04.08.2021

Kampf der Kulturen

Von Detlef Brendel

Titelbild

Foto: John Duffy via Flickr / CC BY 2.0

Freie Gesellschaften leben von einer Diskussionskultur, deren Voraussetzung gegenseitiger Respekt ist. Cancel Culture und bevormundende Sprachpolitik kündigen dieses respektvolle Verhältnis auf.

Es liegt im Wesen einer auf Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt basierenden demokratischen Gesellschaft, dass ihre Prinzipien verteidigt werden müssen, weil sie wegen eben dieser Vorzüge nie ungefährdet ist. Besorgt wird auf die politisch rechte Seite gesehen, ob von dort Gefahr droht. Ebenso argwöhnisch wird das politisch linke Spektrum beobachtet und analysiert. Zusätzlich gibt es, wo auch immer diese zu verorten sind, Verschwörungstheoretiker, Wutbürger und andere Unruhestifter mehr, die als mögliche Risiken verdächtigt werden können. Diese konventionellen Blickwinkel und Betrachtungen reichen heute nicht mehr aus, um die Bedrohungen des öffentlichen Diskurses zu erkennen, die sich unabhängig von der gewohnten Rechts-Links-Systematik entwickeln. Es sind nicht nur die offenen politischen Auseinandersetzungen, die durchaus legitim das Klima der Demokratie prägen, sondern die Art und Weise, wie sich die Praxis der Auseinandersetzungen in der Gesellschaft entwickelt hat. Der Diskurs beginnt der Agitation zu weichen. Dynamisch entwickelt sich hier eine Spaltung.

Daher müssen wir auch Entwicklungen in Frage stellen, die aktuell als modern und fortschrittlich gelten. Die traditionelle Analyse versperrt den Blick auf signifikante Veränderungen in der Gesellschaft, die sich unabhängig von tatsächlichen oder gefühlten Parteizugehörigkeiten entwickeln. Die wirklichen Risiken entstehen nicht an den Rändern des politischen Spektrums, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Dort beobachten wir einen moralisch aufgeladenen Stellungskrieg, bei dem sich alle Seiten immer tiefer in ihren Schützengräben verschanzen. Diejenigen, die sich als die Guten fühlen, stehen den Bösen, die sich ebenfalls für Gute halten, gegenüber. Wer zu den Bösen gehört, wird jeweils von den Guten definiert.

Themen werden zunehmend dadurch bestimmt, wer sich von wem benachteiligt, beleidigt, angefeindet, diskriminiert oder herabgesetzt fühlt. Emotionalität dominiert über Rationalität. Die Gefahr dieser Auseinandersetzungen liegt darin, dass sie so subjektiv sind. Individuelle Empfindungen, Meinungen oder Interpretationen einzelner dürfen nicht zu einer normierenden Beschränkung aller werden. Sonst wird ein Klima der Unsicherheit geschaffen, das die notwendige Freiheit der demokratischen Meinungsbildung und den rationalen gesellschaftlichen Diskurs behindert sowie eine weitreichende Zensur fördert. Die besondere Gefahr dieser mentalen Entwicklung besteht darin, dass die neuen Spielregeln auf den ersten Blick positiv und zustimmungsfähig erscheinen. Gendergerechte Sprache, politisch korrektes Verhalten, die Vermeidung von eventuell als Diskriminierung zu empfindenden Formulierungen – das dient doch hehren Zielen. Oder nicht?

„Die wirklichen Risiken entstehen nicht an den Rändern des politischen Spektrums, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Dort beobachten wir einen moralisch aufgeladenen Stellungskrieg, bei dem sich alle Seiten immer tiefer in ihren Schützengräben verschanzen.“

Wir müssen uns mit Political Correctness, mit Genderismus, der Umgestaltung und Überwachung von Sprache, den überall lauernden Fallen einer möglichen Diskriminierung und mit Phänomenen wie Cancel Culture beschäftigen, um die tatsächlichen Gefährdungen zu erkennen. Der Begriff Cancel Culture ist dabei falsch und irreführend. Er signalisiert, dass dieses Vorgehen etwas mit Kultur zu tun hat. Das Gegenteil ist der Fall. Cancel Culture ist eine brutale Einschränkung von Menschen und Kultur, die weit entfernt ist von Moral, Anstand und Sittlichkeit. Aber der Begriff Kultur ist dehnfähig. Ein Behältnis mit Seife und Zahnbürste gilt auch als Kulturbeutel. Verstehen wir Kultur als Summe menschlicher Leistungen, die das Zusammenleben in einer Gesellschaft prägen, insbesondere auch Sprache und Kunst, ist die Agitation durch Diskriminierung, Blockade und Bedrohung keine Leistung, sondern pure Destruktion.

Die Kommunikation in der spezifischen Form des Hineinpostens von Meinungen isoliert am Computer sitzender Individuen in die sozialen Medien, das anonyme Liken und die Bildung von Schwarmverhalten in virtuellen Netzen fördern die Verfestigung vorgefasster und in Häppchen dargebotener Meinungen und die Polarisierung. Diese Entwicklung den Online-Medien anzulasten, greift zu kurz. Diese Plattformen begünstigen das Verhalten. Verantwortlich für die Inhalte und die neue Form der Massenkommunikation sind und bleiben allerdings die Nutzer. Es sind deren Verhaltensweisen, die der Konfrontation den Vorzug gegenüber dem Dialog geben. Die zu einer Demokratie gehörende gesunde Streitkultur, der Schlagabtausch mit Argumenten statt mit Vorwürfen, wird pervertiert.

Bevormundende Sprachkosmetik

Der Kulturkampf darüber, welche Wörter verwendet werden dürfen und ob in der Mitte eines Wortes der Doppelpunkt zu stehen hat, nimmt zu. Ein gutes Beispiel ist der vom Berliner Senat vorgelegte „Leitfaden für Mitarbeitende der Berliner Verwaltung zum diversitysensiblen Sprachgebrauch“. Dieses Diktat im Sinne einer kaum noch nachzuvollziehenden Political Correctness treibt seltsame Blüten. Der Begriff „Asylbewerber“, eigentlich eine sinnvolle Beschreibung des Status der betroffenen Menschen, soll künftig durch „Schutzbedürftige“ oder „geschützte Personen“ ersetzt werden. Geschützt sollte eigentlich jeder Bundesbürger sein. Auch „Ausländer“ wird es künftig nicht mehr geben. Wie feinsinnig doch die Vermutung einer möglichen Diskriminierung ist. Diese werden nun als „Einwohnende ohne deutsche Staatsbürgerschaft“ bezeichnet.

„Individuelle Empfindungen, Meinungen oder Interpretationen einzelner dürfen nicht zu einer normierenden Beschränkung aller werden.“

An die angeblich politisch korrekte Bezeichnung „Menschen mit Migrationshintergrund“ haben sich die Einwohnenden mit deutscher Staatsbürgerschaft inzwischen gewöhnt. Aber auch der Migrationshintergrund scheint eine Diskriminierung zu sein. Künftig sollen aus ihnen deshalb „Menschen mit internationaler Geschichte“ werden. Eindrucksvoll dokumentiert diese Terminologie, dass bei der krampfhaften Suche nach nichtdiskriminierenden Begriffen der eigentliche Zweck, die verständliche Benennung, hinter eine zweite Absicht, das Signalisieren von Wertvorstellungen, zurücktritt. Das, was hier an ideologischer Überfrachtung von Sprache betrieben wird, ist Ausdruck der Erziehung durch den Gouvernantenstaat.

Diese Regulierung der Sprache nutzt auch nicht jenen, deren vermeintlicher Befindlichkeit man Rechnung zu tragen vorgibt. Die Bezeichnung eines Menschen als geschützte Person, die eine internationale Geschichte hat, verhindert weder Diskriminierung noch Rassismus. In der gesellschaftlich notwendigen Diskussion müssen die Hirne der Menschen erreicht werden, nicht deren Münder und Schreibhände.

In diesen Kontext gehört auch der Gender-Wahnsinn, der inzwischen sogar die Duden-Redaktion erreicht hat. Im Online-Wörterbuch des Verlags ist das generische Maskulinum bei Personenbezeichnungen eliminiert worden. Begriffe wie Mieter, Schüler oder Arzt hätten keine geschlechtsneutrale Bedeutung, sondern müssten, so der Verlag, durch neue Bedeutungsangaben präzisiert werden. Daher gibt es nun statt eines Wortartikels jeweils zwei, einen für die männliche und einen für die weibliche Form. Einen für den Bürger und einen für die Bürgerin. Einen für den Menschen und einen für die Menschin. Noch ist hier unter „Gebrauch“ vermerkt „selten, meist scherzhaft“, aber das kann sich ja ändern.

Die Unkultur der Cancel Culture

Für den gegenwärtig zu erlebenden und zu erleidenden Kulturwandel spielt die „Cancel Culture“ eine zentrale Rolle. Cancel Culture ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, dessen Tragweite besorgniserregende Ausmaße angenommen hat. Cancel Culture ist nicht nur eine Meinungsstornierung, sondern eine massive Unterdrückung von unerwünscht erscheinenden Meinungen, die auf radikale Ausgrenzung abzielt. Die sich selbst als die Guten empfindenden Säuberungskräfte kämpfen gegen diejenigen, die sie für die Schlechten oder Bösen halten. Die Zuschreibung des Bösen erfordert dabei keineswegs den Nachweis klarer Sachverhalte, sondern begnügt sich in der Regel mit Assoziationen und Interpretationen.

„Die Bezeichnung eines Menschen als geschützte Person, die eine internationale Geschichte hat, verhindert weder Diskriminierung noch Rassismus.“

Zur Radikalität von Cancel Culture gehört, dass nicht nur kritisiert wird, sondern nach Ausgrenzung und Diffamierung gestrebt wird. Eine Begründung dieser massiven Zensur lässt sich immer konstruieren. Der Anschein von Blasphemie, ein sexistischer Gedanke, eine nicht ausreichende Würdigung der Betroffenheit bestimmter Minderheiten, eine religionskritisch erscheinende Formulierung reichen aus, um als unerträglich klassifiziert zu werden. Mitunter reicht auch schon, dass der Anzugreifende bei bestimmten Themen eine nicht ausreichend erscheinende „Haltung“ gezeigt hat, zum Beispiel, dass er es versäumt hat, sich von einem durch Diffamierung als aussätzig Gekennzeichneten zu distanzieren.

Klima der öffentlichen Denunziation

Die Folgen dieses Klimas der öffentlichen Denunziation sind gesellschaftlich relevant. Unter dem Titel „Grenzen der Freiheit“ zeigt eine 2019 publizierte Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach, dass die deutsche Bevölkerung die Meinungsfreiheit, als die am wichtigsten empfundene Garantie der Verfassung, heute nicht ohne Einschränkungen gewährleistet sieht. Fast zwei Drittel der Menschen sind überzeugt, man müsse darauf achten, zu welchen Themen man sich wie äußert, weil es ungeschriebene Gesetze gebe, welche Meinungen akzeptabel und zulässig sind. Dabei wird zwischen öffentlichem Raum und privatem Bereich deutlich differenziert. Im Freundes- und Bekanntenkreis meinen 49 Prozent, ihre Meinungen frei äußern zu können. Dieses Empfinden sinkt im öffentlichen Raum auf nur noch 18 Prozent. 1 Die Einschränkung der gefühlten Meinungsfreiheit wird mit dem Eindruck verbunden, dass sich die soziale Kontrolle verstärkt hat und individuelle Äußerungen und Verhaltensweisen zunehmend unter Beobachtung stehen. Ein zufriedenstellendes Gefühl gelebter Freiheit ist das nicht.

Political Correctness trägt zu Unbehagen und Unverständnis bei. Wenn Begriffe wie „Ausländer“ durch „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder sogar durch „Menschen mit internationaler Geschichte“ ersetzt werden, wenn die geforderte Genderneutralität es verlangt, in Anreden auch das Dritte Geschlecht zu adressieren, ruft das Unverständnis hervor. Wenn Literatur korrigiert wird, um aktuellen Sensibilitäten und Normen zu entsprechen, stimmen nur noch rund 14 Prozent der Befragten zu. Als Beispiel wird in der Allensbach-Studie Astrid Lindgrens „Negerkönig“ in Pippi Langstrumpf genannt, der politisch korrekt nur noch als „Südseekönig“ zu akzeptieren wäre. 2

„Der Anschein von Blasphemie, ein sexistischer Gedanke, eine nicht ausreichende Würdigung der Betroffenheit bestimmter Minderheiten, eine religionskritisch erscheinende Formulierung reichen aus, um als unerträglich klassifiziert zu werden.“

In den 2000er Jahren haben ein englischer und ein französischer Verlag, die mit der Publikation der „Fünf Freunde“-Reihe von Enid Blyton sehr erfolgreich waren, dem gefühlten Zeitgeist geschuldete Anpassungen vorgenommen. Die Kinderbücher wurden nicht nur grammatikalisch nivelliert, um der Leserschaft eine vereinfachte Rechtschreibung zur Erleichterung der Lektüre zu bieten. Moral-Lektoren reinigten die Texte auch im Hinblick auf politisch eventuell unkorrekte Formulierungen, statteten die Freunde mit Mobiltelefonen aus, damit sie sich bei der Schatzsuche nicht verirrten, und strichen im Sinne von Entchristlichung eine Passage, in der die Freunde zur Kirche gehen. Der Zauber der Originaltexte von Enid Blyton hat dabei offenbar Schaden genommen. Denn die jugendlichen Leser (oder ihre Eltern) haben an der Ladenkasse abgestimmt. Sie haben durch fehlende Käufe die Auflagen spürbar sinken lassen. Diese Jugend macht Mut. Sowohl in England als auch in Frankreich sollen die Bücher wieder in die Originalfassung gebracht werden. Die Freunde dürfen jetzt sogar wieder Gluten essen. 3

Astrid Lindgren, aus deren Fantasie der Negerkönig stammt, hat dabei noch Glück, dass von Erregten der Cancel Culture nicht gefordert wird, ihre Bücher wegen rassistischer oder diskriminierender Kreativität auf den Index zu setzen. Der Autorin von Harry Potter, Joanne K. Rowling, geht es da anders. Verschiedenen öffentlichen Äußerungen und ihrem Roman „Troubled Blood“ will man entnommen haben, dass sie etwas gegen Transgender hat. (Es trifft nicht zu.) Ob das zutrifft oder nicht, soll an dieser Stelle unerheblich sein. Es mag ihre Meinung sein und wer anderer Meinung ist, kann auf den Kauf ihrer Bücher verzichten. Erheblich ist dagegen, dass mit allen Mitteln versucht wird, die Autorin zu diffamieren und einzuschüchtern und es sogar schon zu öffentlichen Bücherverbrennungen gekommen ist. Hasskommentare in den Sozialen Medien sollen die Autorin mundtot machen. Unbedingtheit und Undifferenziertheit derjenigen, die meinen, die Regeln für Menschen und auch für Kunst festlegen zu können, führen zu einer Radikalität, die keinen sachlichen Diskurs mehr kennt, sondern auf Diskreditierung und Ausgrenzung abzielt.

Bücherverbrennungen wegen politischer, religiöser, weltanschaulicher oder moralischer Einwände haben eine lange Tradition. Die demonstrative Zerstörung, die während der Inquisition sicher einen Höhepunkt hatte, sollte eigentlich spätestens nach den staatlichen organisierten Aktionen während der Zeit des Nationalsozialismus ihr Ende gefunden haben. Die Praxis der Bücherverbrennung existiert allerdings immer noch, wenngleich heute für das Zündeln virtuelle Scheiterhaufen zur Verfügung stehen, die auch ohne Feuer perfekte Vernichtung ermöglichen.

„Die Praxis der Bücherverbrennung existiert allerdings immer noch, wenngleich heute für das Zündeln virtuelle Scheiterhaufen zur Verfügung stehen, die auch ohne Feuer perfekte Vernichtung ermöglichen.“

Seismograf Kunst

Cancel Culture ist salonfähig geworden und hat sich in allen Bereichen des Lebens etabliert. Boykott wird zu einer weitreichenden Bedrohung für eine auf Meinungsfreiheit basierende Gesellschaft. Dimensionen und Konsequenzen sind in der Kunst abzulesen, die als Seismograf für die fatale Entwicklung dienen kann, auf Grundlage moralischer Gesinnungsprüfung des Künstlers seine Arbeit zu zensieren. Ein straffällig gewordener Künstler ist natürlich vor Gericht zu bringen. Durch anschließendes Canceln das von ihm geschaffene Kulturgut hinter Schloss und Riegel zu bringen, ist allerdings verhängnisvoll.

Auch unter Künstlern hat es schon immer Verbrecher gegeben. Bei der Bewunderung von Werken Benvenuto Cellinis oder Caravaggios denkt niemand an die von ihnen begangenen Morde. Der von seinen Ehefrauen als Sadist charakterisierte Pablo Picasso gilt nach wie vor als genialer Künstler. Gauguin-Bilder erzielen Spitzenpreise auf dem Kunstmarkt; obwohl er ein Kind geheiratet hatte. Die Kunst dieser Künstler hat also noch Glück. Vielleicht weil deren Urheber schon tot sind und deshalb nicht durch Ausstellungsverbote sozial getötet werden müssen.

Bei lebenden Künstlern setzt die Wucht der Zensur-Maschinerie ein. Beispiele sind zahlreich. Nach gegen ihn erhobenen Belästigungsvorwürfen ist der Hauptdarsteller der Netflix-Fernsehserie „House of Cards“, Kevin Spacey, aus der sechsten Staffel herausgeschnitten worden. Der von ihm gespielte Frank Underwood sei verstorben, hieß es drehbuchgerecht. Der mit Spacey gedrehte Film „Gore“ wurde nicht gezeigt und aus dem bereits fertiggestellten Spielfilm „Alles Geld der Welt“ wurde der Schauspieler entfernt und alle entsprechenden Szenen wurden mit Christopher Plummer nachgedreht.

Bei der Premiere des Films „Intrige“ von Roman Polanski riefen Feministinnen zum Boykott auf und blockierten die Kinos, weil der Film von einem „Vergewaltiger auf der Flucht“ geschaffen worden sei. Placido Domingo, dem im Zuge der MeToo-Debatte teils Jahrzehnte zurückliegende sexuelle Belästigungen vorgeworfen worden waren, musste als Chef der Oper in Los Angeles zurücktreten und ankündigen, nicht mehr an der Met in New York zu singen. Auch seine Auftritte an der Deutschen Oper Berlin wurden abgesagt, weil diese gegenüber den Frauen nicht mehr vertretbar seien. Die Hollywood-Schauspielerin Gina Carano wurde nach einer Kampagne #FireGinaCarano mit der Begründung gefeuert, dass ihre Social-Media-Posts, in denen sie konservative politische Positionen verteidigte und Corona-Maßnahmen kritisierte, „Menschen aufgrund ihrer kulturellen und religiösen Identitäten verunglimpfen“. 4 Der bisexuelle Entertainer Kay Ray darf nach 25 Jahren nicht mehr im Schmidt-Theater auf St. Pauli auftreten, weil er sich über den Islam lustig machte.

„Man stelle sich vor, dass Historiker Belege für pädophile Neigungen von Michelangelo fänden. Wäre nach über 500 Jahren sein Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle weiß zu streichen?“

Schauspieler, die sexuelle Vergehen begangen haben oder begangen haben sollen, werden aus Filmen herausgeschnitten. Bewunderte Filme eines Regisseurs werden wegen eines über 40 Jahre zurückliegenden Vergehens boykottiert. Einem Tenor, dessen Stimme und Interpretationen nach wie vor grandios sind, werden Auftritte verweigert. Die Zensur stellt die Dirigenten, Fotografen, Maler und Autoren kalt. Sie nimmt ihnen die Plattform für ihre Arbeit und verbannt sie aus der für einen Künstler entscheidenden öffentlichen Wahrnehmung.

Dieser Umgang mit den Künstlern ignoriert deren Würde. Es ist keine kritische Auseinandersetzung mit Kunst, sondern das Bestreben, Person und Persönlichkeit eines Künstlers zum Verschwinden zu bringen. Es ist eine moderne Form der Inquisition, bei der Ankläger und Richter in Personalunion Prozess und Vollstreckung erledigen. Dazu passt die Warnung von Heinrich Heine in seiner Tragödie „Almansor“. Den Moslem Almansor lässt er bei einer Koranverbrennung sagen: „Das war ein Vorspiel nur. Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“

In der Kunst gab und gibt es immer Werke, die jemand als obszön, blasphemisch oder unmoralisch empfindet. Er hat die Freiheit, sie zu ignorieren. Er hat nicht das Recht, sie zu vernichten. Zur Freiheit von Kunst gehört auch die Freiheit, dass sie das ihr gewogene Publikum suchen darf.

Auch für Kunst sind offenbar Verbraucherschutzbestimmungen einzuhalten. Bei diesen geht es allerdings nicht um den Wert einer Operninszenierung, eines Films oder eines Bildes. Es geht um die Keimfreiheit der Menschen, die diese Werke produziert haben. Man stelle sich vor, dass Historiker Belege für pädophile Neigungen von Michelangelo fänden. Wäre nach über 500 Jahren sein Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle weiß zu streichen? Hier ist beruhigend, dass diese Kapelle zum apostolischen Palast gehört. Der Vatikan muss in dieser Hinsicht aktuell ganz anderen Angriffen widerstehen. Und auch das hat hier Tradition. Papst Paul III. stellte Cellini für drei Morde und zahlreiche andere Vergehen einen Freibrief aus, weil er dessen Kunst schätzte. Soweit darf die Freiheit der Künstler nicht gehen. Sie heute allerdings auszuradieren, weil ein Künstler sich nicht konform verhalten hat, ist ein verhängnisvoller Weg in die Unfreiheit. Kunst ist an dieser Stelle nur der Seismograf. Die Konsequenzen aus dieser die Meinungsfreiheit limitierenden Spaltung der Gesellschaft machen die zwei Drittel der Menschen transparent, die überzeugt sind, sich nicht mehr öffentlich zu jedem Thema frei äußern zu können.

Die Furcht vor Diskriminierung als Ausdruck eines politisch nicht korrekten Verhaltens ist zu einem Motor der Diskriminierung geworden. Jeder hat aber das Recht auf seine Meinungen. Jeder in einer Demokratie lebende Mensch hat auch das Recht, seine Meinungen zu artikulieren. Diese Freiheit schließt die Pflicht ein, die Meinungen anderer zu akzeptieren. Man kann die Meinungen anderer angreifen, man kann darüber diskutieren, man kann, aber muss nicht einen Konsens anstreben. Das sind Meinungsfreiheit und Diskussionskultur, von der freie Gesellschaften leben. Voraussetzungen dafür sind allerdings Sachargumente und gegenseitiger Respekt. Das ist Kultur.

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