18.09.2020
Globalismus: eine Welt in Ketten (Teil 2/3)
Von Phil Mullan
Die „Herrschaft des Rechts“ ermöglicht es den Mächtigen, den eigenen Vorteil zu verfolgen. Dessen sollten wir uns bewusst sein, wenn wir diesen Begriff hören, der so oft von Globalisten verwendet wird.
Globalisten definieren den Liberalismus häufig als Unterstützung des Rechtsprinzips. Aber die Bedeutung dieses Begriffes ist wahrscheinlich „heute weniger klar als jemals zuvor“. 1 Außerdem wies ein Vertreter der Anhänger der kritischen juristischen Studien darauf hin, dass es die Aufwertung der Verfahrensgerechtigkeit im Rahmen der „Herrschaft des Rechts“ den Mächtigen ermöglicht, „ihre Formen zum eigenen Vorteil zu manipulieren“ 2 . Dessen sollten wir uns bewusst sein, wenn wir den Begriff „Herrschaft des Rechts“ hören, der so oft in globalistischen Aussagen verwendet wird. Daher ist es wichtig, diesen Ausdruck in dem Kontext zu bewerten, in dem er verwendet wird.
Historisch war die Herrschaft des Rechts zweifellos ein entscheidendes Element in der Verbreitung der Freiheit. Diese juristische Sicht der Freiheit wurde vom prominenten Richter am Obersten Gerichtshof der USA, Louis Brandeis, gut auf den Punkt gebracht. Ihm zufolge sei „die Geschichte der Freiheit zu einem großen Teil die Geschichte der Verfahrensanweisungen“.
Das Schlüsselmerkmal des traditionellen Prinzips der „Herrschaft des Rechts“ ist, dass jeder vor dem Gesetz gleich ist. Beamte sollen ihm genauso unterworfen sein wie der normale Bürger. Keiner – nicht einmal der reichste Geschäftsmann oder ein führender Politiker – soll „über dem Gesetz“ stehen. In dieser Form ist die Herrschaft des Rechts eine entscheidende Barriere gegen die willkürliche Ausübung von Macht. In der Vergangenheit hat sie auch dazu beigetragen, eine gesunde Skepsis der Regierten gegenüber den Regierenden zu fördern.
Ursprünglich stammt die Idee der Herrschaft des Rechts aus dem antiken Athen. Nomos (der Vorrang des Gesetzes) trat an die Stelle der physis (Natur) als eine bessere Form, die Gesellschaft zu ordnen. In der athenischen Demokratie war jeder Bürger, ungeachtet seines Reichtums oder seiner Macht, vor dem Gesetz gleich. Als Vertreter der Armen argumentierten die Seefahrer in der Agora, dass das Gesetz die Massen vor den Launen der Reichen und Mächtigen zu schützen habe.
Das Konzept der Herrschaft des Rechts wurde auch in der Römischen Republik aufgenommen. In den frühen Jahren der Republik wurde die Aristokratie durch das Recht begünstigt und nur die Elite kannte die Gesetze. Um 450 v. Chr., nach ca. 50 Jahren der Republik, wurde dieser Fehler korrigiert. Zum ersten Mal wurden in den „Zwölf Tafeln“ die römischen Gesetze niedergeschrieben, so dass jeder das Gesetz kennen konnte. Da die Gesetze nun öffentlich waren, konnten sie auch alle gleich behandeln.
„Historisch war die Herrschaft des Rechts zweifellos ein entscheidendes Element in der Verbreitung der Freiheit.“
Das Prinzip der Herrschaft des Gesetzes wurde in moderner Zeit durch die britische Revolution von 1688 eingeführt. Dadurch wurde die „göttlichen“ Rechte der Könige und die politischen Privilegien der Aristokratie abgelöst. Stattdessen konnte politische Macht nur im Einklang mit den Verfahren und Beschränkungen der öffentlich bekannten Gesetze ausgeübt werden. Diese Herrschaft des Rechts verlangte, dass alle Personen, einschließlich der Regierungsvertreter, die Gesetze befolgen und durch die Gerichte als rechenschaftspflichtig befunden werden. Außerdem konnten Gesetze nur durch konstitutionelle Verfahren geändert und nicht durch individuelle Maßnahmen ungültig oder nichtig gemacht werden.
Diese Vorgehensweise ist noch immer ein wichtiger Schutz vor Oligarchie und Despotismus und gestattet die Verteidigung von Minderheitsrechten. Doch diese liberale Grundorientierung der Herrschaft des Gesetzes wurde im vergangenen Jahrhundert und insbesondere seit den 70er Jahren zunehmend erodiert. Stattdessen wurden die „Herrschaft des Rechts“ und das Rechtssystem zu einem Vehikel für sehr illiberale und undemokratische Handlungen gegen das Volk.
Zweifellos werden viele Globalisten dieser Ansicht widersprechen. Sie ist aber vermutlich weniger kontrovers, wenn man sie im Kontext des Kolonialismus und des Neokolonialismus betrachtet. John Sydenham Furnivall war dreißig Jahre lang britischer Kolonialbeamter in Burma, bis er in den 1930er Jahren nach England zurückkehrte, um als Gelehrter die westliche imperialistische Politik zu kritisieren. Er wurde als „zögerlicher Imperialist“ bezeichnet und trat der damals verbreiteten Auffassung entgegen, dass wirtschaftliche Entwicklung die Voraussetzung für die Unabhängigkeit und Demokratie in den kolonisierten Territorien sei. Er vertrat das Gegenteil: Der Autonomie werden die wirtschaftliche und soziale Entwicklung folgen.
Aus seiner demokratischen Perspektive argumentierte Furnivall, dass die „Herrschaft des Gesetzes“, die die westlichen Mächte ihren Kolonien auferlegte, im Großen und Ganzen der Handelsförderung diente. 3 Er erklärte, dass diese Version der „Herrschaft des Rechts“ eben nicht die Menschen ermächtigte und vereinte, sondern nur den Handel zu Lasten der sozialen und politischen Integrität der kolonialisierten Gesellschaften erweiterte. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Autonomie der Dritten Welt noch weit entfernt war, war Furnivalls Aussage schwer zu widersprechen.
„Die ‚Herrschaft des Rechts‘ wurde zu einem Vehikel für sehr illiberale und undemokratische Handlungen gegen das Volk.“
Die „Herrschaft des Rechts“ ist also keineswegs ein universell gültiger Begriff, sondern muss in ihrem jeweiligen sozialen und politischen Kontext betrachtet werden. Nehmen wir zum Beispiel die Definition des Liberalismus des politischen Wissenschaftlers Francis Fukuyama. Ihm zufolge bedeutet Liberalismus, dass man „allgemein akzeptierte Regeln“ habe‚ „die die Art, in der der Nationalstaat Macht ausüben kann, klar beschränken“.4 Das klingt zunächst durchaus annehmbar.
Die Betonung der „klaren Beschränkung“ birgt jedoch das Potenzial, die „Herrschaft des Rechts“ der Herrschaft durch den demokratischen Willen gegenüberzustellen. Genau das geschah bei der Verbreitung des Wahlrechts im 20. Jahrhundert, als sich der Grundgedanke der Beschränkung der Herrschenden in die Beschränkung der Rechenschaftspflicht der Regierungen gegenüber dem Volk verwandelte. Die Bedeutung der Herrschaft des Rechts hat sich verwandelt. Sie erhält Vorrang gegenüber der Herrschaft durch das Recht – also Rechtsetzung, die gegenüber dem Volk rechenschaftspflichtig ist.
In den 1930er Jahren traf der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt auf diese potenzielle rechtliche Blockade gegenüber der liberalen Demokratie. Er und seine Demokratische Partei waren 1932 gewählt worden, und zwar mit dem Mandat, Maßnahmen einzuführen, um die Auswirkungen der Depression zu mildern. Der Oberste Gerichtshof lehnte jedoch einige der Maßnahmen des New Deal als „verfassungswidrig“ ab und verabschiedete andere nur mit einer knappen Fünf-zu-vier-Entscheidung.
Nach seiner Wiederwahl im Jahre 1936 mit einer noch größeren Mehrheit warf Roosevelt dem Obersten Gerichtshof vor, er habe „nicht als gerichtliche Körperschaft, sondern als politische gehandelt“. Seine vorgeschlagene Lösung, Richter des Obersten Gerichtshofs zu ersetzen, erhielt keine legislative Zustimmung – ein weiterer Baustein der amerikanischen „Checks and Balances“ –, aber durch sein Wahlmandat galt er prinzipiell als der Sieger. Das Oberste Gericht sah sich genötigt, nachzugeben und seine früheren Maßnahmen des New Deal zu genehmigen.
„Die Bedeutung der Herrschaft des Rechts hat sich verwandelt. Sie erhält Vorrang gegenüber der Herrschaft durch das Recht“
Roosevelts Auseinandersetzung mit den Gerichten in den 1930er Jahren nahm bereits die anti-demokratischen Tendenzen der Entwicklung des Rechts nach 1945 vorweg. Durch das Bestehen auf der Unverletzlichkeit der „Herrschaft des Rechts“ können sich verrechtlichte Institutionen als berechtigt ansehen, die Wünsche des Volks, die durch Abstimmungen und Wahlen ausgedrückt werden, zu verwerfen. Die Verantwortung von Regierungen, ihren Wahlmandaten zu folgen, wird entwertet, indem sie auf ihrer höheren Verantwortung gegenüber der Herrschaft des Rechts bestehen.
Schauen wir auf eine typische Formulierung des damaligen Präsidenten der Vereinten Nationen, Kofi Annan, der vor einigen Jahren „ein Prinzip der Regierung“ verteidigte, „in dem alle Personen, Institutionen und öffentliche sowie private Einheiten, einschließlich des Staates selbst, Rechten gegenüber rechenschaftspflichtig sind, die öffentlich erlassen, gleichberechtigt durchgesetzt und unabhängig gerichtlich entschieden werden und internationalen Menschenrechtsnormen und -maßstäben entsprechen“. Auf den ersten Blick klingt das nicht undemokratisch.
Regierungsinstitutionen sollten durch das Gesetz gebunden sein. Regierungen sollten sich nicht nach Belieben über Gesetze hinwegsetzen, die für andere gelten. Doch einem weiteren entscheidenden demokratischen Prinzip nach sind Regierungen dem Volk gegenüber rechenschaftspflichtig. Die erlassenen Gesetze müssen den Wünschen des Volks entsprechen. Wenn nicht genügend Wähler diesen Gesetzen zustimmen oder ihnen anschließend widersprechen, dann können sie die Regierung ersetzen und die Gesetze nach der nächsten Wahl ändern.
Diese Beziehung wird bestenfalls verwässert oder sogar untergraben, wenn nichtgewählte UN-Vertreter behaupten, dass das Gesetz, dem Regierungen Folge zu leisten wünschen, gewissen „internationalen Standards“ entsprechen müsse. Wenn diesen oft vagen und nicht präzisen internationalen „Normen und Standards“ im Effekt ein Vetorecht gegenüber der nationalen Gesetzgebung eingeräumt wird, werden die Entscheidungsfindungsfähigkeiten des Volks im Prinzip, wenn in der Praxis auch nicht immer, aus dem Weg geräumt.
„Roosevelts Auseinandersetzung mit den Gerichten in den 1930er Jahren nahm bereits die anti-demokratischen Tendenzen der Entwicklung des Rechts nach 1945 vorweg.“
Außerdem rechtfertigt diese Perspektive auf das Gesetz, wonach Regierungshandeln bestimmten international bestimmten Kriterien Folge zu leisten hat, internationale Interventionen in die Angelegenheiten souveräner Nationalstaaten. Militärische Interventionen in vielen Nationen wurden damit begründet, dass die Regierungen dieser Länder gegen das Recht verstießen, darunter in jüngster Zeit in Somalia, Serbien, Irak, Libyen und in Syrien. Wie der Historiker Mark Mazower schrieb, wurde die Berufung auf das Recht zu einem „Vokabular der Berechtigung, einem Mittel für die Durchsetzung von Macht und Kontrolle, das das Fragwürdige normalisiert und die Ausnahme rechtfertigt“.5
Die zunehmende Verwendung des Rechts zur Legitimierung der Erosion der nationalen Souveränität ist Teil der umfassenderen Neugestaltung der internationalen Ordnung, indem den supranationalen Institutionen der Nachkriegszeit zunehmend Autorität über nationale Regierungen zugesprochen wird. Diese Erhebung über die populäre Souveränität verleiht ihnen eine höhere und fast entrückte Macht.
Die öffentlichen Erwiderungen vieler Globalisten auf Trumps wohlbekannte Nichtachtung und Feindseligkeit gegenüber diesen Organisationen hat solche Auffassungen deutlich expliziter gemacht. Eine Reihe von Wissenschaftlern der internationalen Beziehungen wandte sich in einer in der New York Times (27. Juli 2018) veröffentlichten Erklärung gegen einige der anti-globalistischen Äußerungen Trumps. Sie behaupteten, UN, NATO, WTO und EU und weitere Nachkriegsinstitutionen hätten die „wirtschaftliche Stabilität“ und „internationale Sicherheit“ gestärkt sowie „nie dagewesenes wirtschaftliches Wachstum“ und die „längste Periode der modernen Geschichte ohne Krieg zwischen den Großmächten“ hervorgebracht. Internationalen Institutionen eine solche Macht zuzusprechen, verkehrt einen frommen Wunsch in eine verkehrte Wirklichkeit.
Ob auch ohne diese Institutionen „Frieden“ im Sinne der Vermeidung von Krieg zwischen den großen Nationen seit 1945 geherrscht hätte, können wir nicht wissen, da es immer nur eine Geschichte gibt. Aber diese Institutionen drücken letztlich nur die Kräfte und Spannungen der Nationen aus, die ihnen angehören. Alleine können diese Institutionen nichts tun, wenn mächtige Staaten sie ignorieren. Der Völkerbund zum Beispiel hat den Zweiten Weltkrieg nicht verhindert, und zwar nicht aufgrund eines institutionellen Defekts, sondern weil die kapitalistischen Staaten sich auf einem durch die damaligen ökonomischen und geopolitischen Konflikte ausgelösten Kollisionskurs befanden. Der Völkerbund konnte das nicht verhindern.
„Militärische Interventionen in vielen Nationen wurden damit begründet, dass die Regierungen dieser Länder gegen das Recht verstießen.“
Ein weiterer Experte der internationalen Beziehungen, Stephen Walt von der Universität Harvard, weigerte sich nicht nur, die Erklärung in der New York Times zu unterzeichnen, sondern kritisierte auch deren Annahmen. Er erklärte, dass diese Institutionen in einer anderen Ära als der heutigen gegründet worden waren. Die meisten, so schrieb er, seien für die heutige Welt nicht mehr adäquat. Er fügte hinzu, dass die Nostalgie für eine Vergangenheit, die nie existierte, heutige Probleme nicht lösen könne. Die sogenannte „liberale Ära“ war nicht so rosig, wie sie heute scheint.
Walt zeigte, dass die Ordnung nie vollständig global war. Es gab „recht viel illiberales Verhalten“, selbst seitens der Länder und Politiker, die stets „liberale Werte“ im Munde führten. Die USA, erinnerte er seine Kollegen, hätten viele autoritäre Herrscher in der gesamten Zeit des Kalten Krieges unterstützt (und tun das noch immer). Eine weniger weit zurückliegende Missachtung internationaler Regeln war die Invasion im Irak 2003, die die USA ohne Genehmigung der UN anführten.
Die Regierungen der USA haben nicht gezögert, die Regeln der liberalen Ordnung zu brechen, wenn es darum ging, ihren nationalen Interessen zu folgen. Dies lag auch der 1971 erfolgten einseitigen Aufkündigung des Wechselkursregimes von Bretton Woods zugrunde, als die USA die zuvor für gut befundenen Regeln nicht mehr einhalten konnten. Nationale Interessen waren für die USA wichtiger, als weiterhin die Hauptverantwortung für das internationale Geldsystem zu tragen. Walt zeigte auch, dass einige der heute verteidigten Institutionen tatsächlich eine Ursache für heutige Probleme sind. Als Beispiel nannte er die NATO. Sie wurde in einer anderen Ära gegründet, als es darum ging, die militärische Macht des Westens während des Kalten Krieges zu koordinieren. Inzwischen ist die NATO eine störende Institution. Ihre Verfolgung einer „schlecht durchdachten Expansion nach Osten“ hat internationale Spannungen wieder angeheizt, statt sie zu dämpfen.
Diesen Institutionen globale Macht zuzusprechen ist nicht nur irreführend, sondern korrodiert auch die Demokratie. Die Förderung nichtgewählter internationaler institutioneller Autorität untergräbt die rechenschaftspflichtige nationale Autorität. Die verminderte Rolle der Bürger in der Entscheidungsfindung wird noch verstärkt, wenn uns gesagt wird, das internationale Organisationen die wirklichen Friedensmacher und die Ingenieure des Wohlstands seien. Die vermeintliche Allmacht solcher Institutionen gibt ihnen einen fast heiligen Status. Daher erscheint den Globalisten die Kritik an ihnen als Sakrileg.
Das war der zweite Teil einer Serie über die globalistische Ideologie:
Teil 1: Globalismus: eine Welt in Ketten (Teil 1/3)
Teil 3: Globalismus: eine Welt in Ketten (Teil 3/3)