02.10.2020

Grenzenlose Vielfalt bedroht Liberalität

Von Frank Furedi

Der Ruf nach offenen Grenzen hat sich gewandelt. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Verteidigung individueller Freiheiten, sondern die Umgestaltung der Gesellschaft.

Eines der Hauptargumente gegen die Einwanderung im 20. Jahrhundert war, dass sie die bestehenden Gemeinschaften kulturell zerstören würde. Anti-Einwanderungs-Gruppen mobilisierten gegen den Zuzug, weil sie in ihm eine Bedrohung für die herkömmliche Lebensweise ihres Landes sahen. Die Befürworter von Einwanderung hielten dagegen. Sie empfanden die Angst vor dem Fremden als übertrieben und gingen davon aus, dass die Gesellschaft den Zuzug überstehen werde – ohne sich dabei in ihrem eigentlichen Charakter zu verändern. Argumentiert wurde auch, dass sich Einwanderer, wenn man sie gut behandelt, schnell an die Kultur des Aufnahmelandes anpassen würden.

Seit einigen Jahren nimmt die Debatte eine neue Form an. Beide Seiten sprechen nun davon, dass sich die Gesellschaft durch die Aufnahme von Migranten verändern werde. Man sagt sogar, dass es zu großen Umwälzungen kommen könne. Der Streit geht nur noch darum, ob diese Veränderung positiv oder negativ ist. Einwanderungsgegner sehen ausschließlich die negativen Auswirkungen der Zuwanderung. Die Einwanderungsanhänger, die nun auch akzeptieren, dass die Einwanderung den Charakter einer Gesellschaft verändern wird, bestehen darauf, dass diese Veränderung insgesamt positiv ist. Für sie stellt Einwanderung ein gutes und willkommenes Instrument des sozialen Wandels dar.

Offene Grenzen

Nicht der Wert der individuellen Freizügigkeit steht also heute im Zentrum der Einwanderungsbefürwortung, sondern die positiven Auswirkungen der Migration auf die Aufnahmegesellschaft. Häufig werden dabei die wirtschaftlichen Vorteile betont. Aber zunehmend wird Einwanderung auch deshalb positiv bewertet, weil sie eine transformative Wirkung auf die nationale Kultur hat. Wie sehr sich die Debatte verändert hat, zeigte sich, als der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in einer Rede 2016 (auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise) erklärte: „Grenzen sind die schlimmste Erfindung, die Politiker je gemacht haben“ 1. Er verband seine Verurteilung von Grenzen mit einem Aufruf zur Unterstützung von Migranten. Aber es ging ihm nicht nur darum, Solidarität mit Migranten zu zeigen. Nein, er drückte damit auch eine allgemeinere Feindseligkeit gegenüber der Idee des Nationalstaates und denjenigen aus, die ihr zuneigen. „Wir müssen den Nationalismus bekämpfen“, sagte er, „und den Populisten den Weg versperren“. 2

„Beide Seiten in der Einwanderungsdebatte sprechen nun davon, dass sich die Gesellschaft durch die Aufnahme von Migranten verändern werde.“

Nicht die Liebe zu den Migranten, sondern die Ablehnung des Nationalstaates steht also im Zentrum von Junckers Rede über Grenzen. Dazu passt, dass sich die Einwanderungspolitik der EU, die sich unter seiner Präsidentschaft entwickelt hat, darauf konzentriert, den europäischen Nationen das Recht zu nehmen, ihren eigenen Weg im Umgang mit der Migration zu finden. Stattdessen legt sie den Mitgliedstaaten Quoten auf und entzieht den nationalen Regierungen die Befugnis, den Zustrom von Migranten zu kontrollieren. Es geht um die Veränderung des Nationalstaates.

Historisch gesehen waren die progressiven Anhänger offener Grenzen von dem Wunsch getrieben, das menschliche Streben nach Bewegungsfreiheit und Mobilität zu verteidigen. In der heutigen Zeit gelten Grenzen jedoch als schlecht, weil sie für den Nationalstaat und eine nationale Kultur stehen. Anstatt sich vom alten, liberalen Prinzip des Rechts auf Freizügigkeit inspirieren zu lassen, ist es die Ablehnung der nationalen Souveränität und der Autorität des Nationalstaates, die Juncker und andere Kritiker von Grenzen antreibt.

Verfassungspatriotismus

Natürlich argumentiert die Anti-Grenzen-Lobby in öffentlichen Debatten selten explizit für Einwanderung als Mittel der sozialen Steuerung. Lieber spricht sie von einem wirtschaftlichen Nutzen. Das schlüssigste und eloquenteste Argument für Einwanderung als Mittel zur Verbesserung oder gar Zurückdrängung der nationalen Kultur lieferte der deutsche Philosoph Jürgen Habermas mit seinem Konzept des „Verfassungspatriotismus“. Seine Idee des Verfassungspatriotismus wurde als Gegenpol zur Idee der Nation entwickelt. Wegen des Erbes des Nationalsozialismus in Deutschland wollte Habermas eine neue deutsche politische Kultur schaffen – eine, die offen für den Einfluss und die Erfahrung neuer Migranten sein sollte. Durch die Anpassung an die neue Realität der Migration könne sich Deutschland von seinem nationalistischen Erbe befreien, schrieb er. Das Hauptziel des Verfassungspatriotismus war es, den bevorzugten Status der deutschen Kultur zu brechen und sie für andere Einflüsse zu öffnen.

Für Habermas bietet der Verfassungspatriotismus eine Alternative zum ethnisch begründeten Nationalismus. Sein Ziel ist es, eine gemeinsame zivilgesellschaftliche politische Kultur zu schaffen, die auf der Anerkennung und Befürwortung unterschiedlicher Lebensweisen beruht. Der Versuch, die politische Bürgerkultur zu stärken, ist ein begrüßenswertes, liberales Ziel. Doch gleichzeitig dient die Schaffung dieser politischen Bürgerkultur bei Habermas auch einem illiberalen Zweck: Der Transformation des öffentlichen Lebens durch die Erosion der Autorität der nationalen Kultur. Er stellt Deutschland grundsätzlich als eine Einwanderungsgesellschaft dar, in der die nationale Kultur keine Privilegien mehr genießen sollte.

„In der heutigen Zeit gelten Grenzen als schlecht, weil sie für den Nationalstaat und eine nationale Kultur stehen.“

Habermas widersetzt sich zu Recht der politischen oder rechtlichen Diskriminierung von Minderheiten oder Subkulturen. Aber der Versuch, die nationale Kultur von ihrem hervorgehobenen Status zu befreien, würde die Gesellschaft von ihren eigenen Traditionen entfremden. Das Ergebnis wäre eine technokratische Gesellschaft, in der die politische Kultur jeden Sinn für das Vereinende verlieren würde. Ausdrücklich stellt Habermas sogar das Recht in Frage, dass die Mehrheitskultur die Werte der Bürger oder des Zusammenlebens bestimmen darf. Wir müssen ermöglichen, schreibt er, dass „verschiedene kulturelle, ethnische und religiöse Lebensformen innerhalb derselben politischen Gemeinschaft nebeneinander existieren und gleichberechtigt interagieren können.“ 3

Obwohl der Begriff des Verfassungspatriotismus aus dem schwierigen Verhältnis Deutschlands zu seiner Vergangenheit entstanden ist, findet er sich heute auch in anderen Ländern wieder – insbesondere in dem Konzept der Vielfalt (Diversität). Für große Teile der westlichen Elite ist Vielfalt zu einem Wert an sich geworden – und das liegt vor allem an ihrem Gefühl der Entfremdung von den Werten und Institutionen ihrer eigenen Gesellschaften. Das Ideal der Vielfalt besteht also nicht nur darin, kulturelle Unterschiede zu würdigen. Vielmehr wird es als etwas betrachtet, das den Traditionen einer Gesellschaft inhärent überlegen sein soll.

Die Politisierung der Vielfalt

In früheren Zeiten verfochten diejenigen, die eine Gesellschaft verändern wollten, politische Ideologien wie den Liberalismus, Kommunismus oder Sozialismus. Heute sehen viele den Motor des Wandels in der Vielfalt. Ein Beispiel dafür lieferte der frühere US-Vizepräsident Joe Biden, heutiger Kandidat der Demokratischen Partei, als er vor einigen Jahren die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff in Washington begrüßte. „Diejenigen unter uns, die europäischer Abstammung sind, werden schon bald eine Minderheit sein und das ist gut so“ 4, sagte er. Aber warum sollte die Veränderung der ethnischen oder kulturellen Zusammensetzung einer Gesellschaft gut oder schlecht sein?

In einer früheren Rede (in Marokko im Dezember 2014) hatte Biden erklärt, der bevorstehende Minderheitenstatus von Amerikanern mit europäischer Abstammung werde das Land stärken. Das Geheimnis der USA sei ihre Vielfalt.5 Vergessen wir also die Demokratie, die Verfassung, das liberale Ethos, die Kreativität oder das Unternehmertum der USA. All das zählt nicht, denn anscheinend liegt der wahre Grund von Amerikas Stärke in seiner Vielfalt!

„Für große Teile der westlichen Elite ist Vielfalt zu einem Wert an sich geworden – und das liegt vor allem an ihrem Gefühl der Entfremdung von den Werten und Institutionen ihrer eigenen Gesellschaften.“

Natürlich wird eine Gesellschaft, die der Einwanderung offen gegenübersteht, von der Vermischung von Kulturen und Ideen profitieren. Aber wenn Vielfalt in ein eigenständiges Medium für Veränderungen verwandelt wird, kann sie zu einer politischen Waffe werden, die dazu dient, den Willen der Bürger zu umgehen. Für Juncker ist die Kritik an Grenzen von Vorteil, weil sie seinem Projekt des europäischen Föderalismus dient. Vielfalt ist für ihn das Gegenmittel zum Nationalismus.

Früher war der Ruf nach offenen Grenzen ein progressives, liberales Projekt. Doch der Versuch, die Einwanderung zu einem Instrument der sozialen Steuerung zu machen, wirkt sich destruktiv aus. Er führt zu Verwirrung und Unsicherheit. Die Missachtung des besonderen Status der nationalen Institutionen und Kulturen, in die die Menschen einwandern, führt zu einem permanenten Kulturkampf, zu echten Spannungen und Spaltungen.

Wenn Vielfalt als Wert an sich politisiert und institutionalisiert wird, verliert sie ihr positives Potenzial, eine Gesellschaft für neue Ideen zu öffnen. Wenn Vielfalt politisiert wird, fördert sie unweigerlich immer mehr Vielfalt, bis hin zu einer zunehmenden Segmentierung der Gesellschaft nach Lebensstilen und Subkulturen. Ohne ein gewisses Maß an Gemeinsamkeiten und Loyalitäten dürfte die kulturelle Zersplitterung der Gesellschaft in Europa zur Norm werden: das Endergebnis einer technokratischen Politik, die Vielfalt vor alle anderen Werte stellt.

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