23.02.2011

Der Demjanjuk-Prozess: Unrecht im Namen der Moral

Von Ruth Berger

Die unangemessene Strenge, mit der die deutsche Justiz den mutmaßlichen Nazi-Verbrecher John Demjanjuk verfolgt, ist moralisch und juristisch fragwürdig. Sie wirft kein gutes Licht auf den Zustand unserer Gesellschaft und dient auch nicht den Nazi-Opfern, findet Ruth Berger

In einem der letzten Prozesse gegen einen mutmaßlichen Nazi-Verbrecher hat der Angeklagte theatralisch einen Hungerstreik angekündigt. Damit will er die Zulassung weiterer Beweismittel erpressen. Dass sich in den sowjetischen Quellen, um die es geht, tatsächlich Entlastungsmaterial findet, erscheint fragwürdig. Allerdings nicht fragwürdiger als der Prozess selbst.

John oder Iwan Demjanjuk, heute neunzig Jahre alt, ist ein Ukrainer, der nach dem Krieg über Deutschland in die USA emigriert ist. In Deutschland wurde im März 2009 ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt – vierundsechzig Jahre nach Kriegsende, als habe man zuvor von der Existenz dieses Mannes nichts gewusst.

Die Autorin dieser Zeilen ist dem Namen Demjanjuk zum ersten Mal vor fünfundzwanzig Jahren in Israel begegnet. Damals spielte sich Ähnliches ab wie heute: Die USA hatten dem Ex-Ukrainer als Nazi-Kollaborateur die Staatsbürgerschaft aberkannt und ihn nach Israel abgeschoben, wo ihm der Prozess gemacht wurde – über Monate ein Top-Thema für die israelische Presse. Hinter Demjanjuk verbarg sich, so die Anklage, “Iwan der Schreckliche”, ein ukrainischer KZ-Aufseher in Treblinka, der für Gewalttaten und Grausamkeit bekannt war. Die Beweise: ein vom KGB bereitgestellter SS-Dienstausweis, der als Einsatzort unter anderem das Vernichtungslager Sobibór nennt, sowie Zeugenaussagen mehrerer Treblinka-Überlebender, die glaubten, in Demjanjuk nach vierzig Jahren “Iwan den Schrecklichen” wiederzuerkennen.

Demjanjuk leugnete, Iwan der Schreckliche oder überhaupt jemals KZ-Aufseher gewesen zu sein. Es war gerade sein Leugnen, seine selbstgerechte Inszenierung als Opfer einer Verwechslung, die damals die israelische Öffentlichkeit und auch mich gegen den Mann aufbrachte.

Das Jerusalemer Gericht verurteilte Demjanjuk 1988 zum Tode, wegen der Verbrechen, die er als “Iwan der Schreckliche” in Treblinka begangen haben sollte. Doch zum Glück für den Angeklagten kamen nach Ende des Prozesses in der Sowjetunion neue Unterlagen ans Licht. Ein Iwan Demjanjuk, so ging daraus hervor, war zwar tatsächlich in Sobibór eingesetzt, aber niemals in Treblinka. “Iwan der Schreckliche” hieß mit Nachnamen Martschenko. Demjanjuk war Opfer eines Justizirrtums geworden.

Der israelische oberste Gerichtshof widerrief 1993 endlich das Fehlurteil. Die Israelis ließen Demjanjuk frei, unter anderem mangels Hinweisen für Straftaten in Sobibór, die für eine neue Verurteilung gereicht hätten.

Warum stellt die deutsche Justiz den Mann jetzt erneut vor Gericht?

Falls John Demjanjuk, was er bestreitet, identisch mit dem SS-Helfer Iwan Demjanjuk ist, so war er vom Rang her das kleinstmögliche Licht in der Hierarchie der NS-Verbrecher. Das wäre freilich noch kein Grund, Demjanjuk von einer Anklage zu verschonen. Schließlich, könnte man meinen, hat er das System Sobibór mitgetragen. Zudem waren die ukrainischen “Hilfswilligen” bei KZ-Häftlingen als besonders grausam verschrieen. In der Ukraine gab es eine lange antisemitische Tradition, die noch heute spürbar ist, und man kann daher Demjanjuk unterstellen, dass er sich mit den Verbrechen der Deutschen gegen die Juden identifiziert und sich nicht ungern und sogar mit besonderer Energie daran beteiligt hat.

Dies ist allerdings eine Unterstellung, für die sich in keinem der bisherigen Prozesse verwertbare Belege finden ließen. Das Lagerpersonal von Sobibór ist in zwei Hagener Prozessen in den sechziger Jahren abgeurteilt worden, als es noch viele lebende Zeugen gab. Damals waren einem Wachmann Iwan Demjanjuk von niemandem Vorwürfe gemacht worden. Sicher bewiesen sind nur Entlastungsmomente.

Iwan Demjanjuk war vor seiner SS-Tätigkeit (sagt die Anklage) in deutscher Kriegsgefangenschaft in den Lagern Rowno und Chelm interniert. Die Zustände in diesen Lagern waren katastrophal. Hitler strebte eine Dezimierung der slawischen Bevölkerung an; der Tod von Millionen Kriegsgefangenen war beabsichtigt. Sich als Hilfswilliger zu melden, wie es Demjanjuk laut Anklage getan haben soll, war einer der Wege, dem Hunger-, Kälte- oder Seuchentod im Lager zu entkommen. Dies bestreitet niemand. Im Gegenteil. Die Behauptung des Angeklagten, er sei nicht der gesuchte KZ-Aufseher, galt dem israelischen Gericht im ersten Prozess unter anderem deshalb als gelogen, weil der Angeklagte in seiner Version mehrere Kriegsjahre statt als KZ-Wächter als Insasse des Kriegsgefangenenlagers Chelm verbracht haben will. Dies, so das Gericht, sei unglaubwürdig, weil ein so langes Überleben in diesem Lager nicht plausibel sei.

Mit anderen Worten, es ist unbestritten, dass Demjanjuk, als er sich im Lager als Hilfswilliger meldete, sein eigenes Überleben sicherte.

Ist aber eine Person, die als Alternative eigene Lagerhaft und Hunger vor sich sieht, fähig, frei moralisch zu entscheiden, ob sie den Massenmord in Sobibór als Wachmann unterstützen möchte? War Wachmann Demjanjuk per se in einer wesentlich anderen Lage als KZ-Häftlinge, die Hilfsleistungen für die Todesmaschinerie erbrachten, um selbst zu überleben, als Zwangsarbeiter, die in der Rüstungsindustrie den deutschen Krieg unterstützten oder als die lettischen Waffen-SS-Zwangssoldaten, die vom deutschen Staat eine Rente erhalten?

Demjanjuk hat zudem für seine damalige, nicht unbedingt freiwillige Beteiligung an der Ermordung Zehntausender bereits einen Preis gezahlt. Er hat heute dreißig Jahre juristische Verfolgung hinter sich, ein Todesurteil – mit allen psychischen Konsequenzen – erlitten sowie einen erheblichen, anhaltenden Rufschaden und siebeneinhalb Jahre Haft. Moralisch erscheint es fragwürdig, den de facto ja bereits bestraften greisen Mann, dessen persönliche Schuld zweifelhaft ist und der Frau und Kinder hat, die das alles schwer belastet, neuerlich juristisch zu verfolgen.

Juristisch gesehen allerdings spräche die in Israel zu Unrecht abgesessene Haft Demjanjuk nicht davon frei, als Wachmann von Sobibór nun erneut vor Gericht gestellt zu werden. Juristisch gesehen ist es richtig, das Leid der Ehefrau und Kinder Demjanjuks zu ignorieren und die Haftzeit nicht zu berücksichtigen, die Demjanjuk bereits abgesessen hat. Haben also die Zentralstelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen sowie die Münchner Staatsanwaltschaft wenigstens juristisch, wenn vielleicht nicht moralisch gesehen, konsequent und richtig gehandelt?

Ich bezweifle das.

Staatsanwaltschaften sind gehalten, nur solche Prozesse zu führen, die gewinnbar scheinen. Das spart Steuergelder, und vor allem erspart es vielen Verdächtigen, aber tatsächlich Unschuldigen einen Prozess. Nach über einem Jahr ist klar, was man mit etwas Hintergrundwissen schon von Anfang an vermuteten musste: Die Staatsanwaltschaft München hat einen Prozess erzwungen, den sie nicht gewinnen kann. Jedenfalls nicht, wenn das Urteil bisher üblichen juristischen Prinzipien folgt.
Die Staatsanwaltschaft führt dem Gericht Zeugen vor, die oder deren Angehörige in Sobibór waren, die aufgewühlt bewegende Berichte vortragen, die aber Demjanjuk nicht kennen. Anders als in Israel, wird Demjanjuk auch gar nicht vorgeworfen, sich eigenhändiger Gewalttaten oder Grausamkeiten schuldig gemacht zu haben. In der Rechtssprechung zu NS-Verbrechen, und nicht nur zu diesen, war nun aber stets solche individuelle Schuld eines Angeklagten die Basis für eine Verurteilung. Diese Rechtstradition bricht die Staatsanwaltschaft München, die Demjanjuk nichts Konkreteres vorwirft, als sechs Monate lang ein Rad im Getriebe eines Vernichtungslagers gewesen zu sein. 

Als solches kann Demjanjuk sich, weit mehr als jeder gewöhnliche SS-Mann oder Waffen-SS-Mann und jeder kleine Wehrmachtsangehörige, auf den Befehlsnotstand berufen. Deutsche SS-Leute sind immerhin freiwillig in eine Organisation eingetreten, deren Verwerflichkeit sie zumindest ansatzweise hätten erkennen können. Wehrmachtsangehörigen war es möglich, die Beteiligung an Kriegsverbrechen (Erschießungen) zu verweigern, ohne dass dies Konsequenzen hatte. Hätte jedoch der KZ-Wachmann Iwan Demjanjuk sich geweigert, das zu tun, was ihm die Anklage heute als einziges vorwirft, nämlich, Gehilfe beim Massenmord zu sein, so hätte er entweder fliehen und sich im besetzten Land über fünfhundert Kilometer nach Hause durchschlagen müssen, oder er wäre in ein Kriegsgefangenenlager überstellt worden. Dort erwartete ihn, wie wir wissen, Gefahr für Leib und Leben.

Deshalb wäre die Staatsanwaltschaft nicht nur aus moralischen, sondern auch aus juristischen Gründen gehalten gewesen, auf eine Anklage zu verzichten. Wenn denn weitere historische Aufklärung der Vorgänge im Vernichtungslager Sobibór nötig gewesen wäre—die Anklagebehörde rühmt sich, durch den Prozess zur Aufklärung beigetragen zu haben –, so hätte man eine Fernsehdoku drehen, Historiker mit Aktenstudien beauftragen und Demjanjuk und die Zeugen zu Hause befragen können. Vielleicht hätte der Mann dann sogar endlich geredet.

Einen nach üblicher Rechtsauffassung nicht verurteilbaren Menschen zu dem Zwecke eines historischen Lehrstückes zwei Jahre zu inhaftieren, mag in totalitären Staaten üblich sein. Ein Ruhmesblatt für einen Rechtsstaat ist es nicht. 

Der Fall Demjanjuk kontrastiert auffällig nicht nur mit der laschen Verfolgung von Nazi-Tätern in der Nachkriegszeit, sondern auch noch mit den neuesten strengeren Nazi-Prozessen gegen Deutsche. Deren Angeklagte hatten leitende Funktionen inne (SD-Chef von Genua im Fall Friedrich Engel, Kompaniechef im Fall Scheungraber oder Leiter eines KZ und eines Ghettos im Fall Schwammberger). Gegen sie bestand ein dringender Tatverdacht zu eigenverantwortlich verübten, individuell feststellbaren Mordtaten—und dennoch erging nicht selten der Haftbefehl erst nach der rechtskräftigen Verurteilung. An Drittländer wie Italien liefert die Bundesrepublik deutsche Nazis und Kriegsverbrecher bis heute nicht aus. Die in Italien verurteilten mutmaßlichen Beteiligten am Massaker von Sant’Anna di Stazzema starben oder leben noch unbehelligt in Deutschland. Dass zahlreiche hochrangige Nazi-Funktionäre, darunter direkte Beteiligte an der Vernichtung der Juden wie der ehemalige Tübinger Bürgermeister Hans Gmelin, gest. 1991, ebenfalls nie angeklagt wurden, ist bekannt.

Warum also jetzt diese Strenge gegenüber dem kleinen Licht Demjanjuk? Die Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen und die Münchener Justiz wollen, scheint es, kurz vor dem Wegsterben der letzten Betroffenen ein symbolisches Exempel für Moral und Prinzipientreue bei der Verfolgung von Nazi-Verbrechen statuieren—ausgerechnet am schwächsten Glied der Kette.

Kein deutsches Presseorgan, abgesehen von unsäglichen antisemitischen und Nazi-Publikationen, kam auf die Idee, dieses Vorgehen klar zu kritisieren. Lieber berichtet man süffisant bis entrüstet über Demjanjuk, der in seiner Rolle als trotziger alter Mann, mit seinen Versuchen, kränker zu wirken, als er ist, in der Tat eine tragikomische Figur abgibt. Ebenso kritisch wertet man die legitimen Verteidigungsstrategien seines Anwalts, als sei es eine Verhöhnung der Opfer von Sobibór, wenn man Demjanjuk zu seinem Recht verhilft. In einigen Presseäußerungen erkenne ich ein Denkschema, wonach ein KZ-Wächter kein Individuum mit individuell juristisch zu beurteilendem Schicksal ist, sondern das Böse an sich symbolisiert, das man in einem kollektiven Selbstbestätigungsritual “gegen die Barbarei” auszubuhen hat.

Der Historiker Norbert Frei äußerte im Spiegel die Ansicht, aufgrund der skandalösen Anfänge der deutschen NS-Justiz seien es sich die Deutschen schuldig, Demjanjuk anzuklagen. Doch zu wenig Eifer in der Vergangenheit wird nicht durch ein Zuviel in der Gegenwart ausgeglichen. Von manchen in Israel und in jüdischen Kreisen der USA  wird dies gerade im Fall Demjanjuk als Heuchelei verstanden. Iwan Demjanjuk trägt keine Verantwortung für alte Versäumnisse der deutschen Justiz, und ein Rechtsstaat wäre es sich schuldig, ihn nicht dafür zu bestrafen, dass seine beiden unmittelbaren Vorgesetzten freigesprochen wurden.

Die symbolische Strenge, mit der John Demjanjuk der Prozess gemacht wird, mag symptomatisch sein für eine Gesellschaft, die in der Vergangenheit nach moralischen Gewissheiten suchen muss, weil sie ihr in der Gegenwart abhanden kommen. Den Opfern der Nazis aber ist anders vielleicht besser gedient: Durch privaten und öffentlichen Einsatz gegen Unmenschlichkeit und Gewalt, gegen religiösen, nationalen oder Rassenhass, gegen Menschenrechtsverletzungen, Diskriminierung und Justizwillkür hier und heute, auch und gerade, wenn sie sich gegen Menschen richten, die nicht zur eigenen nationalen, religiösen oder politischen Gruppe gehören. Damit gewährleisten wir unsere Freiheit, die immer auch die Freiheit des anderen ist.

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