22.12.2021
Ist unser Strom gar nicht so grün, wie er aussieht?
Von Thilo Spahl
Der Moralgehalt deutschen Stroms ist massiv zurückgegangen. Aber er fließt immerhin noch verlässlich aus der Steckdose.
Petra Pinzler, Redakteurin bei der ZEIT, hat eine Entdeckung gemacht: Ihr Strom ist gar nicht so grün, wie sie dachte. Oder wie er einmal war. Oder wie auch immer.
Was ist geschehen? Frau Pinzler beobachtet einen „ziemlich verblüffenden Ökostromschwund“ und berichtet: „So kennzeichnete beispielsweise E.ON bis vor Kurzem 56 Prozent seines Strommixes als grün, jetzt sind es nur noch zehn Prozent. Bei EnBW waren es bisher 65 Prozent, heute sind es nur noch 23, bei Vattenfall waren es 66 Prozent, heute sind es noch 17 Prozent. Am stärksten schrumpfte der Ökostromanteil bei den Stadtwerken Kiel – von 60 auf vier Prozent.“
Sie scheint verärgert über das „Ausmaß des Greenwashings“ durch die „Lobby der Energiekonzerne“. Die tun also alle nur so grün und sind es gar nicht. Und damit „ist auch ihr CO2-Fußabdruck größer als gedacht.“
Man kann sich fragen: Wo ist das Problem? Solange der Strom weiter aus der Steckdose kommt, braucht man sich als Stromkunde darüber doch keine Gedanken zu machen. Aber man ist ja nicht nur Stromkunde. Man ist ja auch Moralkunde. Man kauft ja nicht nur Energie. Man kauft gutes Gewissen. Und man wurde also reingelegt. Oder?
Herausgefunden hat den Missstand nicht Frau Pinzler, sondern Lichtblick. Der Ökostromanbieter hatte offenbar einen schlimmen Verdacht und hat deswegen das Hamburg Institut beauftragt, den Strommix der deutschen Energiekonzerne zu analysieren. Die mussten gar nicht viel analysieren, sondern nur nachlesen, da die Stromanbieter laut neuem Gesetz von November 2021 auf ihren Internetseiten ihren tatsächlichen Strommix angeben müssen.
„Die Reform der Stromkennzeichnung ist ein Meilenstein für Verbraucherschutz und Energiewende. Erstmals können Kund*innen erkennen, wie grün die Strombeschaffung ihres Anbieters wirklich ist. Damit wurde die jahrelange Praxis des legalen Greenwashings endlich beendet“, freut sich LichtBlick-Sprecher Ralph Kampwirth, der sich dank echten 100 Prozent Ökostrom jetzt in noch hellerem Licht erstrahlen sieht.
Ich hingegen glimme nur düster vor mich hin. Mein E.ON-Strom besteht nicht mehr zu 56 Prozent, sondern nur noch zu 10 Prozent aus echtem Ökostrom.
Muss ich mich jetzt schämen? Muss ich den Stromanbieter wechseln? Wäre ja kein Problem. Ein ZEIT-Leser rät mir: „Beim Strom ist es aber wirklich sehr einfach nachhaltig zu sein: Sie müssen nur einen Vertrag bei einem Anbieter abschließen, der nur Ökostrom im Angebot hat (z.B. Lichtblick, EWS Schönau, Greenpeace).“
Ja, doch, das ist wirklich SEHR einfach. Aber es ist gar nicht notwendig. Denn ich vertrete folgende Auffassung: Beim Ökostrom kommt es moraltechnisch nicht darauf an, wer ihn kauft, sondern wer ihn bezahlt. Und dank EEG-Umlage tragen ja alle Stromkunden gemeinsam und gleichermaßen die knapp 30 Milliarden Euro Mehrkosten pro Jahr, egal ob das Hamburg Institut auf der Website ihres Versorgers nur vier Prozent Ökostrom finden kann, wie bei den Stadtwerken Kiel, oder eben bei den Weltrettern unter den Stromvermarktern die volle Dosis.
„Beim Ökostrom kommt es moraltechnisch nicht darauf an, wer ihn kauft, sondern wer ihn bezahlt.“
Wäre es anders und würden die 30 Milliarden nur auf die Käufer von Ökostrom umgelegt, dann wäre das natürlich moralisch eine ganz andere Sache. Dann gäbe es aber plötzlich nur noch ziemlich wenige Käufer dieses Ökostroms. Ökostrom gäbe es aber immer noch genauso viel. Denn der Ökostrom wird ganz und gar unabhängig davon produziert, wie grün die Namen der Stromtarife sind, aus denen wir wählen können. Wir könnten auch alle bei unserem Versorger „Strom für aus der Steckdose“ bestellen und der Strommix wäre, wie er halt gerade ist. In diesem Jahr waren in Deutschland 42 Prozent öko, im letzten immerhin noch 46 Prozent. Und da man den Strom nicht einfärben kann, hat jeder von uns 42 Prozent Ökostrom bekommen und auch bezahlt. Schuld am Rückgang war nicht, dass Frau Pinzler den falschen Tarif hatte, sondern dass der Wind ein bisschen schwächer wehte.
PS. Nach einem Besuch auf der Website von E.ON weiß ich gar nicht mehr, was ich glauben soll. Da lese ich: „Warum bietet E.ON nur noch Ökotarife an?“ (Antwort: Gemeinsam mit mir möchte man „daran arbeiten, die Energiewende zu verwirklichen.“) Von wegen 10 Prozent! Scheinbar strebt auch mein Anbieter zurück zum Licht.