02.10.2018

Fahrverbotsdebakel als Demokratiedefizit

Von Alexander Horn

Titelbild

Foto: andreas160578 via Pixbay / CC0

Im Umgang mit Diesel-Fahrverboten und Grenzwerten schieben die Politiker ihre Verantwortung ab und scheuen eine bürgernahe Diskussion.

In einer Rede auf dem deutschen Politologenkongress warnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kürzlich vor den Gefahren, denen die „liberale Demokratie, die Herrschaft des Rechts“ heute ausgesetzt sei. Diese werde gewissermaßen in die Zange genommen „durch das Neben- und Gegeneinander von populistischen und technokratischen Tendenzen“, die beide den „Nutzen und den Wert von Parteien, Parlamenten und repräsentativen Verfahren“ in Zweifel ziehen. Die Parteien sollten sich der Kritik dieser Strömungen stellen, die Missstände und Mängel aufzeigten, indem sie „die Distanz zum Bürger verringern und die Auseinandersetzung mit Wählerinnen und Wählern suchen.“ 1

Leider hat Steinmeier davon abgesehen, seine Analyse auf aktuelle Debatten zu beziehen. Im aktuellen Fahrverbotsdebakel hätte er reichlich Anschauungsmaterial gefunden. Hier offenbart sich nicht nur die enorme Legitimations- und Vertrauenskrise, mit der Politik und Staat inzwischen konfrontiert sind. Es wird auch deutlich, dass die Reaktionen der etablierten Parteien diesen Vertrauensverlust in die demokratische Ordnung selbst vorantreiben.Schon sehr lange ist klar, dass die vor zwei Jahrzehnten festgelegten Grenzwerte für die Stickoxidbelastung in vielen deutschen Städten auf absehbare Zeit nicht eingehalten werden können. Dies liegt daran, dass die eingeleiteten Maßnahmen zur Reduzierung der Stickoxidemissionen nicht genügen, um die ambitionierten Grenzwerte zu erreichen.

Andererseits hat der Bundestag als gesetzgebende Instanz bisher keine Notwendigkeit gesehen, diese Grenzwerte zu überprüfen. Die Grenzwerte gehen ursprünglich auf einen Vorschlag der EU-Kommission von 1997 zurück, die zuvor einen entsprechenden Auftrag von den EU-Mitgliedsstaaten erhalten hatte. In diesem Vorschlag tauchte erstmals der Stickoxidgrenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresdurchschnitt auf, zu dessen Begründung die Kommission auf Erkenntnisse der Weltgesundheitsorganisation WHO verwies. Die Entscheidung durch die EU-Gremien, diesen Grenzwert bis zum Jahr 2010 erreichen zu wollen, setzte Deutschland in nationales Recht um und im Jahr 2002 bestätigte der Bundestag die Grenzwerte per Gesetz. Nachdem klar wurde, dass die Werte bis 2010 nicht flächendeckend erreichbar würden, erlaubte die EU Fristverlängerungen bis 2015 zu beantragen, was für viele deutsche Städte genutzt wurde. Seitdem wird geltendes Recht durch die Überschreitung der Stickoxidgrenzwerte dauerhaft verletzt.

„Wenig Interesse besteht daran, die erforderlichen harten Maßnahmen gegenüber den davon betroffenen Bürgern zu rechtfertigen.“

So hat der Bundestag die ihm eigentlich obliegende politische Veranidtwortung, die Sachlage vernünftig zu regeln, nicht übernommen und die Verantwortung praktisch an die Gerichte delegiert. Die Parteien haben nicht die Courage, öffentlich durchzudeklinieren, welche Maßnahmen erforderlich wären, um die seinerzeit von der EU gesetzten Grenzwerte zu erreichen. Noch weniger Interesse besteht daran, die erforderlichen harten Maßnahmen gegenüber den davon betroffenen Bürgern zu rechtfertigen, also – wie Steinmeier fordert –„die Distanz zum Bürger [zu] verringern und die Auseinandersetzung mit den Wählerinnen und Wählern“ zu suchen.

Umgekehrt fehlt bei den etablierten Parteien aber ebenso die Bereitschaft, die Grenzwerte in Frage zu stellen. Sie fürchten, durch einen solchen Schritt an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Schließlich propagieren sie gerne und ausgiebig einen nachhaltigen, risikominimierten und generell umweltgerechten Lebensstil, mit dem sich viele Menschen identifizieren, und beziehen daraus Legitimation. Die Angst vor dem Wähler und einer politischen Auseinandersetzung mit ihm veranlasst die Politik dazu, die Entscheidung an nicht gewählte staatliche Institutionen zu delegieren. So gelingt es, in einem für den Bürger allerdings durchsichtigen Manöver, die politische Verantwortung abzustreifen. Als weitere Verschleierungstaktik wird gezielt versucht, die Automobilkonzerne – seit der Dieselkrise ohnehin die üblichen Verdächtigen – bestmöglich als die Schuldigen für das Fahrverbotsdesaster aufzubauen. Die Politik versteckt sich hinter Gerichtsentscheidungen und Schuldzuweisungen, weicht dem demokratischen Diskurs aus und entwertet so letztlich die Demokratie. Der Vertrauensverlust der Wähler wird von den Parteien durch diese ängstliche Reaktion quittiert.

Indem die Politik schwierige Entscheidungen meidet und möglichst an Gerichte, Expertenkommission oder die EU delegiert, lässt sie den Wähler die eigene Einflusslosigkeit spüren. Hier zeigen sich in aller Deutlichkeit die von Steinmeier angesprochenen „technokratischen Tendenzen“, die den „Nutzen und den Wert von Parteien, Parlamenten und repräsentativen Verfahren“ in Zweifel ziehen.

„Der Kuhhandel mit den deutschen Automobilherstellern ist nicht geeignet, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken.“

Die berechtigte Angst, bei der hessischen Landtagswahl in wenigen Wochen von einem Teil der Wähler abgestraft zu werden, hat die schwarz-grüne Landesregierung offenbar darin bestärkt, die von Steinmeier kritisierte „Distanz zum Bürger“ noch auszuweiten. Anstatt die durch Tatenlosigkeit billigend in Kauf genommene gerichtliche Entscheidung für Fahrverbote politisch zu verteidigen, setzt sie die Auseinandersetzung auf der bürgerfernen, gerichtlichen Ebene fort, indem Einspruch gegen die Fahrverbote erhoben wird.  Andererseits wurde die Bundesregierung aufgefordert, die Nachrüstung von Diesel-PKW durchzusetzen. Dabei war zu diesem Zeitpunkt bereits völlig klar, dass es keinerlei rechtliche Handhabe dafür gibt, die Automobilhersteller für nicht eingehaltene Luftreinhaltungswerte haftbar zu machen. Sie sind schließlich nur für die Einhaltung der Zulassungskriterien ihrer Fahrzeuge verantwortlich. Die Bundesregierung machte sich dennoch diese Forderung zu eigen und erhielt von den ausländischen PKW-Anbietern postwendend die Antwort: „Wir werden nichts umbauen, wir haben nichts verbrochen“, so ein Toyota-Sprecher.

Der nun eingeleitete offensichtliche Kuhhandel mit den deutschen Automobilherstellern ist ebenso wenig geeignet, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken. Einerseits existiert eine aufgeheizte Stimmung gegenüber den Automobilkonzernen, in der die von Steinmeier völlig zurecht angemahnte „Herrschaft des Rechts“ zur Disposition zu stehen scheint. Den Herstellern soll die Hauptlast für Fahrzeugrücknahmen und teure Nachrüstungsaktionen aufgebrummt werden. Da die Unternehmen keine Wohltätigkeitsvereine sind, sondern in einem höchst umkämpften Markt bestehen müssen, werden sie das im Interesse ihrer Mitarbeiter und Aktionäre nicht einfach über sich ergehen lassen können.

Einen Einblick in die Stimmung in den Unternehmen lieferte kürzlich der VW-Betriebsratsvorsitzende Bernd Osterloh, der im Interview gegenüber der F.A.Z. sagte, zum Thema Diesel und Fahrverbote sei er „noch nie von so vielen Menschen umgeben gewesen, die mit Halbwissen“ diskutieren. Es rege ihn auf, „dass in Berlin viele Politiker nicht mehr wissen, was außerhalb der Hauptstadt los ist […] Die Menschen wollen und brauchen den Individualverkehr. Und die Lösungen müssen für die Kunden bezahlbar sein.“2 Wie beim Atomausstieg besteht das Risiko, dass von der Regierung Entscheidungen getroffen werden, die zwar in Teilen der Bevölkerung viel Zustimmung erhalten, wohl aber Milliardenschäden bei den Unternehmen verursachen, die wegen ihrer Unrechtmäßigkeit dann doch vom Steuerzahler gedeckt werden müssen.

„Die Diesel-PKW, sind mitnichten Hauptverursacher für Stickoxide in deutschen Innenstädten.“

Sofern die Unternehmen „freiwillig“ die Kosten von Fahrzeugrücknahmen und Umrüstungen übernehmen sollten, wird dieser Deal wohl kaum ohne mehr oder weniger intransparente Gefälligkeiten funktionieren, schon weil die Bundesregierung die reale Gefahr erkennt, die Automobilindustrie zu überfordern. Nicht zufällig ist die vom SPD-geführten Umweltministerium erhobene Forderung nach einer weiteren drastischen Verschärfung des CO2-Ziels für die Fahrzeugflotten der Automobilhersteller jüngst zurückgenommen worden. Auch liegt der Bundesregierung viel daran, eine deutsche Batteriezellenfertigung – möglichst in den vom Braunkohleausstieg betroffen Regionen ­– aufzubauen, an der die Industrie bislang kein Interesse hat. Klar ist, dass es wieder einmal teuer, vielleicht sogar sehr teuer wird. Obendrein bleibt äußert fraglich, ob damit Fahrverbote vom Tisch kommen, denn die Stickoxidgrenzwerte sind auch mit den ins Auge gefassten Maßnahmen kurzfristig nicht zu unterschreiten. Der Grund dafür scheint gar nicht in die aktuelle Debatte zu passen: Die Diesel-PKW, um die es geht, sind mitnichten Hauptverursacher für Stickoxide in deutschen Innenstädten. Der Atmosphärenforscher Dr. Franz Rohrer vom Forschungszentrum Jülich hat kürzlich darauf hingewiesen, dass Diesel-PKW nur für etwa 33 Prozent der Stickoxidemissionen im Verkehr verantwortlich sind und eine Nachrüstung von LKW und Bussen sehr viel effektiver und kostengünstiger wäre.

Es bleibt zu hoffen, dass die Wähler das aufgeführte Spektakel nicht als Wesenszug der Demokratie fehlinterpretieren und erkennen, dass es den etablierten Parteien offenbar an der Fähigkeit mangelt, die Bürger in den politischen Willensbildungsprozess zu integrieren.

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