05.10.2010

Antikapitalismus als Fortschrittsbremse

Kommentar von Sean Collins

Die zeitgenössische Kritik am Kapitalismus ist zutiefst fortschrittsfeindlich und menschenverachtend.

Die Weltwirtschaft hat eine ihrer schwersten Rezessionen durchgemacht – wohl die schwerste seit den 30er-Jahren –, und eine wirkliche Erholung lässt noch immer auf sich warten. Die Probleme in Griechenland und anderswo deuten darauf hin, dass uns womöglich ein doppelter Rückschlag droht. Doch trotz ihrer Schwere hat die Krise in der westlichen Welt zu keiner ernsthaften Diskussion über ihre Ursachen geführt oder darüber, wie die Wirtschaftssysteme wieder auf einen Wachstumspfad gebracht werden können. In den USA vollzieht sich die Erholung nur langsam, und die Arbeitslosenquote liegt bei nahezu zehn Prozent. Eine bedrückende, fast fatalistische Atmosphäre beherrscht die Diskussion darüber, was dagegen zu unternehmen sei: Die meisten hoffen, dass irgendwann die normalen Mechanismen der Erholung greifen, doch wirklich davon überzeugt sind nur die wenigsten. Insofern über die Krise diskutiert wird, konzentriert sich zumeist alles auf die Finanzwelt. Allerdings ist die Zeit der hektischen Brandbekämpfung der Jahre 2008 und 2009 längst vorbei, und hinsichtlich einer Finanzreform ist keine Dringlichkeit zu verspüren. In jüngster Zeit haben politische Führer eine Vorliebe dafür entwickelt, Goldman Sachs zu beschuldigen: Das Spektakel, Vertreter von Goldman vor eine Senatsanhörung zu zerren, muss als Ersatz dafür herhalten, sie wie im Mittelalter an den Pranger zu stellen und mit Abfällen zu bewerfen.

Die jüngste Krise hat gezeigt, dass es keine automatischen Antworten auf wirtschaftlichen Abschwung gibt. Rezessionen haben weder notwendigerweise eine radikalisierende Wirkung, noch erzeugen sie ein obligatorisches Bedürfnis nach Fortschritt. Die Art, wie wir eine Krise erleben, wie wir sie zu erklären und ihr zu begegnen versuchen, hängt davon ab, wie wir das Potenzial unserer Gesellschaft einschätzen. Tatsächlich sind es die politischen und sozialen Ansichten der Jahre vor 2008, die die Interpretationen und Erklärungen der Rezession geprägt haben.

Oberflächliche Krisendiskussion

Die vorherrschenden Erklärungen der Wirtschaftskrise haben mit individueller Gier, unverantwortlichem Schuldenmachen, exzessivem Konsum und rücksichtslosem Spekulantentum zu tun. Ein ums andere Mal wurden Banker und ihre Boni als Beweis für unkontrollierte Habsucht und die eigentliche Ursache für die Krise präsentiert. Das Verdammen hoher Bonuszahlungen soll ein profundes Verständnis über die Fehlentwicklungen vermitteln. So doziert Naomi Klein, dass die Kultur der Banken eine „Orgie der Gier“ sei. Die Diskussion über raffgierige Banker ist geprägt durch einen deutlichen Beigeschmack, verstärkt durch das Brandmarken der angeblichen dekadenten Praktiken in Reihen der Banker – Unmengen an Ausgaben für Alkohol und Nächte mit privaten Tänzerinnen etc.

Infolgedessen hat sich die Debatte über die Bonuszahlungen mit Leichtigkeit in einen Angriff auf die materialistische Kultur im Allgemeinen entwickelt. So sehen sich Hausbesitzer ebenfalls der Anschuldigung ausgesetzt, sie hätten die Finanzkrise mit ausgelöst, weil sie Kredite in Anspruch nahmen, die sie sich nicht leisten konnten. In seinem Buch Reset argumentiert Knut Andersen, dass ein jeder Schuld trage. Die Amerikaner hätten in den Jahrzehnten vor der Krise „eine uneingeschränkte Begeisterung für persönliche Bereicherung und Geldausgeben entwickelt“: „20 Jahre lang hatten wir die perfekte Karikatur eines Homer Simpson als Quintessenz des typischen Amerikaners: kindisch, verantwortungslos, absichtlich ignorant, fett und glücklich.“ In dieser Lesart wird die Krise tatsächlich gern als lehrreiche Lektion für uns alle herangezogen. Es herrscht die Hoffnung, dass wir nun endlich unsere Bedürfnisse zügeln: weniger ausgeben, weniger ausgehen und mehr Zeit mit der Familie verbringen – sich wieder mehr mit den „wichtigen Dingen des Lebens“ vertraut machen.

In früheren Krisen, wie der in den 30er-Jahren, wurde der Kapitalismus beschuldigt, Bedürfnisse nicht zu befriedigen, nicht genügend Wachstum, Beschäftigung und Einkommen zu generieren. Der Fokus lag auf der Produktion – insbesondere auf der mangelhaften Erweiterung der Produktivkräfte –, und die Diskussion drehte sich um strukturelle ökonomische Fragen. Soweit sich die Kritik an exzessivem Konsum entzündete, konzentrierte sich diese Kritik auf den Konsum der Reichen. Im Gegensatz dazu ist die Diskussion heutzutage ausnehmend oberflächlich. Sie dreht sich vornehmlich um individuelles Verhalten, und es gibt nur sehr wenige Bemühungen, die zugrunde liegenden ökonomischen Kräfte zu erforschen. Die aktuelle Attacke gegen die Banker ist nicht viel mehr als eine Karikatur von Kritik: Sie hat eine Menge mit populistischen Vorurteilen gegen Finanziers und Juden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gemeinsam. Wirklich einzigartig ist die Tatsache, dass die Kritik am Konsum sich auf uns alle bezieht, nicht nur auf die Reichen. Wir sind alle schuldig – so oder so ähnlich klingt es in nahezu allen Kommentaren an. In der Vergangenheit war es der Mangel an Massenkaufkraft, den es zu bekämpfen galt – heutige Kritiker behaupten, dass das Hauptproblem darin liegt, dass wir zu viel Kaufkraft hätten.

Wie „Antikapitalismus“ eine kritische Perspektive verhindert

Warum sind die meisten Betrachtungen der Krise so oberflächlich und rückwärtsgerichtet? Kurz gesagt, weil „antikapitalistische“ Werte in westlichen Gesellschaften mittlerweile überwiegen. Ich habe „antikapitalistisch“ in Anführungszeichen gesetzt, weil diese Art der Kritik sich in Wirklichkeit nicht gegen den Kapitalismus an sich richtet, sondern gegen jede Form von Ökonomie, die dynamisches Wachstum und Entwicklung zum Ziel hat. Und es ist die alte Linke, die sich an die Front derer gestellt hat, die diese Ansichten vertreten. Traditionell diente eine Krise für die Linke dazu, die Grenzen des Marktes aufzudecken, während die Rechte üblicherweise versuchte, das System zu verteidigen. Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Linke misanthropisch gegen Entwicklung und gegen Konsum positioniert, was dazu führt, dass sich die Kritik nicht mehr auf den Markt, sondern auf die Menschheit als solche fokussiert.

Diese Verlagerung hin zu einer Haltung, die sich gegen jedwede Entwicklung und gegen Technologie im Allgemeinen wendet, insbesondere in Kreisen der sogenannten Progressiven, hat die Interpretationen der Rezession entscheidend beeinflusst. Vor dem Finanzcrash kritisierte die Linke den Kapitalismus dafür, zu dynamisch zu sein, als könne sie Produktion und Konsum grenzenlos erhöhen. In dieser Hinsicht gab sich die Linke ebenso vielen Illusionen hin wie die überzeugtesten prokapitalistischen Ideologen. Die erwähnte exzessive Dynamik, so wurde behauptet, habe negative Auswirkungen auf viele Bereiche, vor allem auf die Umwelt.

Diejenigen, die argumentierten, dass der Kapitalismus zu dynamisch sei, wurden von der Finanzkrise völlig unvorbereitet überrascht. Sie waren nicht sicher, wie sie reagieren sollten, weil die Rezession deutlich an die Probleme erinnerte, die durch einen Mangel an wirtschaftlichem Wachstum und Entwicklung verursacht werden. Aber anstatt zu schlussfolgern, dass die Krise die Notwendigkeit stetiger Entwicklung zeige, schlug die Linke genau den entgegengesetzten Weg ein und behauptete, die Krise sei das Ergebnis von zu viel und zu schnellem Wachstum. Ihr implizites Ideal ist „nachhaltige Entwicklung“, oder auch Stasis, anstelle von Dynamik, und ihr zufolge war die Krise eine Folge eines Ungleichgewichts.

Das allgemeine Verständnis der Rezession wurde zudem durch die ohnehin bereits bestehende Anti-Konsum-Einstellung geprägt. In den Jahren vor der Finanzkrise kritisierte die Linke besonders den sogenannten exzessiven Konsum. Ihre Angriffe richteten sich manchmal gegen die höheren Einkommensgruppen, viel öfter jedoch gegen die breite konsumierende Gesellschaft. Das Bedürfnis der Massen nach mehr Konsum wurde kritisiert, da es Werte verzerre und die Menschen unglücklich mache. Dieses konsumfeindliche Vorurteil wurde in der Folge instrumentalisiert, um die Rezession zu erklären. Statt der Sichtweise, dass die Rezession die Unfähigkeit des Kapitalismus offenbare, den Lebensstandard der Menschen kontinuierlich zu erhöhen, wurde der Crash mit dem individuellen Bestreben, mit dem Nachbarn Schritt zu halten, insbesondere in Bezug auf größere und bessere Eigenheime, erklärt. Die Krise wurde als „geplatzte Kreditblase“ wahrgenommen und insbesondere die arbeitende Bevölkerung nun für diese überstrapazierten Kredite verantwortlich gemacht. Tatsächlich aber stagnierten die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer, und viele Leute versuchten, die niedrigen Zinsen auszunutzen, um auf Pump ihren Lebensstandard zu halten.

Schließlich hat eine unterschwellige Misanthropie dazu beigetragen, die Diskussion über die Krise zu verzerren. Die vergangenen Jahre brachten eine Rückkehr der Überbevölkerungs-Angstmache des Thomas Malthus sowie der Idee von den Grenzen des Wachstums. Diese Ansicht wird am deutlichsten von Umweltschützern vertreten, die den Einfluss des Menschen auf die Umwelt als einseitig zerstörerisch ansehen. Die Konsequenz dieser Sichtweise ist, dass zu viele Menschen auf dem Planeten leben und dass wir aufhören sollten, uns zu vermehren. So schreibt Lisa Hymas in Grist, nachdem sie verschiedene Ansätze individueller Beiträge zum Schutz der Umwelt betrachtet hat, dass keine dieser Maßnahmen auch nur annähernd so effektiv sein würde wie die, keine neuen Menschen auf die Welt zu bringen – insbesondere neue Amerikaner.

Die Krise und die darauffolgende Rezession wird als Folge des Strebens interpretiert, unsere natürlichen Grenzen überschreiten zu wollen. Diese antihumane Sichtweise hat zu einer breiteren Akzeptanz der Sichtweise geführt, dass „wir nur uns selbst haben, um den Schuldigen zu finden“. Es bedeutet auch, dass eine Krise, die viel Leid und Schmerz mit sich brachte, auf perverse Art und Weise als willkommene Entwicklung begrüßt wird, weil die eingeschränkten Bedingungen dazu führen werden, dass weniger Menschen mit Billigfliegern verreisen, mit dem Auto in die Ferien fahren oder sonstwie die Erde verschmutzen. Die misanthropische Betonung des sündhaften Menschen wird auch durch Verschwörungstheorien deutlich. Solche Theorien gehen davon aus, dass sinistre Individuen hinter den Kulissen konspirieren und dass dem Menschen nicht zu trauen ist. In historischer Sicht waren Verschwörungstheorien eine Domäne der reaktionären Rechten, doch in letzter Zeit hat die Linke in vielen Bereichen solche Konzepte übernommen, zum Beispiel auf dem Gebiet der Gesundheit (Impfstoffe) und des Terrorismus (die „Wahrheit“ über 9/11).

Demzufolge ist eine Verschwörung von Bankern mittlerweile eine der Haupterklärungen für die Krise. In den Vereinigten Staaten geschieht dies in Form der öffentlichen Denunzierung von Goldman Sachs. Auch hier haben linke Kommentatoren die Meinungsführerschaft übernommen. Rolling-Stone-Redakteur Matt Taibbi ist der tollwütigste der Goldman-Gegner, und seine Beschreibung des Unternehmens als „blutsaugende Krake, die sich um das Antlitz der Menschheit geschlungen hat, die unablässig ihren Saugrüssel in alles rammt, was nach Geld riecht“, wird bis zur Ermattung von anderen wiederholt. Die „blutsaugende Krake“ war allerdings ein Bild, das die Nazis benutzten, um jüdische Finanziers zu beschreiben, und die Bezeichnung von Goldman Sachs als „Stamm“ ist ebenfalls ein antisemitisches Stereotyp. Taibbi mag kein bewusster Antisemit sein, aber er ist definitiv ein Verschwörungstheoretiker.

Das Problem einer Fokussierung auf Verschwörungstheorien, die sich um einzelne Unternehmen drehen, ist nicht nur, dass sie falsch sind, sondern auch, dass sie unsere Aufmerksamkeit auf angeblich boshafte Individuen lenken und im Zuge dessen auf unsere eigene fehlbare menschliche Natur. Sich auf korrupte Einzelpersonen einzuschießen vermittelt den Eindruck, als sei das, was legal und erlaubt ist, völlig in Ordnung – im Gegensatz zu den ruchlosen, verborgenen Vorgängen hinter der Bühne. In der Realität ist aber gerade das Erlaubte und Offensichtliche das Problem. Darüber hinaus werden durch das verschwörungstheoretische Weltbild, das sich auf ein Unternehmen wie Goldman konzentriert, die anderen Gruppen, die zur Krise beigetragen haben, auf effektive Weise freigesprochen und die umfassenderen systemischen Probleme der Wirtschaft ausgeblendet.

Insgesamt ist eine Wirtschaftskrise aus Sicht einer misanthropischen, gegen Entwicklung und Konsum gerichteten Perspektive keine Angelegenheit, die eine Veränderung der gesellschaftlichen Organisationsstruktur erforderlich macht. Man könnte – wie vielerorts geschehen – sogar Vorteile in einer Rezession sehen. Eine solche Haltung unterminiert ein aktives, aggressives Vorgehen, um die Wirtschaftskrise zu überwinden.

Der Staat als Wachstumsbegrenzer

Im Vergleich zur öffentlichen Wahrnehmung der Krise, die sich auf gierige Banker, kopflose Konsumenten und leichtsinnige Schuldner konzentriert, erscheint die Diskussion in Kreisen der Ökonomen, Politiker und anderer Fachleute wesentlich anspruchsvoller. Jedoch deckt ein genauerer Blick die gleichen niedrigen Horizonte und antihumanistischen Tendenzen auf, die in der öffentlichen Auseinandersetzung zu finden sind – wenngleich in hochtrabend theoretischen Sätzen formuliert. Mit dem Beginn der Finanzkrise verkündeten linksliberale Politiker und Ökonomen das Heraufziehen einer neuen Ära. „Laissez-faire hat ausgedient“, sagte der französische Präsident Nicolas Sarkozy. In seinem Buch Freefall schrieb der amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz, dass der Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 „für den Marktfundamentalismus die gleiche Bedeutung haben könnte wie der Fall der Mauer für den Kommunismus“. Solch heftige Aussagen erwecken den Anschein, als drehe sich die Debatte um die Grundfesten des Wirtschaftssystems.

Die Reden solcher Ökonomen stellen sich allerdings als Schaumschlägerei heraus. Sie unterstützen ihre Äußerungen nämlich nicht mit einer belastbaren Alternative. Die meisten linksliberalen Ökonomen würden sich als Neo-Keynesianisten bezeichnen; trotzdem reicht ihnen die schlimmste Wirtschaftskrise seit den 30er-Jahren nicht aus, um eine solide Verteidigung keynesianistischer Intervention vorzubringen. Es stimmt, dass die Bailout-Strategien westlicher Regierungen durch den Keynesianismus beeinflusst wurden, dies waren allerdings lediglich kurzfristige Rettungspläne und Anreizpakete – keine Gegenmodelle für die langfristige Perspektive. Nachdem sie ihre Defizite erhöht haben, um ihre sinkenden Schiffe in den sicheren Hafen zu holen, beschränken sich Regierungsvertreter nunmehr darauf abzuwarten und zu hoffen, dass ihre Anstrengungen Erfolge zeitigen.

In der Vergangenheit führten Rezessionen zu Diskussionen über strukturelle Makro-Faktoren, die die gesamte Wirtschaft einbezogen. In Reaktion auf die gegenwärtige Krise haben sich die linksliberalen Ökonomen jedoch fast ausschließlich auf die Finanzwelt eingeschossen. Natürlich löste die Finanzpanik des Jahres 2008 eine Kettenreaktion aus. Dennoch sollte es die Aufgabe von Ökonomen sein, die Wirtschaft in ihrer Gesamtheit zu verstehen, sowohl die „realen“ als auch die finanziellen Bereiche. Stattdessen führte die fortgesetzte Fixierung auf den Finanzsektor dazu, dass sich die Diskussion immer mehr auf die Restriktionen der Finanzpraktiken verengte. Einige sind zwar durchaus sinnvoll, doch erklärt dieser Ansatz nicht, warum die Märkte in den USA und in Großbritannien überhaupt „finanzialisiert“ – soll heißen: so sehr in Richtung Finanzen verzerrt wurden. Diese Voreingenommenheit in Bezug auf den Finanzsektor spiegelt das populäre Bild vom „rücksichtlosen Banker“ wider. Und wenn es darum geht, gierige Banker abzustrafen, können intellektuelle, linksliberale Ökonomen genau so populistisch sein wie alle anderen.

Darüber hinaus ist die Diskussion darüber, was mit den Finanzmärkten nicht in Ordnung ist, an und für sich entlarvend. Hier nämlich haben die linksliberalen Ökonomen die Theorien ihrer konservativen Gegner kritisiert, etwa die Theorie des effizienten Marktes oder die der rationalen Erwartungen. Obwohl diese Theorien das Konzept des rationalen ökonomischen Menschen vertreten, betont die linke Gegenkritik, dass die unterschiedlichen Akteure der Finanzwelt sich irrational verhielten. Und während die „rationalen“ Theorien eher abstrakt und offen für Kritik sind, ist der linke Ansatz noch schlimmer, unterstellt er doch, dass Menschen im Grunde genommen verstand- und sinnbefreit durchs Leben stolpern.

Einige derer, die die ökonomische Irrationalität betonen, wie etwa der Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky und der behavioristische Ökonom Robert Schiller, verorten sich selbst gern in den Fußstapfen von Keynes Schriften über „tierische Instinkte“. Allerdings ist das ein ziemlicher Umbau, um Keynes den heutigen Herausforderungen anzupassen. Keynes war mehr an strukturellen Kategorien interessiert als an engstirnigen Untersuchungen über die Psychologie von Investoren. Die aktuelle Diskussion über irrationales Verhalten in der Wirtschaft ist eine der zentralen Parabeln, in denen sich die allgemeine antihumanistische Tendenz der Gesellschaft im Bereich der Wirtschaftstheorie manifestiert. Der Ruf der Linken nach umfassenderer staatlicher Intervention mag oberflächlich betrachtet wie eine Rückkehr zu alten sozialdemokratischen Ideen erscheinen, in Wirklichkeit repräsentiert er jedoch etwas Neues, denn der dahinterstehende Impuls ist ein anderer: Während man vom Staat in der Vergangenheit sagte, er sei dazu da, wirtschaftliches Wachstum zu vergrößern, liegt die Betonung heutzutage auf staatlicher Kontrolle, dem Versuch, die destabilisierenden Eigenschaften des Kapitalismus (insbesondere im Finanzsektor) im Zaum zu halten. In dieser Hinsicht ähnelt die Betonung von staatlicher Kontrolle mehr der idealisierten Vorstellung einer statischen Wirtschaft, wie sie von Grünen propagiert wird, als früheren Auffassungen von staatlicher Intervention.

Desorientierung der Rechten

Für konservative Ökonomen wie die der „Chicagoer Schule“ hat die Krise zu einer wahren Sinn- und Seelenkrise geführt. Nach ihren Theorien hätte die finanzielle Kernschmelze nicht stattfinden dürfen. Viele von ihnen haben inzwischen akzeptiert, dass die Bailouts notwendig waren und dass dies die Integrität ihrer Argumente für freie Märkte erschüttert hat. Richard Posner ist einer derer, die eine Kehrtwende vollzogen haben. Posner, ein führender Richter und prominenter Wirtschaftskommentator der Chicagoer Schule, nennt die Krise „ein Versagen des Kapitalismus“. Inzwischen argumentiert er, dass das Bankenwesen an sich instabil sei und staatliche Überwachung und Kontrolle notwendig mache.

Häufig wird unterschätzt, wie sehr die Rezession in den Kreisen der Elite, insbesondere der rechten, den Orientierungsverlust beschleunigt hat. Manche argumentieren, die Erhöhung des Staatsdefizits unter George W. Bush habe die Glaubwürdigkeit der Rechten erschüttert. Ich habe eher den Eindruck, als ob die Flucht in die Bailouts einen wesentlich größeren Schaden angerichtet hat. Bereits vor 2008 hatte sich die vulgäre Ideologie der freien Märkte aus der Ära von Thatcher und Reagan längst verflüchtigt, und es war klar geworden, dass der Staat eine gewichtige Rolle in der Wirtschaft spielen muss. Trotzdem galt der Markt nach wie vor als Garant der Effizienz, sowohl für Konservative als auch für Linksliberale des „dritten Weges“. Konsequenterweise war die Finanzpanik für viele äußerst verwirrend. Wie Gillian Tett Anfang des Jahres in der Financial Times schrieb, hat sie „nicht nur das System mit unvorhersehbaren Verlusten belastet, sie hat auch die Säulen des Glaubens, auf denen der neue Finanzkapitalismus aufbaute, vollständig zusammenbrechen lassen. Dies hat alle und jeden, vom Finanzminister über den Zentralbanker bis hin zum kleinen Pensionsempfänger, ihres intellektuellen Kompasses beraubt und sie verwirrt und benommen zurückgelassen“. Tett zitiert den Moskauer Leiter von Merryll Lynch, Bernie Sucher, mit den Worten: „So etwas habe ich – in Bezug auf die Desorientierung und die Verluste – zuletzt unter meinen Freunden in Russland erlebt, als die Sowjetunion zusammenbrach.“

Konservative waren stets hypersensibel gegenüber angeblichen Attacken auf das kapitalistische System und Entwicklungen in Richtung Sozialismus. Sie nehmen Sarkozy und Stiglitz beim Wort und glauben, dass sich die Marktwirtschaft im Belagerungszustand befindet. Tatsächlich aber sind die Reformen der Linksliberalen eher lauwarm und konzentrieren sich auf die Finanzen, und auch sie nehmen an, dass der Markt weiterhin eine zentrale Rolle spielen muss. Dass Konservative uns heute versichern, die „Zukunft des Kapitalismus“ stehe nunmehr auf dem Spiel, sagt viel mehr über ihre Unsicherheit und Defensivität aus als alles andere. Obwohl es keine wirkliche Alternative zur Marktwirtschaft gibt, fühlen sich die Verteidiger des Marktes bedroht.

In ihrem Hauptartikel, der die Serie „Die Zukunft des Kapitalismus“ beendete, nahm die Financial Times eine offensichtlich ausgewogenere Sichtweise ein: „Kapitalismus existiert in vielen Erscheinungsformen, und seine Hauptthese, dass weniger Regulierung immer besser ist als mehr, hat sich als falsch erweisen. Doch die Haupteigenschaften der freien Marktwirtschaft – Privateigentum, sinnvolle und ausgleichende Regulation und demokratische Politik – bleiben unangefochten. Die größte Krise des Kapitalismus der vergangenen 70 Jahre hat keine ernst zu nehmende alternative Vision einer Gesellschaft hervorgebracht.“ Dieses Statement umfasst sowohl die Stärken als auch die Schwächen der heutigen prokapitalistischen Argumente. Auf der Haben-Seite hat der Kapitalismus, wie die FT richtig bemerkt, das Fehlen einer Alternative. Auf der Soll-Seite ist die Verteidigung des Kapitalismus jedoch eine negative („bleibt unangefochten“), anstatt sich auf das Fundament einer robusten, positiven Formulierung seiner Vorzüge zu stützen. Ein Großteil der konservativen Verwirrung liegt darin begründet, dass die Veränderung der politischen Debatte nur von wenigen wahrgenommen wird. Wenn Konservative den „Sozialismus“ angreifen, dann prügeln sie nur auf einen Strohmann ein. Was sie nicht wahrhaben wollen, ist, dass sich die vorherrschende Kritik gegen Entwicklung und Fortschritt im Allgemeinen richtet. Sie nimmt nur manchmal die Form von Kritik am Markt an, und selbst dann geht es ihr nicht um den Marktmechanismus an sich, sondern um wirtschaftliches Wachstum.

In historischer Hinsicht – zumindest im 20. Jahrhundert – finden der Kapitalismus und Kapitalisten keine Anerkennung in der Kultur. Wie Nick Gillespie in Reason hervorhebt, gibt es nur wenige prokapitalistische Erzählungen: „Können wir uns zumindest darauf einigen, dass es schon etwas sehr Seltsames für eine Kultur ist, vom Kapitalismus abhängig zu sein, das in ihrer eigenen Geschichtsschreibung aber niemals zuzugeben?“ In der heutigen Kultur, in der viele das Prinzip der „Nachhaltigkeit“ zum Credo erheben, trifft diese Auffassung in noch größerem Maße zu. Wenn Stillstand das Ziel ist, wird der Kapitalismus zweifelsohne beschuldigt werden, Überfluss und Konsumkultur hervorgebracht zu haben (ironischerweise selbst dann, wenn er sich in einer Krise befindet und keine konstante Güterversorgung garantieren kann); ebenso wie man ihn für moralisch suspekt halten wird.

Mit solch ungewohnter Kritik konfrontiert, kämpfen die Konservativen nun um die richtige Antwort. Manche sind ausgesprochen defensiv. Eins von vielen Beispielen lieferte der normalerweise als konservativ geltende texanische Bildungsausschuss, der seinen starken Einfluss auf die Gestaltung der dortigen Schulbücher unlängst in die Waagschale warf, um das Wort „Kapitalismus“ aus den Texten zu streichen. „Seien wir doch ehrlich, Kapitalismus hat einen negativen Beigeschmack“, sagte ein konservatives Mitglied des Ausschusses. Auf theoretischer Ebene fordert Yuval Levin in National Affairs, die Verteidigung des Kapitalismus neu zu beleben. Zu seiner Ehrenrettung sei gesagt, dass er zumindest erkennt, dass die populistischen Töne aus gewissen Ecken, die sich gegen „staatliche Übernahmen“ wenden, nicht das Gleiche sind wie Argumente zur Verteidigung des Kapitalismus. Seine Argumentation für den Kapitalismus ist jedoch auf der Erneuerung moralischer Tugenden aufgebaut (hier bezieht er sich auf Adam Smith’s Theorie der moralischen Empfindungen). Dies lässt den Schluss zu, dass er die Meinung vertritt, die Kritik an den moralischen Unzulänglichkeiten des Kapitalismus bedürfe einer Gegenrede, was ebenfalls einer defensiven Haltung entspricht.

Den Konsens herausfordern

Die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft haben unterschiedlich auf die Krise reagiert. Linksliberale und Konservative scheinen bei oberflächlicher Betrachtung geteilter Meinung über die Zukunft des Kapitalismus zu sein, doch teilen sie einen gemeinsamen Mangel an Vertrauen. Die Unterschiede zwischen den Lagern sind real, doch sollte betont werden, dass diese Differenzen die Tatsache verschleiern, dass in der Quintessenz über eine ganze Reihe von Punkten Konsens herrscht:

Vermeide einen Blick auf die Produktion: Sämtliche Parteien teilen die Voreingenommenheit bezüglich Finanzen und Banken und sind misstrauisch, wenn nicht gar feindselig gegenüber dem Konsum eingestellt. Keine jedoch gibt sich sonderlich viel Mühe, die Produktion neu zu überdenken. Die Attacken gegen die Banker haben den Zweck, die Schuldfrage von der Politik wegzulenken (die mindestens genauso viel, wenn nicht mehr Schuld trägt), ebenso, um zu verschleiern, wie schwerwiegend die zugrunde liegenden Probleme des Produktivsektors sind. Wenn die Boni der Banker wirklich der schlimmste Aspekt der Krise sind, dann gibt es auch keinen Grund für eine tiefgründige Debatte über die Wirtschaft – man müsste lediglich irgendeine Schnelllösung herbeiführen, wie etwa höhere Steuern.

Erwarte entbehrungsreiche Zeiten: Alle Seiten sind sich darüber einig, dass die öffentlichen Ausgaben gekürzt werden und der zukünftige Lebensstandard begrenzt, wenn nicht gar zurückgefahren werden müsse. Über das Timing wird zuweilen diskutiert, aber nicht über die Notwendigkeit. Das liegt daran, dass schon lange vor dem Kreditzusammenbruch von den Grünen bis zu den Tories Statements zu hören waren, denen zufolge die materiellen Begierden der Menschen außer Kontrolle geraten seien. Einige betonten, dass Konsum dem Planeten schade, andere, dass er Familien und die Gemeinschaft zerstöre. Als dann die Krise zuschlug, war es viel einfacher, die Menschen für ihr unverantwortliches Schuldenmachen anzuklagen. Jetzt, da wir den Zusammenbruch schon mehr als anderthalb Jahre hinter uns haben, fußen die Forderungen nach Entbehrung und Zurückhaltung auf diesem ersten Argument. Darum gibt es darüber auch keine Debatte, darum zweifelt es auch niemand an.

Nimm eine ängstliche Opferhaltung ein: Seit geraumer Zeit leben wir in einer angsterfüllten Kultur. Die größten Untergangspropheten sitzen bei den Linken, aber Rechte und Linke sind sich darin einig, dass die Welt ein außerordentlich gefährlicher Ort geworden sei. In diesem Kontext wird das Individuum als verwundbares und schwaches Opfer dargestellt. Diese weit verbreitete kulturelle Stimmung hat Auswirkungen darauf, wie die Wirtschaftskrise interpretiert wird. So stellt Michael Moore in seinem Film Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte das Kreditgeschäft als so kompliziert dar, dass der durchschnittliche Arbeitnehmer es im Leben nicht verstehen könne. Dadurch wird die arbeitende Bevölkerung als hilfloses Opfer skrupelloser Geldverleiher präsentiert, anstelle von unabhängigen Individuen, die Verantwortung für ihre persönlichen Finanzen übernehmen können und die sich auch zur Wehr setzen können, wenn jemand versucht, sie auszunutzen. Die Betonung einer komplexen Welt, die uns alle verwundbar macht, unterstützt eine fatalistische und passive Haltung. Wenn wir uns machtlos fühlen, ist es sinnlos zu versuchen, die Wirtschaft zu verstehen und über sie zu debattieren, da wir ja ohnehin nie in der Lage sein werden, ihre Entwicklung zu beeinflussen.

Den derzeitigen Konsens infrage zu stellen bedeutet, jedem dieser Aspekte entgegenzutreten: auf der Bedeutung der Produktion (und der Innovation in der Produktion) zu bestehen; der Enthaltsamkeit zu widersprechen und sich auf die Expansion der Wirtschaft zu konzentrieren, anstatt ihre Horizonte einzugrenzen; und der Darstellung entgegenzuwirken, die Welt sei unbegreiflich und schrecklich; und eine aktive, problemlösende Einstellung zu wirtschaftlichen Fragen zu unterstützen.

Um diesen Konsens tatsächlich anzugreifen, müssen wir anerkennen, dass der heutige „Antikapitalismus“ inzwischen die größte Hürde für den Fortschritt darstellt. Wirklich Progressive sollten sich darauf konzentrieren, gegen diesen „Antikapitalismus“ und seinen vergiftenden, antihumanistischen Beigeschmack anzugehen, wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, die Gesellschaft fortzuentwickeln in eine Zukunft des Reichtums. Gegen die Prediger der Politik der Grenzen sollten wir argumentieren, dass die Möglichkeiten für die Menschheit grenzenlos sind. Die gute Nachricht ist, dass die ökonomischen Begrenzungen, denen wir uns gegenübersehen, in der Mehrzahl von uns selbst geschaffen wurden und in erster Linie dem Versagen unserer Vorstellungskraft entspringen – was bedeutet, dass es in unserer Macht liegt, gegen dies etwas zu unternehmen.

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