11.01.2013

Kapitalismus nein, danke?

Analyse von Joachim Volz

Aktuell wird der Kapitalismus wieder von vielen mit großem Misstrauen betrachtet. Über die wesentliche Errungenschaften – noch nie zuvor dagewesenen Wohlstand, Gleichheit und Freiheit

„Die Atmosphäre der Feindschaft gegenüber dem Kapitalismus… macht es viel schwieriger…, sich eine vernünftige Ansicht über seine wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen zu bilden. Die öffentliche Meinung ist allgemach so gründlich über ihn verstimmt, daß (seine) Verurteilung… eine ausgemachte Sache ist – beinahe ein Erfordernis der Etikette der Diskussion.“ Diese Sätze stammen von Josef Schumpeter 1, einem der großen Nationalökonomen des 20. Jahrhunderts, der Zeit seines Lebens daran festhielt, dass schlussendlich der Sozialismus als Wirtschafts-Ordnung obsiegen würde. 1942 wagte er die Prognose, daß der Kapitalismus, ausgehend von 1928, in den folgenden 50 Jahren das Pro-Kopf-Einkommen in den USA von 650 $ auf 1.300 $ (in gleichbleibender Kaufkraft) verdoppeln und damit den um 1940 noch herrschenden Mangel beseitigen würde. Hat sich dies bewahrheitet?

Kapitalismus und Wachstum

Die Frage beantworten wir in Deutschland, da hier statistisches Material ausreichend zur Verfügung steht. Dazu reicht die Berücksichtigung der Bruttowertschöpfung (BWS). Diese ist mit dem Bruttoinlandprodukt (BIP) vergleichbar, enthält jedoch nicht die Steuern, die auf Güter und Dienstleistungen erhoben werden und eine statistische Hochrechnung über Jahrzehnte verzerren würden. Die BWS wird in Preisen von 1913 berechnet, sie entspricht damit dem Warenkorb von 1913 und Tabelle 1 zeigt dessen inflationsbereinigte Entwicklung von 1850 bis 2011, in Relation zu anderen Bereichen der gesellschaftlichen Entwicklung. Von 1950 bis 1980 sind nur die alten Bundesländer berücksichtigt.
 

Tabelle 1 2 1850 3 1880 1913 1938 1950 1960 1980 2000 2011
Bevölkerung 35,4 45,1 66,98 68,42 50,96 55,96 61,66 82,26 81,80
Erwerbstätige 15,0 18,95 30,3 33,2 20,38 4 26,06 27,42 39,38 41,05
Anteil LW 55 % 47 % 32 % 28 % 19 % 9 % 4 % 1,5 % 1,2 %
Betriebsgröße <5 6,0 5,5 8,6 8,1 9,3 15,6 36,6 56,9
LW ernährt 45 50 65 75 130 230 625 1.360 1.580
PEV in SKE 0,8 t 1,5 t 2,5 t 3,1 t 3,2 t 3,9 t 6,3 t 5,9 t 5,9 t
Stromverbrauch - - 40 795 875 2.100 5.980 7.052 7.425
BWS 1913 5 300 390 720 1.000 1.000 1.970 3.880 4.610 5.350
jährl. Wachstum - - - 1,6 % 1,6 % 3,7 % 6,5 % 6,2 % 6,6 %
BWS nominal k.A. k.A. 720 1.300 1.150 2.680 11.610 22.380 28.050

Bevölkerung und Erwerbstätige: in Mio.
Anteil LW: prozentualer Anteil aller landwirtschaftlichen Arbeitskräfte an den Erwerbstätigen
Betriebsgröße: durchschnittliche Größe der landwirtschaftlichen Betriebe in ha
LW ernährt: 10 Erwerbstätige in der Landwirtschaft (reduziert auf Vollzeit-Arbeitskräfte) „ernähren“ x Einwohner
PEV in SKE: Primärenergieverbrauch in Steinkohleeinheiten pro Kopf (immer) der Bevölkerung
Stromverbrauch: gesamt, in kWh pro Kopf
BWS 1913: Bruttowertschöpfung berechnet in Preisen von 1913, in RM bzw. € pro Kopf
jährl. Wachstum: jährliches Wachstum in % gegenüber 1913
BWS nominal in Preisen des jeweiligen Jahres pro Kopf; 1938 und 1950 geschätzt

In Preisen von 1972 stieg der Verdienst eines deutschen Arbeitnehmers zwischen 1925 und 1972 von 312 DM (160 €) auf 1.060 DM (540 €) 6, also auf mehr als das Dreifache, ebenso wie die BWS von 1938 bis 1980. Der Unterschied im nominalen Bereich ist deutlich höher, aber keineswegs nur auf die Inflation zurückzuführen. Vor allem der Inhalt des Warenkorbes hat sich gewandelt – der von 1913 enthielt z.B. noch nicht: das Nylon, das Radio u.v.a. „Nylons“ wurden in den 1940er und 50er Jahren unter den kürzer werdenden Röcken der Frauen getragen. Erst die Entwicklung des Elasthans in den 1960er Jahren machte die Erfindung der Strumpfhose möglich. Obwohl der Funk schon intensiv genutzt wurde (Funkgeräte im Ersten Weltkrieg), wurde das Radio erst Anfang der 1920er Jahre von einer weltweiten Radio-Bastelbewegung entwickelt, aus der ab 1926 die kommerzielle Radioproduktion hervorging. Auch das Fernsehen gab es noch nicht, vom ganzen Bereich der Elektronik nach 1970 ganz zu schweigen. Der Stromvertrieb außerhalb von Großbetrieben und Bahnen hatte gerade erst begonnen. Autos gab es schon, doch Tankstellen waren kaum zu finden, meist wurde das Benzin in der Apotheke gekauft. Und der Ausbau des Straßennetzes für die mit dem Auto verbundene Mobilisierung der Gesellschaft, begann erst deutlich später. Anders formuliert: Der Warenkorb von 2011 basiert auf dem von 1913, aber der von 1913 ist mit dem von 2011 kaum zu vergleichen.

Der Bereich der Landwirtschaft in Tabelle 1 macht die langsame, mühselige Entwicklung bis 1950 überdeutlich. Auch wenn die dort Beschäftigten drei mal mehr Menschen ernähren konnten als noch 100 Jahre zuvor, wurde dies durch die Verdopplung der Bevölkerungsdichte und die nur langsam sinkende landwirtschaftliche Beschäftigtenzahl weitgehend kompensiert. Bis zum Ersten Weltkrieg umfassten die Betriebe mit weniger als 5 ha Land etwa drei Viertel aller landwirtschaftlichen Betriebe 7, 1950 waren es immer noch mehr als die Hälfte. Solche Kossäten, Gärtner oder Büdner genannten „Land-Besitzer“ bauten nur wenig Getreide, dafür Kartoffeln und Gemüse an, hielten 1 bis 2 Ziegen (Die Ziege als Kuh des kleinen Mannes!) und etwas Klein-Vieh. Für den Verkauf blieb nur wenig, stattdessen mussten Lebensmittel zugekauft werden. Das nötige Geld verdienten sie sich als saisonale Arbeiter. Noch 1913 ernährte sich ein Drittel der deutschen Bevölkerung auf diese Weise zu großen Teilen selbst.

Die Ernährung der schnell wachsenden städtischen Bevölkerung musste also vom restlichen Viertel der landwirtschaftlichen Betriebe getragen werden. Die Betriebe, über 20 ha, steuerten 60 Prozent bei, die mittleren, mit etwa 10 ha Land, weitere 35 Prozent, der Rest kam von der übergroßen Mehrheit der Kleinstbetriebe. Die schon in den 1950er Jahren spürbare Umstellung der Landwirtschaft, der Trend zur Vergrößerung der Betriebsflächen, der sich in den letzten 2 Jahrzehnten deutlich beschleunigt hat, rührte nicht nur von der Mechanisierung – Traktoren und Vollerntemaschinen – her. Marvin Harris bezeichnete den Aufstieg der Fast-Food-Ketten in den USA als „ein Ereignis, das mindestens genauso viel Bedeutung für die menschliche Gesellschaft hat wie die Landung… auf dem Mond.“ 8 Gleiches gilt in Europa für die Supermarkt-Ketten! Bis dahin war die Konkurrenz auf den lokalen und regionalen Märkten nur wenig entwickelt. In den Städten bestimmten eine Vielzahl kleiner und kleinster sog. „Tante Emma“-Läden das Bild. Auch die Entstehung einer Lebensmittel-Industrie – Mühlen, Molkereien, Konserven – änderte daran nur wenig. Es war die lokale Konkurrenz zwischen den bundesweit agierenden Supermarkt-Ketten, die die Landwirtschaft als ganze auf eine neue Stufe hob. Die Landwirte und große Teile der Lebensmittel-Industrie sind zu Zulieferern geworden, deren Produktionspreise sich nach den Marktpreisen der Supermärkte zu richten haben. Mechanisierung und Chemisierung der Landwirtschaft oder besser formuliert, das tiefe Eindringen der Wissenschaft bis z.B. in die Krumenstruktur des Bodens, sind die Mittel, um immer bessere Ernten mit immer weniger Aufwand einfahren zu können.

Heute ernährt eine statistische Vollzeit-Arbeitskraft in der Landwirtschaft über 150 Menschen und kauft die eigenen Lebensmittel im Supermarkt. Der gesellschaftliche Aufwand hat sich von der überwiegenden Hand-Arbeit (zu der hier auch die Bedienung von Maschinen gezählt wird) zur überwiegenden Kopf-Arbeit verlagert. Der Warenkorb, nicht nur bei den Lebensmitteln, ist prall gefüllt. Schumpeters Prognose von vor 70 Jahren hat sich nicht nur erfüllt, sondern sogar übererfüllt – auch wenn viele dies in Beachtung der „Etikette der Diskussion“ anders sehen wollen. Die Abwesenheit des Mangels 9, nicht der allseits sichtbare Überfluss, ist das bestimmende Merkmal des heutigen Kapitalismus.

Kapitalismus und Fortschritt

Wachstum und Kapitalismus gehören zusammen, soviel scheint sicher. Das wirtschaftliche Wachstum ab 1913 (s. Tabelle 1) hat sich zum Ende hin wieder deutlich beschleunigt. Um 1850 erreichte es kaum 1 Prozent, über den ganzen Zeitraum bis 2011 dürfte es jedoch im Schnitt bei 3 Prozent gelegen haben. Nichts spricht dagegen, dass sich dieser Prozess fortsetzen lässt, dass sich in den nächsten 50 Jahren das BWS, der Warenkorb, wiederum verdoppeln, vielleicht sogar verdreifachen wird.

Nichts spricht dagegen? Doch, viele Menschen, vielleicht sogar die Mehrheit. Sie rufen nach einem neuen, einem ethischen Kapitalismus und sie verdammen das Wachstum, das ihnen den jetzigen Wohlstand doch erst gebracht hat. Im zweiten Halbjahr 2011 versuchte die Zeit in einer losen Folge unterschiedlichster Meinungen, diese Stimmung auf den Punkt zu bringen: „Kapitalismus kaputt?“ Das Fragezeichen war bei einem großen Teil dieser Beiträge reine Makulatur. So auch bei Tim Jackson 10, seines Zeichens englischer Professor für nachhaltige Entwicklung, der alles Unheil dieser Welt der „Unersättlichkeit menschlicher Bedürfnisse“ zuschreibt, die mit immer neuen Massen von Konsumgütern durch die Industrie befriedigt werden müssen.

Betrachten wir diese „Unersättlichkeit“ doch einmal genauer. Im letzten Jahr beliefen sich die Konsumausgaben aller deutschen Haushalte auf knapp 1,4 Billionen €. Eine wahrhaft stolze Summe, das sind immerhin 55 Prozent des BIP. Tabelle 2 zeigt die Aufschlüsselung auf die wichtigsten Bedürfnisse in Relation zur Entwicklung der Wohnsituation in den letzten 30 Jahren.
 

Tabelle 2 11 Konsumausgaben in % pro Wohnung/Haushalt 12
Jahr Wohnungen Fläche Nahrung Kleidung Wohnung Mobilität   Kultur Gaststätten
1980 31,1 Mio. 25 m2 20,5 9 29 13 9 5
1991 34,2 Mio. 35 m2 18 8 27,5 17 9,5 5,5
2011 40,4 Mio. 43 m2 14 5 30,5 17 9 6

Wohnungen: Zahl der Wohnungen gesamt, 1980 Konsumausgaben nur alte Bundesländer
Fläche: Wohnfläche pro Kopf
Wohnung: einschließlich Möbel, Haushaltsgeräte und Energiekosten
Mobilität: Auto, Telefon, Handy, Internet
Kultur: von der Kinokarte bis zum Multimedia-Gerät
Gaststätten: Gaststättenbesuche und Hotelunterkünfte (Reisen)

Die ersten drei Spalten der Konsumausgaben zeigen nur die Grundbedürfnisse nach Essen, Trinken sowie Kleiden und Wohnen. Das ist nicht mehr als das, was noch im 19. Jahrhundert Subsistenz genannt wurde: das zum Leben notwendige. Diese Subsistenz umfasst heute natürlich mehr als das Über-Leben und hat ihren Teil z.B. zum deutlichen Anstieg der Lebenserwartung beigetragen. Der Anteil der Grundbedürfnisse an den Konsumausgaben ist allein in den letzten 30 Jahren von 60 Prozent auf 50 Prozent gesunken. Das öffnete Raum für weitere Bedürfnisse, auch für wachsende Bildungs- und Gesundheitsausgaben, die im Konsum noch gar nicht enthalten sind. Das drängendste Problem der bisherigen kapitalistischen Entwicklung war, mit dem Ansturm der Menschen in die Städte fertig zu werden. An den Slums in den Entwicklungsländern ist dies auch heute noch sichtbar. Um 1900 mussten sich in Deutschland noch etwa 5 Menschen eine Wohnung teilen, 1938 waren es noch 3,3 13 – Kinderzimmer waren eine Seltenheit. 1980 lebten durchschnittlich (denn nur um den Durchschnitt geht es hier) 2,5 Menschen in einer Wohnung, heute noch 2. Die Wohnfläche pro Kopf stieg dabei in den letzten 30 Jahren deutlich an. Wer wollte bestreiten, dass dies einen Fortschritt darstellt – abgesehen von Professoren für nachhaltige Entwicklung.

Dieser Fortschritt zeigte sich auch im täglichen Leben. Vor 50 Jahren, also Anfang der 1960er Jahre, mussten im Winterhalbjahr täglich Kohlen aus dem Keller in die Wohnung geholt, jeder Ofen einzeln geheizt und die Asche wieder runtergebracht werden. Und nicht nur das, schon im Sommer stand die Einkellerung der Kohlen (je nach Wohnungsgröße eine halbe bis über 1 Tonne,) an. Im Herbst kamen die Kartoffeln, auch Äpfel und Birnen hinzu, denn diese gab es keineswegs das ganze Jahr über. Das alles kostete Zeit, vom Marmelade-Kochen und Einwecken gar nicht zu reden.

Alle Ökonomie ist Ersparung von Zeit, ein Satz, der für alle Bereiche des menschlichen Lebens gilt und im Kapitalismus besondere Bedeutung erlangt. Karl Marx hat sich um 1860 intensiv mit dem „Normalarbeitstag“ beschäftigt und das war zu dieser Zeit im kapitalistischen Musterland England ein 10-Stunden-Tag. Erst in den 1920er Jahren wurden 8 Stunden zum normalen Arbeitstag. 1960 lag die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit in den alten Bundesländern (ohne Krankentage, Urlaub, Feiertage, Kurzarbeit) bei etwa 43 Stunden, der arbeitsfreie Samstag war in den 1960ern immer noch umkämpft, heute liegt die wöchentliche Arbeitszeit bei 27 Stunden! 14 Zeit ist nicht nur Geld, Zeit ist auch Leben – und zwar ein vielfältiges und bedürfnisreiches Leben.

Gern wird behauptet, auch Tim Jackson tut dies, dass die Erde als Planet „endlich“ sei. In diesem Sinne ist auch das Universum, da ein System bestimmter Masse, endlich – auch das menschliche Leben ist endlich. Was soll mit solchen Platitüden eigentlich gesagt werden? Das auch menschliche Bedürfnisse endlich sind, endlich sein müssen? 1960 gab es in beiden deutschen Staaten 22 Millionen Radio- und 10 Millionen Fernsehgeräte 15. Das waren klobige Dinger (vollgestopft mit Röhren), mehr feststehendes Möbelstück als wirkliches Unterhaltungsgerät. Auch wenn sich die Zahl der Geräte (ohne Videorekorder, DVD-Player u.a.) bis heute mehr als verdreifacht hat, ist der Ressourceneinsatz doch deutlich gesunken. Genau hier liegt das offene Geheimnis des Kapitalismus: mit möglichst geringem Einsatz von Kapital (= Ressourcen, Arbeitskraft, Maschinerie) möglichst viel zu produzieren, und dies nicht in einem einmaligen Vorgang, sondern als fortlaufendem Prozess. Nicht auf das „schnelle Geld“ kommt es an, sondern auf den dauerhaften, den nachhaltigen Profit.

Dass sich auch mit Dreck, mit der Umwandlung von Müll in Wertstoff, nachhaltig Profit machen lässt, liegt auf der Hand. Mit der großtechnischen Müllverwertung, die eigentlich erst am Anfang steht, setzen die Menschen der Natur und deren langen Kreisläufen ihre eigene gesellschaftliche Natur und d.h. deutlich kürzere Kreisläufe entgegen.

Kapitalismus und Freiheit

Nicht nur Wachstum, auch Fortschritt gehört zum Kapitalismus, wobei dieses Fortschreiten eben nicht nur als einseitige Entwicklung der Technik zu verstehen ist. Der technologische und wissenschaftliche Fortschritt schenkt den Menschen Zeit – Lebens-Zeit! Auch wenn ein Großteil davon mit nichts anderem als „meckern“ vertan wird. Der Kapitalismus verflacht ganz entscheidend die haushohen Hierarchien, mit der die Mehrheit der Menschen über Jahrtausende von den Errungenschaften der alten Zivilisationen ferngehalten werden musste. Er schafft eine bestimmte soziale Atmosphäre, in der Zahlen oftmals vor den Menschen rangieren. Doch erst diese Atmosphäre der Rationalität gibt Erfindern, Ingenieuren, Wissenschaftlern das Umfeld, in dem ihre Ideen richtig „sprudeln“ können. Paradoxerweise sind es solche Zahlen, wie bei der Abrechnung in Geld, die das neue versachlichte Umfeld der Gesellschaft erst sichtbar werden lassen. Die Menschen treten sich nicht mehr als Herr und Knecht, d.h. in persönlicher Abhängigkeit, gegenüber. Und dabei ist ihre gegenseitige Abhängigkeit im Laufe der Geschichte nicht etwa kleiner, sondern beträchtlich größer geworden. Autarkie war schon im Mittelalter selbst für Eremiten nicht mehr zu erreichen – heute ist sie ein gefährlicher Traum. Denn der Austausch ist zum eigentlichen Lebenselixier der Menschen geworden. Er darf jedoch nicht nur als weltweiter Handel gesehen werden, wie es die Ökonomen tun. Sondern der universale „Austausch der Tätigkeiten und Produkte ist zur Lebensbedingung für jedes einzelne Individuum geworden“, wie Karl Marx es formulierte 16. Dadurch können sich die Menschen auch als Gleiche, eben als Individuen, begegnen. Die Heroen des Altertums, diese großen Männer in grauer Vorzeit, die den Menschen das Feuer brachten, sie die Kunst des Schmiedens lehrten und als weise Gesetzgeber auftraten, werden nicht mehr gebraucht – weil in der modernen, eben kapitalistischen, Gesellschaft vollkommener gegenseitiger Abhängigkeit jeder „groß“ werden kann. Die allgemeine Verbreitung der Lohnarbeit ist ein Moment dieser Gleichheit und führt zur weltweiten Angleichung der Lebensverhältnisse. Auch diese, alle Menschen umfassende Gleichheit – erfahren als persönliche Freiheit – gehört zum Kapitalismus.

Das 20. Jahrhundert war voll von mehr oder weniger barbarischen Versuchen die für alle Staaten und Völker geltende Landstraße zum Kapitalismus auf anderen Wegen zu verlassen. Links davon der „real existierende Sozialismus“, rechts der „deutsche Nationalsozialismus“ und auf noch anderen „dritten“ (Ab-)Wegen z.B. die Herrschaft der „Roten Khmer“ in Kambodscha, der in den 1980er Jahren ein Viertel der Bevölkerung zum Opfer fiel. Alle diese Versuche sind gescheitert, doch sie kosteten sowohl Menschenleben als auch Zeit! China z.B. verlor Millionen Menschen, die auf dem Altar einer Ideologie geopfert wurden und etwa drei Jahrzehnte – während Rumänien nur wenige Menschenleben, aber mehr als ein halbes Jahrhundert an Zeit verlor. Es ist nicht zu leugnen, dass der Kapitalismus unter Blut, Schweiß und Tränen geboren wurde und wird. In seiner Geburtsphase schob er ein Tal der Armut vor sich her. Der englische „Fortschritt“ zum Kapitalismus dauerte mehr als 150 Jahre, von der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts bis um 1850. In Deutschland maß das Tal der Armut etwa 100 Jahre, vom Ende des 18. Jahrhunderts bis um 1900. In Brasilien waren es schon weniger als 50 Jahre (um 1960 bis nach 2000) und in China nur etwa 30 Jahre (um 1980 bis 2010). Wenn ein Land sich heute entschließt (z.B. im arabischen Raum oder Afrika), die Landstraße zum Kapitalismus zu beschreiten, kann (!) es innerhalb weniger Jahrzehnte das Tal der Armut durchqueren. Eine Elterngeneration wird also, im wahrsten Sinne des Wortes, die Grundlagen für ein besseres Leben ihrer Kinder erbauen.

Auch heute noch gibt es diese, notwendigerweise gewalttätige, Suche nach anderen Wegen, wie in Venezuela oder dem Iran. Doch der Kapitalismus lässt sich nicht überlisten! Er ist, obwohl er den Menschen die Qual der Wahl überlässt, ein Naturprozess, wenn auch einer der zweiten, also der gesellschaftlichen Natur des Menschen. Er gibt den Menschen die Möglichkeit sich von der eigentlichen, der ersten Natur zu emanzipieren und damit ihre eigene Bedürftigkeit zu überwinden. Er ist aber auch ein rationales Zwangsverhältnis, dessen Nicht-Steuerbarkeit in den immer wieder ausbrechenden Krisen sichtbar wird. Der Kapitalismus agiert, um es bildlich zu umschreiben, als blinder und stummer Gott, der den Menschen nicht mitteilen kann, wohin „die Reise“ geht, deren Ziel er ja selbst nicht sieht. Gerade darum muss sich der Fortschritt des Kapitalismus in Krisen „gewalttätig“, wie Marx es nannte, durchsetzen 17 – auch wenn die Krisen die Menschen immer wieder erschrecken und nach anderen „dritten“ Wegen suchen lassen. Alle „politischen“ Versuche einer tiefgehenden Steuerung, Aufhebung, Abschaffung oder was auch immer, des Kapitalismus, können nur in der Einschränkung oder Abschaffung seiner wesentlichen Errungenschaften enden, der Gleichheit und Freiheit. Und das heißt nichts anderes als die Abschaffung des Kapitalismus selbst – die sachliche Abhängigkeit wird wieder durch eine solche persönlicher Natur ersetzt, z.B. durch eine allmächtige Planungsbürokratie. Noch einmal: Der Kapitalismus lässt sich nicht austricksen! Nur ganz oder gar nicht kann man sich auf der Höhe seiner Errungenschaften niederlassen. Ob dies für alle Zeiten gilt, ist eine andere Frage.

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