20.10.2020
„Je länger Grundrechtseingriffe dauern, desto folgenreicher sind sie“
Interview mit Monika Frommel
Die Coronapolitik ist überzogen, findet Juraprofessorin Monika Frommel. Man arbeitet mit irreführenden Zahlen, um den Ausnahmezustand zu verlängern. Ein neuer Lockdown muss unbedingt vermieden werden.
Die Meinungen darüber, wie Covid-19 zu begegnen ist, gehen weit auseinander. Nicht nur unter Medizinern gibt es unterschiedliche Einschätzungen, wie die Pandemie am besten bekämpft werden sollte. Auch andere Experten haben Zweifel an einer zu starken Orientierung an dem Primat der Virusbekämpfung angemeldet. Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen und Juristen weisen auf die negativen Auswirkungen einer zu starken Beschränkung des öffentlichen Lebens hin. Haben die Regierungen im Frühjahr überreagiert?
Bei Unwissen ist ein Worst-Case-Szenario legitim. Aber vorrangig ist dennoch, die Basis verlässlicher Daten zu steigern. Dies ist bei den beteiligten Intensivmedizinern geschehen. Deren Lernkurve und auch deren internationaler Austausch waren beachtlich. Die Politik setzt jedoch zu sehr auf virologische Kenntnisse und war und ist noch immer fixiert auf die am wenigsten verlässlichen Daten: die sog. „Infektionszahlen“. Dabei kann man nur die Viruslast im Rachen „positiv“ oder „negativ“ testen. Haben sehr viele Menschen eine solche Viruslast, dann ist das sicher ein Grund zur Vorsicht. Aber ob sie tatsächlich erkranken, hängt von vielen Faktoren ab, letztlich von der Qualität des präventiven, Vorerkrankungen erkennenden Gesundheitssystems.
Kurven im zeitlichen Längsschnitt, die nicht die Zahl der Tests einrechnen – was bei den täglich mitgeteilten Zahlen des Robert Koch Institut RKI leider der Fall ist – sind letztlich willkürlich, weil die mitgeteilte R-Zahl von der Intensität der Tests abhängig, also nichts über die tatsächliche Quote der Erkrankungen besagt. Die Quote der positiven Befunde (Bezugsgröße: die Zahl aller Tests) wird nicht mitgeteilt. Sie ist aber erheblich gesunken und somit eine abhängige Variable, die bezogen ist auf die Zahl und die Population der Getesteten (jung/alt, Symptome oder Reihentests, vorerkrankt oder nicht). Es kommt also darauf an, wer und warum getestet wird. Im März war die Quote noch sehr hoch und nur Erkrankte mit Symptomen wurden erfasst. Bei den Urlaubsheimkehrern ist sie sehr gering, zumal auch die absolute Zahl der Reihentests enorm gesteigert worden war.
„Überzogen war es von Anfang an, Kitas zu schließen und Grundschulen nicht offen zu halten.“
Überzogen war es von Anfang an, Kitas zu schließen und Grundschulen nicht offen zu halten. Auch bestand vor Ostern keine konkrete Gefahr bei Buchläden, Bibliotheken, Blumenläden und Kinderspielplätzen, da das Virus nicht über Anhaftungen an Flächen, sondern durch Aerosole, also von Rachen zu Rachen übertragen wird. Kinder haben, selbst wenn sie infiziert sein sollten, eine kleinere Viruslast, sind also weniger ansteckend und wegen ihres plastischen Immunsystems eher nicht gefährdet, zu erkranken.
Was hätte man stattdessen tun sollen?
Das Robert-Koch-Institut (RKI) hätte sofort Studien in Auftrag geben müssen, welche wie später Prof. Streeck (Bonn, Heinsberg-Studie) und die süddeutsche Kinderstudie der Unikliniken wichtiges Wissen erbringen. Die Zahl der zu befürchtenden Toten wurde nach dem Schock von Bergamo erheblich überschätzt. Dies hätte korrigiert werden können.
Hätte die Politik interdisziplinäre Berater gehabt, hätte sie Risiken realistischer einschätzen können. Sie hätte sich möglichst schnell Wissen verschaffen sollen über die verschiedenen Formen der Erkrankung, die Quote der schweren Erkrankungen und das Risiko zu sterben. Wird die Letalität überschätzt, betreibt man eine kontraproduktive Politik der Angst. Kennt man hingegen die Risikogruppen, können sie auch besser geschützt bzw. ihr Risiko realistischer eingeschätzt werden.
Aber Schutz ist nicht nur als Freiheitsbeschränkung zu sehen, sondern muss eigenverantwortlich selbst gestaltet werden. Die Prävention hätte mehr auf Freiwilligkeit setzen müssen. Es hätte z.B. genügt, darauf hinzuweisen, dass es zu wenige Masken gibt, diese sich aber jeder und jede nähen kann. Sie bietet keinen absoluten Schutz, verringern aber die Viruslast, was einen großen Vorteil bietet. Punitive Modelle sind nicht nachhaltig. Sie produzieren Angst, aber keine Einsicht – und sie provozieren Widerstand bei manchen Menschen.
Langfristig war Schweden also besser, wenn man davon absieht, dass die Alten- und Pflegeheime dort im März noch sehr große Fehler gemacht haben. Dies hat Schweden zwar sehr schnell korrigiert, aber die deutschen Medien haben ihre zu negative Berichterstattung nicht angepasst. Sie betrachten nicht die sehr präzisen Über-/Untersterblichkeitstabellen, die Euromomo zur Verfügung stellt.
„Virologen sind zwar wichtige Berater, haben aber einen Tunnelblick.“
Haben Virologen also eine zu große Rolle gespielt?
Die Rolle des Gesundheitssystems und der Pflege, auch der Gesundheitsprävention (Vorerkrankungen), ist sehr groß und letztlich ausschlaggebend für den Erfolg oder Misserfolg einer Strategie. Virologen sind zwar wichtige Berater, haben aber einen Tunnelblick. Sie verstehen viel von Viren, aber wenig von Volksgesundheit. Sie können den Nutzen und Schaden der rein virologisch motivierten Ratschläge nicht abschätzen, da sie isoliert auf einen Teilaspekt schauen. Sie sind also nur bedingt gute, sicher nicht die besten Berater. Erst wenn man verschiedene Berater einbezieht und konkrete Studien zur Verfügung hat und sie auch zu interpretieren weiß – was immer noch nicht ausreichend gut der Fall ist –, kann man die Letalität und die konkreten Gefahren bestimmen. Dies zu versäumen, war grob fahrlässig. Die Prognose Ende März taugt nicht mehr für die Strategie zu Beginn der kalten Jahreszeit. Die Bundes- und Landes-Verordnungen müssten evaluiert und neu angepasst werden. Stattdessen dominiert eine pauschale Besorgnis.
Wir hätten etwa sehr viel früher wissen können, dass Kinder und junge Menschen eher nicht gefährdet sind und auch bei Erwachsenen die Letalität des Virus nur bei Vorerkrankungen und Adipositas beachtlich ist. Vielfältige Stichproben hätten ein kombinierbares Wissen schaffen und über die quantitativen Verhältnisse zwischen den sog. „Infizierten“ (besser: den Trägern einer Viruslast) und den konkret Gefährdeten, den Erkrankten, informieren können. Dies wurde nicht oder nur sehr unzureichend beachtet. Prof. Streeck hatte es sehr schwer, mit seiner Aufklärung durchzudringen. Stattdessen starrten Medien und Politik auf die methodisch unzuverlässige Kurve der sog. „Infizierten“. Dieser Tunnelblick ist aktuell, mit Beginn der kälteren Jahreszeit, immer noch zu dominant, um rational zu reagieren.
Gibt es einen Zeitpunkt, an dem (aus freiheitlicher Sicht) hätte gegengesteuert werden müssen?
An Ostern endete der erste Shutdown. Damals hätte die Lage neu bewertet werden müssen. Dies erfolgte höchst unzureichend. Die Bundesregierung hätte schon damals realistische Prognosen interdisziplinär erarbeiten lassen müssen statt nur auf Zahlenverläufe der „Infizierten“ zu schauen. Solche Berechnungen haben nämlich den Nachteil, dass sie willkürlich sind, weil die Art und Häufigkeit der Testung nicht konstant bleiben, so dass die Zahlen weder aktuell noch im Längsschnitt verlässlich sind, also nicht einmal Hotspots nachvollziehbar gezeigt werden können. Sie bieten sich jedoch für politische Manipulationen geradezu an. Jedem halbwegs mit Statistik vertrauten Beobachter ist klar, dass Tests (etwa nach Urlaubsreisen) eine wachsende „Gefahr“ nur suggerieren, die in Wirklichkeit entweder nicht besteht oder – falls tatsächlich die Risiken steigen sollten – jedenfalls so nicht nachgewiesen werden kann. Auch kann man umgekehrt durch sehr wenige Tests die Risiken optisch verharmlosen. Das ist fatal und zerstört das Vertrauen in eine Politik, die ja sehr bequem mit den exekutiven Mitteln des Ausnahmezustandes (Bundes-/Landes-Verordnungen und kommunale Verfügungen) reagieren kann.
Was ist auf Regierungs- und/oder Verwaltungsebene schief gelaufen?
Es hat eine Verfestigung und Verstetigung der Ausnahmeregelungen stattgefunden. Außerdem wurden furchtsame Menschen ohne Not stark verunsichert und unangemessen furchtlose Menschen geradezu ermuntert, sich in pauschaler Kritik abzuschotten bis hin zu Verschwörungsideologien.
„Die Medien wurden im März gebeten, Volkspädagogik zu präsentieren.“
Wie ist es zu dem „Tunnelblick" gekommen?
Die Medien wurden im März gebeten, Volkspädagogik zu präsentieren. Das mag bis Ostern verständlich gewesen sein, aber auf Dauer vernebelt zu viel Pädagogik das Urteilsvermögen aller Beteiligten. Die einen haben zu viel Angst, andere werden sorglos.
Nun sind auch die Proteste gegen die Maßnahmen – zumindest zu einem erheblichen Teil – durch schräge Erklärungen (Verschwörungstheorien usw.) geprägt. Was ist hiervon zu halten?
Mit einem gewissen Prozentsatz von Uneinsichtigen ist immer zu rechnen. Ich sehe darin keine Gefahr, die mit „mehr vom selben“ vermindert werden kann. Aber es besteht mittlerweile die Neigung, auch berechtigte Kritik vorschnell als „Verharmlosung“ zu brandmarken. Dann wird eine demokratische Debatte zum Glaubenskrieg mit fatalen Folgen.
Haben Sie eine Idee, wie wir aus dem gegenwärtigen Zustand – einer immer noch stark reduzierten Öffentlichkeit und allgemeinen Verunsicherung bezüglich der Strategie – wieder herauskommen zu können?
Die stark reduzierte Öffentlichkeit kann nur durch mutige und fachlich belegte Kritik Einzelner wieder geöffnet werden. Nötig sind mehr Gelassenheit und mehr Verständnis für statistische Zusammenhänge. Hilfreich sind insbesondere Gerichtsurteile, welche die Verantwortlichen dazu zwingen, besser und durch Tatsachen zu belegen, ob und wo konkrete Gefahren anzunehmen sind und wo es nur abstrakte Risiken gibt. Zwar ist es nicht die Aufgabe von Gerichten, die ja nur Einzelfälle entscheiden können, die Politik zu korrigieren. Aber Gerichte können immerhin darauf aufmerksam machen, dass einzelne Maßnahmen weder geeignet noch erforderlich (Maßstab: hätte es mildere Mittel gegeben?) noch verhältnismäßig sind.
„Die Pleitewelle wird kommen. Die Mittel des Sozialstaates sind nicht unbegrenzt.“
Leider hat sich jedoch fast die gesamte Gesellschaft und nahezu alle Medien bislang mit sehr pauschalen Pro- oder Contra-Positionen begnügt: weiß oder schwarz statt folgenorientierter Klugheit. Wer in der Vergangenheit Maßnahmen kritisierte, wurde und wird immer noch zu schnell als „Leugner“ diffamiert. Es fehlen fundierte Analysen. So wurde die Corona-Politik zum Glaubenskrieg. Vielleicht gelingt es in Zukunft, pragmatischer zu denken und dosierter zu handeln. Spätestens wenn erkannt wird, dass hohe Infektionszahlen in der jetzigen Phase nicht zwangsläufig bedeuten, dass Krankenhäuser überfüllt und Menschen sterben, sondern nur die Tatsache abbilden, dass das Virus schon im Frühjahr weit verbreitet war und auch in Zukunft nicht verschwinden wird, könnten neue Perspektiven wieder eine Chance bekommen.
Denn je länger Grundrechtseingriffe dauern, desto folgenreicher sind sie. Die Pleitewelle wird kommen. Die Mittel des Sozialstaates sind nicht unbegrenzt. So gesehen könnten neue Töne die Debatten bestimmen und auch Gerichte zwingen, die Maßnahmen strenger prüfen. Bürger müssen Gerichte aber anrufen, und kluge Juristen sollten sie – ggf. ehrenamtlich – beraten. Dann könnten sich neue Netzwerke bilden, welche die eher sinnlosen, weil zu grob argumentierenden Corona-Demonstrationen der letzten Monate ablösen und sich fachkundig den Diffamierungskampagnen entziehen.
Nicht nachvollziehbar sind zu gravierende Einschnitte in die wirtschaftliche Stabilität. Politiker unterschätzen zurzeit offenbar die ökonomischen Nachteile ihrer Politik. Sie machen sich Illusionen über die Grenzen der Belastbarkeit und denken zu sehr in der Logik ihres Subsystems (Wählerstimmen). Ein Lockdown – in welcher Form auch immer – ist also auch um den Preis von mehr Infektionen zu vermeiden. Das Bildungssystem muss geschont werden, das meint etwa: Kitas müssen geöffnet bleiben, Schulschließungen sind zu vermeiden. Dies ist zu verantworten, da Kinder und junge Jugendliche zwar auch eine Viruslast haben können, aber eher nicht erkranken, schon gar nicht schwer. Auch Risikogruppen sollten mehr Selbstverantwortung tragen. Ein zu pauschaler Schutz kann ideologisch missbraucht werden und in eine Art Gesundheitsdiktatur führen.