10.11.2021

Greisin vor der Jugendstrafkammer

Von Monika Frommel

Titelbild

Foto: ACBAhn via WikiCommons (CC BY 3.0 / bearbeitet)

Eine ehemalige KZ-Sekretärin steht wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord vor Gericht. Während Strafrichter früher mit NS-Tätern gnädig waren, wird hier das Jugendstrafrecht missbraucht.

Vor der Großen Jugendkammer in Itzehoe hat kürzlich das Strafverfahren gegen Irmgard F. begonnen. Sie war Schreibkraft im Büro des Lagerkommandanten im KZ Stutthof (bei Danzig).

Die mittlerweile 96-jährige Angeklagte war zu Beginn ihrer Tätigkeit (1943-1945) als Schreibkraft in einem KZ erst 18 Jahre alt. Nach der damaligen Rechtslage war man erst mit 21 Jahren geschäftsfähig. Strafverfahren gegen Jugendliche (16 -18 Jahre) und Heranwachsende (18-21 Jahre) finden vor einem Jugendgericht statt. Sie dienen nicht dem Tatschuldausgleich, sondern der Verhinderung weiterer Taten. Freiheitsstrafen dürfen nur dann vollstreckt werden, wenn das Gericht „schädliche Neigungen“ voraussetzt (ein fragwürdiger Ausdruck, den das Gesetz aber immer noch verwendet). Ein Jugendgerichts-Verfahren gegen eine hochbetagte Person ist zwar ein unlösbares Dilemma. Da aber Irmgard F. Heranwachsende war, muss gegen die Hochbetagte vor der Jugendkammer verhandelt werden.1

Rechtlich und sozial sind die von Irmgard F. hergestellten Schriftstücke ihrem damaligen Vorgesetzten, dem Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe, einem Obersturmbannführer der SS, zuzurechnen. Es bestehen keine Zweifel, dass dieser ein brutaler Massenmörder war, ließ er doch Inhaftierte durch Giftspritzen, Genickschüsse, zeitweise auch Gas töten. 1945 löste er das Lager auf, vernichtete die Akten, trieb die Insassen in einen Todesmarsch, der bei Neustadt in Holstein mit einem Massaker endete. Er wurde 1953 verhaftet, bestritt lediglich seine Beteiligung am Massaker und wurde 1957 in zweiter Instanz wegen seiner Tätigkeit als Lagerleiter von Stutthof zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt, jedoch nicht als Täter, sondern nur als Gehilfe.

„Die Sichtweise deutscher Gerichte in den 1960er Jahren war eng gekoppelt an das NS-Denken, wonach nur die NS-Machthaber selbst wirksame Befehle zur Vernichtung der Juden geben konnten und durften.“

Dass er nur ein Gehilfe gewesen sei, stellt aus heutiger Sicht eine strafrechtliche Fehleinschätzung dar. Die Sichtweise deutscher Gerichte in den 1960er Jahren war eng gekoppelt an das NS-Denken, wonach nur die NS-Machthaber selbst wirksame Befehle zur Vernichtung der europäischen Juden geben konnten und durften. Daneben ist bemerkenswert, dass Hoppe bereits Ende 1960 aus der Haft entlassen wurde. Er saß also nur drei Jahre im Zuchthaus und führte danach ein unauffälliges Leben. Die Sekretärin Irmgard F. wurde damals als Zeugin gehört. Auf die Idee, auch gegen sie wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord zu ermitteln, kam in den 1950er Jahren niemand. Nun aber steht sie vor Gericht. Wieso hat sich die Bewertung im Jahre 2021 geändert?

Fragen wir zunächst, wieso der Lagerleiter Hoppe und andere prominente Massenmörder nur wegen Beihilfe verurteilt wurden. Der Grund liegt in einer NS-Doktrin, die absurderweise das Regime in abgewandelter Form überdauert hat. Den Befehl zur Ermordung aller europäischen Juden gab Hitler Ende 1941. Nach damaliger Doktrin galten alle, die diesen Befehl umgesetzt haben, als „Gehilfen“. Schon vor dem Frankfurter Ausschwitz-Verfahren, in dem diese Gehilfen-Ideologie in Gestalt einer sog. Einzelfall-Orientierung augenfällig praktiziert wurde, exkulpierte sich Eichmann mit dem historisch falschen Argument, er sei lediglich „Rädchen“ im Getriebe gewesen. Zwar wissen wir heute, dass er pro-aktiv handelte und als Organisator Tatherrschaft hatte, und schon in seinem Verfahren nahmen ihm die israelischen Richter diesen Spruch nicht ab. Interessant ist die Kontinuität dieser Metapher. Sie begründet heute die Kennzeichnung eines Tatbeitrages als Beihilfe zum Massenmord. Doch Metaphern sind keine analytisch klaren Begriffe.

Strafrechtsdogmatisch ist die Einstufung einer eigenverantwortlichen Tätigkeit als Beihilfe zu einer „fremden“ Tat (nämlich nach der NS-Ideologie der Tat der Spitze der Machthaber) nicht nachvollziehbar. Aber dies war die in der Strafrechtsdoktrin übliche Umdeutung der Begriffe der Täterschaft und der Teilnahme, solange noch Täter gelebt haben.

„Ein Jugendgerichtsverfahren darf nicht zum Pranger für eine vergangene Schuld anderer werden.“

Kann man bei der rein technischen Hilfe der jungen Sekretärin zu einer Anklage wegen Beihilfe zu den Verbrechen des Lagerkommandanten kommen? Nach heutiger Sicht war Hoppe Täter (mittelbarer Täter, wenn er nicht selbst unmittelbar getötet hat). Er hatte die organisatorische Tatherrschaft, weil er als Lagerkommandant das Geschehen in Händen hielt. Die Sekretärin hingegen hatte keinerlei Einfluss auf das zum Tode vieler Inhaftierter führende Geschehen. Sie war also sicher keine Gehilfin bei den verbrecherischen Taten, weil sie zwar für den Täter hilfreich gewesen ist, aber nur in seiner Funktion als Verantwortlicher für das Lager als Gesamtorganisation. Sein Schreibbüro war ein Subsystem. Die Zivilangestellten dort waren zwar hilfreich, aber nicht im Subsystem Massenmord.

Im Verfahren gegen Oskar Gröning (2016), auf dessen Verurteilung sich die Anklage gegen Irmgard F. beruft, war der Sachverhalt völlig verschieden. Er war als Wachmann Gehilfe und wurde verurteilt, weil er Teil der Drohkulisse gewesen war. Legt man die dort vom BGH zugrunde gelegten Grundsätze an den Fall vor dem Landgericht Itzehoe an, ergeben sich derartig erhebliche dogmatische Unterschiede, dass die Anklage gegen Irmgard F. schlicht dogmatisch falsch ist. Selbst bei einer funktionalen Betrachtungsweise, die die Strafbarkeit auf das gesamte Lagerpersonal erweitert, gibt es Grenzen. Sie liegen dort, wo objektiv nur der Lagerbetrieb als Ganzes, nicht aber speziell die Tötungshandlungen betroffen sind.

Die Anklage gegen Irmgard F. ist aber nicht nur aus strafrechtsdogmatischer Sicht falsch, sondern auch prozessual höchst problematisch. Ein Jugendgerichtsverfahren eignet sich nicht für die späte Genugtuung der Hinterbliebenen und eines noch lebenden Opfers. Jugendstrafrecht ist rein spezialpräventiv ausgerichtet. Es darf nicht zum Pranger für eine vergangene Schuld anderer werden. Es ist kein Ort für mögliche symbol- und geschichtspolitische Ansinnen. Wenn schon die strafrechtliche Verantwortung höchst fraglich bzw. nach der hier vertretenen Ansicht nicht gegeben ist, dann darf ein solches Verfahren erst gar nicht eröffnet werden. Nun aber sind aus aller Welt Anwälte der Hinterbliebenen und Nebenkläger angereist, die hohe Erwartungen hegen. Doch diese können nicht erfüllt werden – ein tragisches Missverständnis.

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