27.10.2018

Gefangen in Stickoxid-Grenzwerten

Von Alexander Horn

Titelbild

Foto: ResoneTIC via Pixabay

Die etablierten Parteien probieren, Diesel-Fahrverbote mit Tricks zu umgehen, anstatt bereit zu sein, die Grenzwerte grundsätzlich in Frage zu stellen. So auch in Hessen, wo am Sonntag gewählt wird.

Seit Monaten wird in Deutschland so getan, als ob die Stickoxid-Grenzwerte, die nun vermehrt zu Fahrverboten führen, vom Himmel gefallen seien. Die vor knapp zwanzig Jahren festgelegten Grenzwerte scheinen wie ein göttliches Gesetz, das es zu respektieren gilt – komme, was wolle. Als die AfD zu Beginn des Jahres im Bundestag anregte die Stickoxid-Grenzwerte auf den Prüfstand zu stellen, wurden diese öffentlich geäußerten Zweifel von allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien als Häresie verteufelt. Die aktuellen Grenzwerte sind ein politisches Tabu.

Begründet wird dieses Tabu mit der politischen Steuerungsfunktion, die die Stickoxid-Grenzwerte bewirken. Stelle man die Grenzwerte in Frage, so würde der Druck herausgenommen, behaupten die Grünen. Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel nun ein Hintertürchen im Emissionsschutzgesetz ausgemacht haben will und so Fahrverbote bei nur geringer Grenzwertüberschreitungen als unverhältnismäßig gelten sollen, hat der hessische SPD-Oppositionsführer Thorsten Schäfer-Gümbel postwendend gefordert, anstatt Grenzwerte zu diskutieren müsse im Gegenteil „der Druck auf die Automobilindustrie erhöht werden.“ 1 

Die Stickoxid-Grenzwerte hatten in den letzten zwei Jahrzehnten zweifellos eine wichtige Steuerungsfunktion, denn sie haben in Politik und Wirtschaft zur Orientierung gedient und sukzessiv für verbesserten Emissionsschutz und insbesondere für verschärfte Zulassungsvorschriften für Dieselfahrzeuge gesorgt. Trotz der kontinuierlichen Verbesserung der Motoren und Abgastechnik sind die Diesel-PKW auch heute noch einer der Hauptverursacher für Stickoxide in den Städten. Inzwischen hat sich die Luftqualität in fast allen deutschen Städten dem geforderten Ziel von 40 Mikrogramm Stickoxid pro Kubikmeter Luft jedoch nicht nur angenähert, sondern in der Regel wird der Grenzwert sogar deutlich unterschritten. Es gibt nur noch wenige Städte, in denen an bestimmten Messstationen deutliche Überschreitungen auftreten. Das liegt einfach daran, dass die verschärften Zulassungsvorschriften für eine inzwischen von den Herstellern deutlich verbesserte SCR-Katalysatortechnologie gesorgt haben. Im Stadtverkehr liegt der NO2-Ausstoß dieser Diesel-PKW bei nur noch 20-50 mg/km und damit auf dem Niveau von Benzinmotoren.

Die Stickoxid-Grenzwerte haben somit ihre politische Steuerungsfunktion erfolgreich erfüllt, denn es werden nur noch Diesel-PKW zugelassen, die diesen hohen Standard erfüllen. Völlig zurecht sagte daher kürzlich VW-Chef Herbert Diess, dass sich die wenigen Problemzonen in den Städten „in den nächsten Jahren von selbst auflösen“, einfach indem ältere Dieselfahrzeuge wie bisher sukzessiv von neuen Autos ersetzt werden. Vor diesem Hintergrund erscheinen die nun anstehenden Fahrverbote wie ein schlechter Witz.

„Die Stickoxid-Grenzwerte sind zu einem Art Symbol für lange propagierten ‚richtigen‘ Konsum- und Lebensstil geworden.“

Viele, so auch Diess erklären sich die „beinahe hysterische Stickoxid-Diskussion“ und das Beharren auf diesen Grenzwerten mit einem politisch motivierten „Feldzug gegen die individuelle Mobilität und damit gegen das Auto.“2

Fraglos geht es einem nicht unerheblichen Teil der Protagonisten nicht nur um die von Stickoxiden in hoher Konzentration möglicherweise ausgehenden Gesundheitsrisiken, sondern um die Durchsetzung anderer Mobilitätskonzepte. Diese könnten die deutsche Automobilindustrie, wie Diess fürchtet, sogar in ihrer Existenz bedrohen. Als Erklärung dafür, wieso fast das gesamte Parteienspektrum von einer allgemeinen Stickoxid-Panik erfasst ist und eine mit Sinn und Verstand geführte Diskussion nicht mehr möglich ist, greift diese These wohl zu kurz.

Dass die etablierten Parteien die Stickoxid-Grenzwerte als politisches Tabu empfinden, lässt sich erst verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, in welch existenzieller Krise sich das gesamte Parteienspektrum, vor allem aber die beiden großen Volksparteien inzwischen befinden. Der Vertrauensverlust in Staat und Politik ist inzwischen so massiv, dass sich die Parteien händeringend an Themen klammern, bei denen sie zumindest eine gewisse politische Glaubwürdigkeit ausstrahlen. Dies gelingt am ehesten noch bei Themen, die mit der Abwehr von Risiken – realen oder hypothetischen – zu tun haben, vor allem im Bereich Umwelt und Klima. Daher propagieren sie gerne und ausgiebig eine nachhaltige, risikominimierte und generell umweltschonende Lebensweise, mit der sich viele Menschen identifizieren können. Gleichzeitig ist ein derart ausgerichteter Konsum- und Lebensstil auch für die politische Klasse selbst identitätsstiftend und schafft durch die weitreichende gesellschaftliche Zustimmung eine wichtige Legitimationsgrundlage und einen Quell ihrer politischen Autorität.

Die enorme Bedeutung dieser Themen zeigte sich erneut vor einigen Tagen, als auf Antrag der Grünen eine aktuelle Stunde im Bundestag anberaumt wurde, um praktisch unmittelbar nach der Veröffentlichung die neuesten Erkenntnisse des Weltklimarats IPCC zu diskutieren. Einem Ritual gleich versicherten sich die Redner öffentlich ihrer Verantwortung zur Rettung des Weltklimas. Einen „Weckruf“ sahen darin sowohl CDU-Bundeswirtschaftsmister Peter Altmaier wie auch SPD-Umweltministerin Svenja Schulze, die im Plenum in vibrierender Stimme beteuerte in Anbetracht der Klimabedrohung „alles“ zu tun.3 

Die etablierten Parteien fürchten durch eine Infragestellung der Stickoxid-Grenzwerte noch mehr an Glaubwürdigkeit zu verlieren und somit ihr wichtigstes politisches Kapital weiter zu verspielen. Schließlich würde das Ausscheren aus der heiligen Allianz der Grenzwert-Verfechter eine politische Begründung erfordern. Diese müsste die zumindest vorübergehende Überschreitung der gegenwärtigen Grenzwerte rechtfertigen und würde gleichzeitig der seit langem propagierten Grundhaltung widersprechen. Das böte dem politischen Gegner reichlich Angriffsfläche, was tunlichst vermieden werden soll. Und am besten gelingt diese Vermeidungstaktik, wenn man den Gegner sogar an Standfestigkeit übertrifft. Die Stickoxid-Grenzwerte sind so zu einer Art Symbol für lange propagierten „richtigen“ Konsum- und Lebensstil geworden, an dem nicht gerüttelt werden darf.

„Was von all dem zu halten ist, darüber wird der Wähler – in Hessen schon an diesem Sonntag – entscheiden.“

So lähmt sich die Politik selbst. Die Angst vor einem politischen Selbstmord, der bei einer öffentlichen Infragestellung der Stickoxid-Grenzwerte befürchtet wird, verhindert einen politischen Lösungsansatz auf der Ebene der Gesetzgebung. Da eine politische Lösung somit blockiert ist, wurde das Problem auf die Verwaltungsebene geschoben. Hier kommt der Deutschen Umwelthilfe die Rolle des bösen Buben zu, der Fahrverbote einfordert, und den Gerichten die Rolle des für Fahrverbote Verantwortlichen. Aber die Hoffnung der Politik, sich so aus der Verantwortung stehlen zu können, hat sich nicht erfüllt und droht zumindest der CDU und der SPD bei der anstehenden Landtagswahl in Hessen gehörig auf die Füße zu fallen. Aus Angst vor den vielen von möglichen Fahrverboten betroffenen Wählern ist die Politik nun auf sehr aktivistische Weise darum bemüht, das verwaltungstechnisch kaum lösbare Problem doch noch mit bürokratischen Kniffen vor der Wahl irgendwie „abzuräumen“.

Wie hier getrickst wird, erinnert an Bananenrepubliken, in denen demokratische und rechtliche Standards keine Rolle spielen. Bundeskanzlerin Merkels kreative Gesetzesinterpretation wurde bereits angesprochen. Gleichzeitig werden die deutschen Automobilhersteller ohne Rechtsgrundlage dazu genötigt, beim Verkauf von Neufahrzeugen an von Fahrverboten betroffene Dieselfahrer hohe „Umweltprämien“ anzubieten. Gleiches gilt für Nachrüstungen, die ebenfalls von den Automobilherstellern gezahlt werden sollen. Dass sich die deutschen Automobilhersteller noch immer dagegen stäuben, wollte der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) im Gespräch mit der F.A.Z. vor einigen Tagen nicht akzeptieren und gab unmissverständlich drohend zu verstehen, die Automobilindustrie sei doch „darauf angewiesen, aufs engste mit der Politik zusammenarbeiten.“ Als nicht klug bewertete Bouffier hingegen die Ankündigung seines SPD-Kontrahenten Schäfer-Gümbel, der von Opel keine Dienstwagen mehr einsetzen wolle, solange sich der Konzern weigere, die Kostenübernahme für Umrüstungen zu übernehmen.

Obendrein führen sich die Parteien auf wie Chamäleons. Während sie die Stickoxid-Grenzwerte als richtig für Umwelt und Gesundheit verteidigen, legen sie  – wie es beispielsweise in Hessen die von CDU und Grünen geführte Landesregierung tut – Rechtsmittel gegen Gerichtsentscheidungen ein, die geeignet sind endlich die von ihren Parteien gesetzlich vorgegebenen Grenzwerte zu erreichen. Was von all dem zu halten ist, darüber wird der Wähler – in Hessen schon an diesem Sonntag – entscheiden.

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