15.11.2012

Friedens- und Konfliktforschung? Endlich abwickeln!

Kommentar von Yoni Esphar

Der Westen muss sich endlich von überkommenen Konfliktlösungsmodellen der Friedens- und Konfliktforschung abwenden. Diese sind unwirksam, weltfremd und bevormundend

Auch wenn Johan Galtung immer wieder als „Vater der Konfliktlösung“ hochgejubelt wird, zeigen seine letzten verschwörungstheoretischen und anti-jüdischen Bemerkungen in der norwegischen Zeitschrift Humanist einmal mehr, dass er alles andere als ein Friedensstifter ist. Mit ein bisschen Glück ist dieser Skandal nicht nur der letzte Sargnagel für Galtungs Ruhm, sondern hilft auch dabei sein Lieblingskind, die Friedens- und Konfliktforschung, endlich zu Grabe zu tragen.

Manche Kommentare von Galtung würden selbst professionelle Verschwörungstheoretiker vor Scham erröten lassen. Während einer Vorlesung in seinem Heimatland Norwegen behauptete er, dass der Mossad, Israels Geheimdienst, hinter den Massakern in Utoya vom letzten Sommer stehen könnte, bei denen der Killer Anders Behring Breivik dutzende vorwiegend jugendliche Teilnehmer eines Sommercamps der norwegischen Sozialdemokraten ermordet hatte. Er merkte an, dass das Attentat am Jahrestag des Bombenanschlags auf das King David Hotel in Jerusalem stattfand, das 1946 von der jüdischen Untergrundorganisation Irgun verübt wurde. Ebenso erzählte er der norwegischen Presse, dass die Juden die weltweiten Medien kontrollieren würden und so eine pro-israelische Ausrichtung garantieren würden. Er verteidigte das notorisch antisemitische Traktat Die Protokolle der Weisen von Zion und meinte, dass trotz aller Schrecken Auschwitz doch „zwei Seiten“ hätte, weil einer der Gründe für antisemitische Ressentiments in der damaligen Zeit darin bestanden hätte, dass die Juden einflussreiche Positionen in Deutschland innehatten.

Obwohl Galtungs uralte antijüdische Theorien hinterhältig und verdammenswert sind, sind sie doch weniger schädlich als die irreführenden Ideen, die er während seiner langen wissenschaftlichen Karriere mit großem Erfolg entwickelt und verbreitet hat. 1959, im zarten Alter von 29 Jahren, gründete er das Institut für Friedensforschung in Oslo (Peace Research Institute PRIO). 28 Jahre später, 1987, wurde er mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Als Begründer der Friedens- und Konfliktforschung ist er weit bekannt und anerkannt.

Es gibt zwei Aspekte bei Galtungs Art, Konflikte anzugehen, die besonders beunruhigend sind. Der erste ist die Vorstellung, dass Konflikte grundsätzlich recht einfach zu lösen wären. Für fast jeden Fall, den er untersucht, bietet er ein aus zwei Wörtern bestehendes Lösungsrezept: Föderation und Gandhi. Ob es um den Sudan geht, Israel, Irak, Kosovo oder Syrien, Galtungs Lösungsvorschlag besteht immer darin, eine Föderation nach Schweizer Vorbild zu gründen. Und was, wenn einige Leute in den jeweiligen Ländern diesen Vorschlag ablehnen? Begegne ihnen wie Gandhi mit gewaltlosem Widerstand. So einfach, so genial. Warum dauern Konflikte dann so lange? Liegt das vielleicht am Mossad, dem CIA und MI6?

Der zweite beunruhigende Aspekt von Galtungs Herangehensweise ist der Glaube, dass Außenstehende immer ein besseres Verständnis des Konflikts haben als die, die darin geboren wurden, darin leben und vielleicht von ihm getötet werden. Seine Worte: „Jedes Mal, wenn man von einem neuen Konflikt hört, wechselt der Konflikt seine Farbe und man sieht ihn aus einem neuen Blickwinkel, einem neuen Blickwinkel und wieder einem neuen Blickwinkel. Und weil die Beteiligten oft nicht miteinander reden, hat der Mediator oft einen besseren Überblick als sie selbst.“ Jau. Und dann, wenn man einmal fühlt, dass man den Konflikt besser versteht als die daran Beteiligten, dann versammelt man sie alle in einem Raum und sagt: „Hey alle zusammen, wie wär’s mit einer Föderation?“

Ich weiß nun nicht, wie viele Konflikte Galtung zu lösen geholfen hat (er bezieht sich immer nur auf einen Erfolg, die Beendigung der Kämpfe zwischen Peru und Ecuador), aber die Behauptung, dass Außenstehende einen besseren Überblick über gewaltsame Konflikte hätten als Ortsansässige, entbehrt jeder Grundlage. Heutzutage, wo Gewalt in wachsendem Maße weltweit sichtbar wird, bleiben die Charakteristika und Dynamiken der lokalen Sicht- und Denkweisen – also der Ideologien, Ängste, Bestrebungen und Vorurteile – für Außenstehende dennoch meistens undurchschaubar. Diese wachsende Lücke zwischen Sichtbarkeit auf der einen und Unverständnis auf der anderen Seite lässt uns so oft so ratlos auf Ereignisse in anderen Ländern schauen, selbst bei solchen, die wir gut zu kennen meinen.

Es ist verstörend, wie Galtung und seine akademischen Landsleute als „anti-westliche“ Ideologen posieren, während sie gleichzeitig als Apostel der westlichen Bevormundung agieren. Schließlich käme niemand von ihnen auf die Idee, nichtwestliche Akteure in die entwickelte Welt kommen zu lassen, um Tipps für die Gestaltung der dortigen Politik und Gesellschaft zu geben. Hätten „Experten“ wie Galtung je vorgeschlagen, einen chinesischen Professor nach Nordirland zu schicken, um dort als Mediator zu fungieren, weil er oder sie einen „besseren Überblick“ über die Unruhen hätte als die Katholiken oder Protestanten in Irland? Wie würden sie auf eine angolanische Menschenrechtsorganisation reagieren, die den IWF auffordert, einen Kredit für europäische Staaten mit geringer Finanzkontrolle und Transparenz zurückzuhalten? Was, wenn ein indonesischer Soziologe rund um die Welt Vorlesungen darüber halten würde, dass man den Föderationen Belgien und Kanada nicht erlauben dürfe, auseinanderzugehen, und dass Spanien, Frankreich und Italien Föderationen werden sollten, um die Rechte ihrer Minderheiten zu schützen? Hätte jemand davon auch nur Notiz genommen?

Deshalb ist die aktuelle Kontroverse um Galtung potentiell eine gute Nachricht. Sie ist der Kritik sehr ähnlich, die Anfang des Jahres anlässlich der Kony-2012-Kampagne aufkam – ihr wurde vorgeworfen, ein zu vereinfachtes und faktenarmes Bild des komplexen Konflikts in der Republik Kongo zu zeichnen. So könnte das Schwinden von Galtungs Reputation das Ende der Ära beschleunigen, in der diese Asymmetrie manchen Leuten so natürlich erschien.

Vielleicht werden Historiker eines Tags darüber streiten, warum so viele junge und begabte Europäer vor drängenden Problemen und großen Herausforderungen in ihren eigenen Ländern wegliefen, um Probleme an exotischeren Orten zu lösen. Vielleicht werden sie feststellen, dass sie es nicht nur aus Spaß und Abenteuerlust taten, sondern weil Leute wie Galtung ihnen gesagt hatten, dass sie das schaffen würden, und ihnen tolle Dreiecksmodelle und Methoden für den Gruppendialog mitgaben, die sie als Werkzeuge „im Feld“ nutzen sollten.

Die Idee dabei ist, Konflikte durch die Einrichtung föderaler Strukturen, die Kombination von Frieden und Gerechtigkeit, einem positiven Blick in die Zukunft und den Prämissen des gewaltlosen Widerstand zu lösen. Kurz gesagt, durch all die Dinge, die in Europa niemals geschahen.

Diejenigen von uns, die in konfliktgeschüttelten Gesellschaften leben, würden am meisten von einem Ende der Ära Galtungscher Konfliktlösung profitieren. Wir haben kaum je einen Nutzen aus weltfremden Universitätskursen bei Konfliktlösung und Friedensaufbau gezogen. Vielleicht werden wir zumindest Galtungs Theorien los, die nur falsche Vorstellungen vom Frieden als harmonischem, gerechtigkeitstriefendem Nirwana, vom Föderalismus als magischer Allerwelts-Problemlösung und von gewaltlosem Widerstand als Ersatz für die politische Kunst der Verhandlung und des Kompromisses nähren.

Externe Mediatoren sind nicht überholt, aber diejenigen, die diese Rolle übernehmen wollen, müssen sich durch ein außergewöhnliches Maß an Ehrlichkeit, Neutralität und Bescheidenheit auszeichnen. Dies sind drei Qualitäten, die in keiner Weise von Galtung verkörpert werden oder bei der Friedens- und Konfliktforschung erkennbar sind.

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