilte Gerechtigkeitsvorstellungen, um – so der Philosoph John Rawls – mit einer „öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, aber politischen gesetzwidrigen Handlung" 1 eine Änderung von Gesetzen herbeizuführen. Die Co-Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Ricarda Lang hat im Februar 2022 auf diesen Charakter der Blockaden hingewiesen und ihn – begleitet von vielfältiger Kritik – angesichts des verfolgten Zwecks, nämlich dem verzweifelten Versuch, die Klimakatastrophe abzuwenden, zu rechtfertigen versucht.
„Der Aktivist produziert mit der Fixierung seines Körpers auf der Fahrbahn ganz dezidiert eine Konstellation des Vertrauens zwischen ihm und den Blockierten.“
Das Sanktionspotential von Verkehrsblockaden macht sich in der Praxis auch daran bemerkbar, dass sie schnell zu wütenden Reaktionen der Blockierten führen. Denn die Blockierten unterliegen in ihrem Mobilitätsbedarf einem unmittelbaren Handlungsdruck, auf dem der Aktivist gerade die politische-mediale Wirkung seines Protests aufbaut. Dokumentiert ist das rabiate Wegschleifen und Beschimpfen der Blockierer durch Autofahrer.
Und hier sind wir nun beim sozio-kulturellen Kern von Blockade-Aktionen. Denn der Blockierer kann ja seinen grundsätzlich verletzlichen Körper zur Blockade einer Autobahn oder einer Ausfallstraße nur dann einsetzen, wenn er darauf baut, dass der blockierte Autofahrer nicht einfach sein Fahrzeug als Mittel benutzt, um die Blockade aufzulösen. Rein physisch betrachtet ist selbst der kleinste PKW den Kräften noch des stärksten Blockierers weit überlegen. Mit der Blockade einer Straße wird also eine Situation geschaffen, in der sich die politischen Prämissen liberaler, auf individuellen Menschenrechten aufbauenden Gesellschaften wie in einem Brennglas verdichtet zeigen. Ex negativo wird dies auch daran deutlich, dass es ein hohes Skandalisierungspotential aufweist, wenn ein Autofahrer mit Hilfe seines Fahrzeugs einen Blockierer von der Straße schiebt. Der Aktivist begeht durch die Blockade zwar eine gesetzwidrige Handlung, aber er baut zugleich darauf, dass das moralische und rechtliche Netz, das die Gesellschaft trägt, in der Regel so dicht geknüpft ist, dass er den Appell an die gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung – die Klimakatastrophe schadet uns allen und muss deshalb abgewendet werden –, mit Hilfe eben jener gesetzwidrigen Handlung auch tatsächlich verwirklichen kann. Dieser moralischen Bindung, die die Blockadehandlung erst ermöglicht, unterliegt allerdings auch der Aktivist selbst, wenn er sich nämlich in der Regel implizit dazu verpflichtet, offenkundige Notfälle – also Krankenwagen und Feuerwehr – von seiner Blockade auszunehmen.
Zugespitzt lässt sich sagen: Der Blockade-Aktivist baut auf eben jener Moral auf, die er der Gesellschaft in anderer Hinsicht abspricht, und er selbst nimmt sich nicht ganz aus dem moralischen Netzwerk aus, indem er Zugeständnisse an die Dringlichkeit bei ihrerseits moralisch relevanten Ausnahmefällen macht.
Wie verändert nun das gegenwärtig reüssierende Sich-Festkleben als Protest-Technik diese Konstellation? Eines ist offenkundig: Die Blockierten können den Aktivisten nun nicht mehr ohne weiteres wegschleifen, zumindest nicht, ohne ihn zu verletzen. Der Aktivist produziert mit der Fixierung seines Körpers auf der Fahrbahn ganz dezidiert eine Konstellation des Vertrauens zwischen ihm und den Blockierten. Die Gesellschaft wird damit gleich in doppelter Hinsicht auf die Probe gestellt: „Wird die Politik meine Forderungen, die in der Blockade zum Ausdruck gebracht wird, aufgreifen? Und werde ich auf eine Weise von der Fahrbahn entfernt, dass die Gesellschaft dem eigenen Anspruch an den Umgang mit meiner Verletzbarkeit gerecht wird?“
„Die Klebe-Blockaden sind der Ausdruck eines Endzeitbewusstseins; und die Aktivisten begreifen sich als Auserwählte eines letzten Kampfes.“
In Deutschland drangen bislang nur Bilder an die Öffentlichkeit, die dem auf die Vermeidung von Verletzungen basierenden Kalkül der Blockierer entsprechen: Polizisten, die mit Olivenöl anrücken oder in sichtlichem Bemühen, jede Verletzung zu vermeiden, den Meißel zwischen Kleber und Handfläche treiben. Die Kompromisslosigkeit der festgeklebten Aktivisten bedingt es allerdings, dass auch ihre eigene moralische Flexibilität schwindet. Selbst Krankenwagen und Feuerwehr können nicht mehr ohne weiteres passieren.
Damit sorgt das Sich- Festkleben für eine entscheidende Asymmetrie: Während ein festgeklebter Aktivist gegenüber einem nicht fixierten Aktivisten in höherem Maße auf die moralische Integrität des von ihm blockierten Umfelds angewiesen ist, ist er selbst nicht länger bereit, moralisch begründete Ausnahmen auf Seiten der Blockierten zuzulassen. Geht die Unterstellung des Aktivisten, das blockierte Umfeld würde schon veritable Verletzungen bei ihm vermeiden wollen, nicht auf, so ist allerdings auch das Wegreissen der Hand in die politische Wirkung der Blockadehandlungen eingepreist. Bei den Pariser Aktionen ist zu sehen, wie ein Polizist die offenkundig nicht oder nur lose angeklebte Hand eines Aktivisten mit einem kurzen Ruck hochzieht und dieser sich daraufhin in sichtlich übertriebenen Schmerzenswindungen ergeht. Genau darin besteht die andere Seite des moralischen Kalküls, die mit dem Sich-Festkleben“ verbunden ist: „Werden wir so grob behandelt, dass unsere Hände Schaden nehmen, so können wir den Staat als ein Monstrum dastehen lassen, das nicht nur unseren Protest nicht anerkennt, sondern uns dabei auch noch verletzt."
Damit stellt sich abschließend die Frage nach dem Grund für diese soziale Innovation des Protesthandelns. Annehmen darf man wohl, dass das Sich-Festkleben der Ausdruck einer – auch von dem Soziologen Harald Welzer konstatierte – Radikalisierung des Protests der Klimaschützer ist. Wenn die Blockade von Verkehrswegen bedeutet, dass damit gleichzeitig der Gesellschaft ein normatives „Bis hierher und nicht weiter" signalisiert werden soll, dann zeigt das Sich-Festkleben an, dass diese Blockade einen gleichsam unverrückbaren Status erhalten soll. „Wir weichen keinen Zentimeter zurück, nehmen die Schädigung unseres Leibes in Kauf und stellen die Moral der Gesellschaft in voller Gänze auf die Probe", lautet die Botschaft der Aktivisten. Nicht zu überraschen vermag deshalb der Umstand, dass die Klebe-Blockaden zumeist ausgerechnet im Namen einer Organisation mit dem Titel „Letzte Generation“ durchgeführt werden. Sie sind damit der Ausdruck eines Endzeitbewusstseins; und die Aktivisten begreifen sich als Auserwählte eines letzten Kampfes. Mit einer weiteren Radikalisierung der Klimaschutzbewegung ist wohl zu rechnen.