19.12.2018
In der Weihnachts-Zuckerbäckerei
Von Uwe Knop
Zucker wird zunehmend als ungesund hingestellt, obwohl wissenschaftliche Beweise dafür fehlen. Vom Kreuzzug gegen das Süße sind keine positiven Wirkungen zu erwarten.
Spekulatius, Lebkuchen, Bratapfel, flankierend überall nur Schokolade und süße Leckereien – auf deutschen Weihnachtsmärkten lauert an jeder Budenecke: Zucker, Zucker und noch mehr Zucker! So ist es nur konsequent, dass sich derzeit zahlreiche Organisationen im Übereifer der Jagd auf den neuen „kulinarischen Satan“ gegenseitig überbieten: Wir brauchen eine Zuckersteuer – und dazu gleich noch eine Weihnachtsmarkt-Sondersteuer? Näheres dazu erklärt uns Ernährungswissenschaftler und Buchautor Uwe Knop.
Novo: Herr Knop, Sie schrieben vor Jahren von einer „Hexenjagd auf Zucker“. Wo stehen wir da gerade?
Uwe Knop: Man könnte meinen: Wir haben ihn. Den kristallinen Killer, der die Menschheit krank, dumm und fett macht und für einen frühen Tod sorgt: Zucker, der lautlose allgegenwärtige Assassine – auch inkognito in Todesmission unterwegs unter den Aliassen Glucose, Fruktose, Saccharose und weiteren Decknamen. Derzeit überbieten sich zahlreiche Organisationen in bemerkenswertem Übereifer bei ihrer Pressearbeit mit polemischen Forderungen nach Zuckersteuer, -reduktion, -werbeverboten und weiteren Zwangs- und Regulationsmaßnahmen, um ‚die Bürger und vor allem die kleinen Kinder vor den Gefahren des süßen Gifts zu schützen. So warnte jüngst das Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) die Eltern eindringlich davor, „ein bisschen Zucker auf die frischen Erdbeeren oder den Naturjoghurt zu streuen“, da dies die Kinder bewiesenermaßen fetter mache. Und in einer großen süddeutschen Zeitung war am gleichen Tag zu lesen: „Die Industrie muss sich darauf einstellen, dass Zucker ähnlich streng wie Alkohol und Zigaretten reguliert werden könnte.“ Einfach nur krank.
Wie soll den Deutschen die fiktive „Zuckersucht“ ausgetrieben werden?
Im Fokus der ernährungsapostolischen Missionierung steht klar eine Steuer auf Lebensmittel, die zu viel vom „süßen Teufelszeug“ enthalten – denn diese Zwangsabgabe wird als der gelobte Heilsbringer gehypt: Sie soll uns alle gesünder und schlanker machen. Der kleine Haken an der Hetzjagd auf die Zuckersau, die durchs Dorf getrieben wird, ist nur: Es fehlen wissenschaftliche Beweise. Null Evidenz!
„Es gibt es keinerlei Kausalevidenz, dass Zucker krank oder dick macht.“
Aber zu viel Zucker ist doch ungesund, oder etwa nicht?
Mag sein, aber: Zum einen ist die Warnung „zu viel Zucker“ nicht mehr als eine hohle Phrase, für die keinerlei wissenschaftlich gesicherte Grenzwerte vorliegen. Was ist zu viel? Es ist unmöglich, dazu evidenzbasierte Aussagen zu treffen, denn: Jeder Mensch is(s)t anders. Des Weiteren gibt es keinerlei Kausalevidenz, dass Zucker krank oder dick macht – was daran liegt, dass die bemitleidenswerte Ernährungswissenschaft modernem Glaskugellesen gleicht. Die Datengrundlage dieses Forschungszweigs ist massiv limitiert: unüberprüfbare Eigenangaben der Probanden und beweisfreie Beobachtungsstudien. So kann dieser Forschungszweig keine Ursache-Wirkungs-Beziehungen (Kausalitäten) liefern, sondern nur banale wachsweiche statistische Zusammenhänge (Korrelationen) im Sinne von „Wer mehr Bananen isst, lebt länger – Bananen verlängern das Leben!“ Ergo fehlt Evidenz sowohl für „gesunde Ernährung“ im Allgemeinen als auch für spezielle Lebensmittel und erst recht für einzelne Inhaltsstoffe.
Mit einer Zuckersteuer soll das Übergewicht sinken – oder sehen Sie das auch anders?
Niemand ist in der Lage zu belegen, dass eine Zuckersteuer zu weniger Fettleibigkeit, Diabetes, Schlaganfällen und sonstigen Krankheiten oder gar zu sinkender Mortalität (Sterblichkeit), dem härtesten aller klinischen Endpunkte, führt. So konstatierte im Tagesspiegel auch jüngst Prof. Susan Jebb, Ernährungswissenschaftlerin an der Universität Oxford, die mehr als zehn Jahre Chefberaterin mehrerer britischer Regierungen zum Thema Ernährung und Übergewicht war, klar: „Ob sie [die Zuckersteuer] zu weniger Übergewicht führt, werden wir wohl nicht messen können“ Hinzu kommt, dass keiner sicher prognostizieren kann, ob eine „Zuckersteuer“ nicht sogar mehr Schaden anrichtet als sie nutzt. Es ist ein Schuss ins Blaue, mehr nicht, ein Versuch hilflosen Aktionismus im Sinne von: „Denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Die Befürworter der Zuckersteuer behaupten, dass sie dicke Kinder schützen wollen.
Welche dicken Kinder? Die „Generation dicker Kinder“, die immer wieder als Grund für den Anti-Zucker-Aktionismus herangezogen wird, existiert schlicht nicht – sie ist ein artifizielles Konstrukt der Panikpropaganda. Laut KiGGS-Studie („Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“), der einzig relevanten Verlaufsstudie, waren im Jahr 2017 gerade einmal 5,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland adipös, also das, was man allgemein als „fettleibig“ bezeichnet. Im Vergleich zu 2006 ist die Quote stabil geblieben: Das RKI konnte keinen Anstieg beobachten. Aktuelle Zahlen der Krankenkasse DAK liegen sogar noch weit darunter, konkret bei nur 3 Prozent.
„Eltern und deren übergewichtige Kinder fühlen sich nicht mehr zur ‚normalen‘ Bevölkerung zugehörig, obwohl sie gesund sind.“
Oder anders: 97 Prozent des hiesigen Nachwuchses sind nicht fettleibig. Hinzu kommt: Das Gros der adipösen Kinder und Jugendlichen lebt in sozial schwachen Schichten, oft mit Migrationshintergrund. Wer den fettleibigen Kids wirklich gezielt helfen will, der trommelt nicht öffentlich lautstark nach einer evidenzbefreiten Zuckersteuer, sondern investiert in lebensnahe Maßnahmen für sozial schwache Familien. Doch hier passiert nichts, genauso wenig wie am spindeldürren anderen Ende der Skala: Etwa doppelt bis dreimal so viele Kinder gelten als untergewichtig.
In den Berichten sind die Zahlen dicker Kinder aber meist höher, hier werden 15 Prozent fetter Kids kolportiert – wie kommt es zu so unterschiedlichen Zahlen?
Dass die Zahlen „juveniler Adipositas“ so niedrig sind und seit Jahrzehnten nicht weiter ansteigen, wissen auch die Prediger pro Zuckersteuer. Nichtsdestotrotz wird vor kindlichen „Adipositas-Epidemien“ und „Fettleibigkeits-Schwemmen“ gewarnt, um auf der Angstwelle der Bürger zum Ziel zu surfen: Zuckersteuer! Zu diesem Zweck benutzen die „Kampagneros“ immer wieder gerne folgenden Taschenspielertrick: Sie vermischen die Begriffe „übergewichtig“ und „fettleibig“, um die Steuerrechtfertigungs-Dicke-Kinder-Quote in die Höhe zu treiben – und die kumulierten 15 Prozent klingen einfach „besser“ als 3 bis 6. Während Adipositas durchaus auf medizinische Probleme hinweisen kann, gibt es keine Belege dafür, dass „normales“ Übergewicht in irgendeiner Weise schädlich ist. Es handelt sich vielmehr um einen Kampfbegriff, der ausschließlich diskriminiert und exkludiert: Eltern und deren übergewichtige Kinder fühlen sich nicht mehr zur „normalen“ Bevölkerung zugehörig, obwohl sie gesund sind. Ergo ist das Ganze nicht mehr als ein statistischer Taschenspielertrick, um der Öffentlichkeit die Fake News fetter Kinder unterzujubeln.
Limo und Cola, also gezuckerte Softdrinks, gelten als Dickmacher, besonders bei Kindern. Wahrheit oder Mythos?
Richtig ist, dass insbesondere die Rufe nach einer Zuckersteuer auf Softdrinks mehrstimmig und nachhaltig durch die Lande hallen. Das Paradoxe daran ist nur: Kinder trinken kaum Softdrinks. Aktuellen Zahlen der KiGGS-2-Studie des Robert Koch-Instituts zufolge trinken über 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen weniger als einmal am Tag Limo & Co(la). Hinzu kommt: Der tägliche Konsum zuckerhaltiger Erfrischungsgetränke ist in den vergangenen Jahren gesunken. Und, welch’ Überraschung, ein Beweis, dass dieser geringe Konsum gezuckerter Getränke kausal zu den drei bis sechs Prozent adipösen Kindern und Jugendlichen beiträgt, existiert nicht. Übrigens fehlt diese Evidenz auch bei Erwachsenen vollumfänglich.
„Macht die Zuckersteuer limotrinkende Briten nun etwa fetter?“
Man hört aber immer wieder von angeblichen Erfolgen der Softdrinksteuer in anderen Ländern.
Die kolportierten „Erfolge“ der Zuckersteuer sind nicht mehr als ein aufgeblähtes Nichts. Auch hier wird ganz bewusst mit zweierlei Maß gemessen, wie zum Beispiel in Mexiko oder jüngst Großbritannien. Richtig ist, dass sowohl der Zuckeranteil in Getränken als auch deren Konsum im Mexiko zurückgegangen ist, seitdem es eine entsprechende Sondersteuer gibt. Aber es gibt keinen Nachweis dafür, dass es auch nur einen Fall von Diabetes oder Schlaganfall weniger oder auch nur einen Fall von Gewichtsreduktion gegeben hat, der darauf zurückzuführen wäre. Hinzu kommt ein gewichtiges Risiko, das einem Blindversuch mit Bürgern als Versuchskaninchen gleicht: In England wurde der in Softdrinks entfernte Zucker durch Süßstoffe ersetzt. Doch diese Zuckersurrogate korrelieren in nahezu allen Beobachtungsstudien mit einem erhöhten Risiko für Adipositas – und sie werden bekanntermaßen als „Hungeranheizer“ in der Schweinemast eingesetzt. Macht die Zuckersteuer limotrinkende Briten nun etwa fetter? Schwappt eine Welle Schweppes-Schwabbel auf das Vereinigte Königreich zu? Erst der Brexit, dann der Slexit (slim exit)? Keiner weiß es.
Also bringt eine Steuer auf Lebensmittel nichts?
Man muss eindringlich davor warnen, dass Nahrungsmittel oder gar einzelne Inhaltsstoffe aus nicht belegbarer missionarischer Überzeugung dem derzeit omnipräsenten Gesundheitswahn geopfert werden. Vor zehn Jahren galten Fett und Cholesterin als die bösen Nahrungsmittelbestandteile schlechthin und heute – sind sie rehabilitiert. Was, wenn wir gerade nur der nächsten Ernährungshysterie aufsitzen? Soll auch direkt gepresster Orangensaft zwangsbesteuert teurer werden, weil er mehr Kalorien als Fanta enthält und dazu viel Fruchtzucker (Fruktose), der angeblich noch „ungesünder“ ist als Haushaltszucker? Oder brauchen wir Steuern auf frische Trauben, die fast 50 Prozent mehr Zucker enthalten als Cola? Man kann das ganze Zuckertheater sogar noch weiter auf die Spitze treiben.
Besonders kurios wird es, wenn man das absolute Lieblingsgetränk der Deutschen zum „kulinarischen Steuerschafott“ schleift: Ein Drittel der deutschen Kaffeetrinker süßt seinen täglichen halben Liter mit Zucker – gelten nun auch diese Tassen als Süßgetränk und müssen „pro Löffel“ besteuert werden? Warum nicht gleich eine Steuer auf alle Lebensmittel mit mehr als 300 Kilokalorien pro Portion, denn letztlich macht der langfristig überbordende Kalorienexzess fett, egal, womit man sich mästet. Selbst des Säuglings liebster „Softdrink“ Muttermilch ist voller Zucker und schmeckt süß! Wo also fängt man an, wo hört man auf mit der hochkalorischen Steuereintreibung? Am besten: Nirgends. Denn es ist nicht mehr als die reine Willkür ganz im Sinne der Myriaden aktueller Besser-Esser-Hypes: „frei von“ wissenschaftlicher Kausalevidenz dafür voll von Fake News. Diese postfaktischen Bevormundungsfantasien ohne Sinn und Relevanz braucht niemand.
Ist eine Zuckersteuer in Deutschland zu erwarten?
Begrüßenswerterweise: Nein, „Vater Staat“ will sich hier nicht einmischen. Denn gemäß jüngsten Infos von November 2018 aus Kreisen der Bundesregierung ist derzeit keine Zuckersteuer geplant – und damit bleibt auch der Weihnachtsmarkt zuckerzusatzsteuerfrei. In diesem Sinne: Guten Festgenuss!