11.02.2015

Ist der Islam schuld?

Essay von Frank Furedi

Für die einen sind Terroristen keine „echten Muslime“, die anderen machen pauschal „den Islam“ für den Terror verantwortlich. Beide Seiten leugnen die Realität, meint Frank Furedi. Um den Dschihadismus zurückzudrängen, brauchen wir eine ehrliche Debatte über die Ursachen der Gewalt

Es ist schwierig, offen und objektiv über die Verantwortung des Islams für die jüngste Gewaltwelle rund um den Globus zu sprechen. Wenn es nach einigen westlichen Kommentatoren geht, gibt es im Islam einen Konstruktionsfehler, der Fanatiker zu barbarischen Gewaltakten an ihren Gegnern treibt. Diese simplifizierende Auffassung ist das Spiegelbild der Argumentation, der Islam habe nichts mit Terroranschlägen, wie dem auf Charlie Hebdo, zu tun. In der „Das sind keine echten Muslime“-Perspektive ist es illegitim, die Gewalttäter als „muslimische Terroristen“ zu bezeichnen – sie sind einfach Terroristen, die zufällig Muslime sind.

Diese beiden gegensätzlichen Standpunkte vereint der Wunsch, einer Diskussion über die echten Ursachen islamistischer Gewalt aus dem Weg zu gehen. Würden sich die Vertreter dieser spiegelverkehrten Sichtweisen ehrlich mit der inneren Dynamik islamistischer Gewalt auseinandersetzen, würden ihre Weltanschauungen zusammenbrechen.

Weil er seinen Anhängern eine umfassende Lebensweise bietet, hat der Islam einen großen Einfluss auf Individuen und die Gesellschaft. Die Interpretation des Islams sieht allerdings je nach Ort und Zeit anders aus. Deswegen sind Muslime so unterschiedlich wie Christen. Der Islam kann, wie jede Religion, die Motivation für einen blutigen Kreuzzug sein – und viele haben ihn auf diese Art und Weise benutzt. Diese Eigenschaft hat der Islam mit vielen der großen Weltreligionen gemein. Aber wie eine Religion benutzt wird, wenn sie politisiert wurde, hat nur wenig mit ihrer Doktrin zu tun. Viele andere Faktoren müssen in Betracht gezogen werden, wenn etwa religiöse Gewalt in Indien, die Kreuzzüge des Christentums oder der Genozid an armenischen Christen 1915 erklärt werden sollen. Ja, die Islamisten des 21. Jahrhunderts bedienen sich moderner Versionen islamischer Theologie. Das Streben fundamentalistischer Wahhabiten, den Islam zu erneuern, und die Ansichten Sayyid Qutbs, dem Vordenker der Muslimbruderschaft, haben Bewegungen wie den Islamischen Staat und andere dschihadistische Organisationen beeinflusst. Aber die Frage, die gestellt werden muss, lautet: Was sind die Ursachen und der Antrieb des globalen Islamismus?

„Die Destabilisierung des Mittleren Ostens durch den Westen trägt zur Radikalisierung junger Muslime bei“

Rufen wir uns in Erinnerung, dass der Radikalismus in der muslimischen Welt bis in die späten 1970er eher politischer als religiöser Natur war. Bewegungen wie die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und der Panarabismus hatten eine eindeutig säkulare Ausrichtung. Das Scheitern dieser Bewegungen hat scheinbar die Nachfrage nach Alternativen geweckt. Die Iranische Revolution zeigte, dass ein politisierter Islam ein enormes Mobilisierungspotenzial besitzt. Ähnliche Experimente wurden in Afghanistan, Nordafrika und Teilen des Nahen Ostens in Angriff genommen. Somit gingen der Politisierung des Islams der Niedergang und das Auseinanderbrechen radikaler säkularer Kräfte voraus.

Dabei bezog der politische Islam seine Anziehungskraft weder aus seiner inneren Dynamik noch aus seinen intellektuellen Ressourcen. Ab den späten 1970ern wurden weite Teile der muslimischen Welt durch katastrophale Interventionen und Fehler des Westens destabilisiert. Die USA spielten eine zentrale Rolle bei der Unterstützung und Bewaffnung radikalislamischer Kräfte, die in Afghanistan gegen Russland kämpften. Nachfolgende Militärinterventionen in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien – um ein paar zu nennen –, führten zum Kollaps säkularer Regime und schafften ein Umfeld, in dem der globale radikalislamische Terrorismus aufblühen konnte. Jede Intervention schien mehr Schaden anzurichten als die vorherige. Beim letzten Versuch, Syrien zu destabilisieren, wurde ein direktes Netzwerk von hausgemachten Islamisten aus dem Westen und ihren Gelichgesinnten im Nahen Osten geschaffen. Es gibt viele Faktoren, die zur Radikalisierung junger Muslime aus westlichen Gesellschaften beitragen, doch die Destabilisierung erheblicher Teile der Welt durch den unfähigen Interventionismus des Westens ist wohl der bedeutsamste.

Die westliche Diplomatie ist von einer Verwirrung befallen, die sich auch im innenpolitischen Umgang mit radikalen Islamisten äußert. Seit dem 11. September versuchen westliche Regierungen, die Bedrohung durch den Terrorismus in Schach zu halten, indem sie ihn vollkommen vom Islam trennen. Als Präsident Obama ins Weiße Haus einzog, erklärte er, Amerika führe keinen Krieg gegen den Islam. Diese Botschaft wird von anderen Staatsoberhäuptern gerne wiederholt, die ebenfalls darauf bestehen, dass Terroristen keine „echten Muslime“ sind.

Es ist jedoch lächerlich zu behaupten, westliche Politiker, ob christlich oder säkular, wüssten mehr über die muslimische Identität als die selbsternannten Anhänger des politischen Islams. Es ist legitim zu sagen, dass solche Terroristen keine Repräsentanten oder Sprecher des Islams sind. So zu tun, als hätten sie nichts mit dem Islam zu schaffen, ist allerdings sowohl eine Selbsttäuschung als auch politisch unaufrichtig.

„Das Mantra ‚das sind keine echten Muslime‘ wird durch den Multikulturalismus legitimiert“

Das „Das sind keine echten Muslime“-Mantra wird durch ein Dogma des Multikulturalismus legitimiert, wonach Werte und Bräuche „anderer“ Kulturen nur selten zur Sprache gebracht oder gar hinterfragt werden dürfen. Deshalb heißt es oft, einen Zusammenhang zwischen einem Gewaltverbrechen und seinen muslimischen Tätern anzudeuten, würde der „Islamophobie in die Hände spielen“.

Tragischer Weise wird durch den Versuch, die Situation zu entschärfen, also durch die Trennung von Terrorismus und kulturellem Hintergrund der Terroristen, das Gegenteil erreicht. Diese Herangehensweise trägt zur Radikalisierung junger Muslime bei, die auf der Suche nach einem Anliegen in ihrem Leben sind. Abgestoßen von der moralischen Unaufrichtigkeit offizieller Stellen, gelangen manche jungen Menschen zu der Auffassung, dass Islamisten zumindest nicht der Auseinandersetzung mit den grundlegenden existenziellen Fragen unserer Gesellschaft aus dem Weg gehen.

Tatsächlich stecken hinter der Gewalt, die weltweit verübt wird, Menschen, die nicht nur Terroristen sind. Vielmehr nehmen sie sich als das wahr, was sie wirklich sind: Muslime. Dieser Realität ins Auge zu blicken, führt nicht zur Islamophobie, sondern zur Wahrheit.

Am Ende steht ein Fazit, mit dem keine Seite der Debatte zufrieden sein kann. Der Islam ist nicht die Ursache islamistischer Gewalt in Frankreich oder sonst wo auf der Welt. Junge nihilistische und barbarische Dschihadisten werden von mehreren Umständen geformt. Ihre Religion spielt dabei nur eine sehr kleine Rolle. Zudem ist nicht nur der Terrorismus das Problem. Wir müssen uns auch damit befassen, warum radikalislamische Werte so eine hohe Anziehungskraft für viele junge Menschen im Westen besitzen. Das aktuelle Dogma, laut dem eine klare, offene Debatte vermieden werden sollte, verhindert, dass der Einfluss des Dschihadismus zurückgedrängt wird. Die Schuld liegt nicht beim Islam, sondern bei uns selbst.

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