06.04.2018
Keine Generation dicker Kinder
Von Uwe Knop
94 Prozent aller Kinder in Deutschland sind nicht fettleibig, wie eine aktuelle Studie (KiGGS) zeigt. Dennoch werden eine Limosteuer und spekulativer Ernährungsunterricht gefordert.
Die aktuellen Daten der zweiten Welle der KiGGS-Studie (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland) des Robert Koch-Instituts (RKI) zeigen klar und deutlich: Die von Ernährungsaposteln kolportierte „Generation dicker Kinder“, die durch ungesunde Ernährung immer fetter und kranker werde, ist nicht mehr als ein Mythos: 97 Prozent der Eltern bewerten den Gesundheitszustand ihrer 3- bis 17-jährigen Kinder als gut oder sehr gut. Nur 5,9 Prozent sind adipös. Dabei lebt der fettleibige Nachwuchs mit 9,8 Prozent primär in sozial schwachen Schichten, in der Oberschicht sind es nur 2,3 Prozent (Mittelschicht 4,9). Des Weiteren ist bereits seit der Jahrtausendwende, also seit fast 20 Jahren, kein Anstieg der juvenilen Adipositasquote zu verzeichnen.
Neben den aktuellen RKI-Ergebnissen bestätigen auch die jüngsten AOK-Daten von September 2017, dass im Nordosten der Republik (Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern) der Anteil nicht fettleibiger Kinder und Jugendlicher wie in KiGGS-2 bei 94,1 Prozent liegt. Im Vergleich zur Analyse fünf Jahre zuvor ist diese Quote nahezu konstant geblieben. Bereits 2014 hatte die große paneuropäische Studie IDEFICS unter Leitung des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS), Bremen, gezeigt: Bei den unter 10-jährigen Mädchen und Jungen sind 72–75 Prozent normalgewichtig, 3,8 Prozent der Jungen adipös, jedoch fast drei Mal so viele (10,8 Prozent) untergewichtig (Mädchen zu 5,6 Prozent adipös, zu 9,3 Prozent untergewichtig). Bei der IDEFCS-Folgestudie I.Family sind vergleichbare Ergebnisse zu erwarten.
Auch die aktuellsten Einschulungsuntersuchungen der Landesgesundheitsämter zeigen klar und deutlich, dass Adipositas nicht mehr ist als eine biologisch normale „Randerscheinung“: In Baden-Württemberg waren 2,8 Prozent der Kinder bei der Einschulungsuntersuchung zum Schuljahr 2014/2015 adipös, im Freistaat Bayern mit 3,2 Prozent nur marginal mehr. In Rheinland-Pfalz und Niedersachsen lag die Quote bei je 4,5 Prozent, in NRW bei 4,7 Prozent. Das heißt auch: Zwischen 95,3 und 97,2 Prozent der Erstklässler sind nicht fettleibig. In Niedersachsen sind beispielsweise mehr eingeschulte Jungen (stark) untergewichtig (10,7 Prozent) als es übergewichtige und adipöse zusammen gibt (10,2 Prozent).
„Eltern müssen keine Angst vor vermeintlich ungesunder Ernährung haben.“
Eltern müssen also keine Angst vor vermeintlich ungesunder Ernährung haben, die ihre Kinder dick und krank macht – das ist nicht mehr als frei erfundene Paranoia, denn dafür existiert kein einziger wissenschaftlicher Beweis. Hinzu kommt, wie immer im Glaskugelbusiness Ernährungswissenschaft, die vollumfängliche Unwissenheit, warum die wenigen Kinder adipös sind, wie man sie „dünn bekommt“ – über 90 Prozent der kindlichen Abspeckprogramme scheitern – und wieso gerade in sozial schwachen Schichten das Gros fettleibiger Kinder und Jugendlicher lebt; das alles weiß: niemand. An wilden Vermutungen und heißen Hypothesen hingegen mangelt es nicht. Je nach Ausrichtung des ernährungsideologischen Kompasses fallen die Spekulationen naturgemäß ganz unterschiedlich aus.
Um diese vollumfängliche Ratlosigkeit zu kaschieren, werden in der Öffentlichkeit gerne Nebelkerzen gezündet, um den Fokus unter anderem auf die als willkürlich „schuldig“ gebrandmarkten Softdrinks zu richten. „Wir wissen Bescheid: Die gezuckerten Getränke machen die Kinder fett, wir brauchen Steuern auf Limo & Co(la)!“, so die Unkenrufe der ernährungsapostolischen Gesundheitspolizei. Unabhängig davon, dass generelle valide wissenschaftliche Evidenzen für „Softdrinks als Kausal-Dickmacher“ fehlen, reicht ein Blick in die noch druckfrischen KiGGS-2-Daten (2014–2017), um diese öffentliche Verdummungsstrategie als null und nichtig zu entlarven: Im Vergleich zu KiGGS-1 (2003-2006) hat sich die Adipositasquote mit knapp sechs Prozent nicht verändert, der Konsum gezuckerter Softdrinks jedoch deutlich verringert. Hier liegt demnach noch nicht einmal eine Korrelation vor, die eine Hypothese erlaubt – von einer Kausalität ganz zu schweigen. Ganz konkret: Mehr als 80 Prozent der 3- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen trinken „weniger als einmal am Tag“ Softdrinks. Und dazu werden beispielsweise auch Fruchtschorlen gerechnet. KiGGS ist im Übrigen die einzige Studie in Deutschland, die zu Gesundheit und Gewicht von Kindern und Jugendlichen valide Langzeitverlaufsdaten liefert. Eine öffentliche Demagogie contra Cola & Co. ist demnach nicht mehr als der armselige Versuch, mit frei erfundenen Fake-News von der eigenen Handlungsunfähigkeit abzulenken.
„Was soll im Unterrichtsfach Ernährung gelehrt werden – Hypothesen, Spekulationen und Wunschdenken?“
Ein Effekt der öffentlichen Panik-PR ist die massive Verunsicherung der Eltern, der sich in folgendem Paradox widerspiegelt: Gemäß aktuellem Ernährungsreport des Bundesernährungsministeriums wünschen sich die Eltern ein Fach „gesunde Ernährung“ in der Schule – was in gewisser Weise ein Zeichen von Hilflosigkeit und Versunischerung darstellt, weil sie es anscheinend selbst nicht wissen. Diese diffuse Angst vor ungesundem Essen und Trinken liegt im derzeit omnipräsenten Ernährungswahn begründet. Und so schiebt man die Verantwortung in die Bildungseinrichtung. Dabei weiß niemand, was gesunde Ernährung sein soll, weder für Erwachsene und schon gar nicht für Kinder.
Ergo offenbart sich hier ein wissenschaftliches Paradoxon: Wenn niemand weiß, was gesunde Ernährung ist, so stellt sich die Frage: Was soll in einem gleichnamigen Unterrichtsfach dann gelehrt werden – Hypothesen, Spekulationen und Wunschdenken? Besser nicht! Ein Unterricht hingegen, der das praktische Küchen-ABC vermittelt, den handwerklichen Umgang mit Lebensmitteln, deren Vor-, Auf- und Zubereitung, hätte einen echten Mehrwert für die Kids. Auf Ernährungsideologien aber sollte komplett verzichtet werden – zum Wohl der Kinder und zur Vorbeugung von Essstörungen.