11.08.2020

Frankreichs Spaltung

Von Josie Appleton

Titelbild

Foto: U.S. Department of State via Flickr

Marine Le Pens Rassemblement National spaltet die französische Gesellschaft. Die Gelbwesten sind eine Bewegung jenseits dieser Kluft. Ein Beitrag von 2019 aus dem Band „Grenzen und Spaltungen“.

Oft werde ich gefragt, wie weit in Frankreich migrantenfeindliche Stimmung verbreitet ist. Der Grund ist natürlich Marine Le Pens Rassemblement National (RN – ehemals Front National, FN). Die Partei ist für ihre Stimmungsmache gegen Migranten bekannt. Aber ist es das, was sie so erfolgreich macht?

Zwei Dinge sind es, die ich oft von Anhängern Le Pens höre. Erstens: „Es muss sich etwas ändern“ und zweitens: „Frankreich war früher besser“. Sie haben also einen Wunsch nach Veränderung, der aber gleichzeitig von einem Gefühl des Verlusts oder einer Ablehnung des heutigen Staates geprägt ist. Die Ladenbesitzer listen die Preise für Alltagsgegenstände wie Eier und Milch auf – und weisen darauf hin, wie viel teurer sie geworden sind. Alles, auch die Inflation, wird als Beweis für den Niedergang Frankreichs angesehen.

Wenn die Unterstützer von Marine Le Pen die Einwanderung (insbesondere die muslimische) ablehnen, dann lässt sich dies am besten durch das Prisma dieses Verlustgefühls erklären. Es geht nicht in erster Linie um Rassismus. Die Ablehnung entsteht vielmehr aus dem Gefühl, dass die „normalen“ Franzosen von der etablierten Politik nicht mehr richtig ernstgenommen werden – oder ihren Status als Bürger, die bevorzugt behandelt werden sollten, verloren haben. Die arbeitenden Franzosen haben keinen Vorrang mehr, also muss jemand anderes an ihre Stelle gerückt sein. Der Immigrant ist für sie zu einer Figur geworden, die mehr Priorität genießt als sie selbst. „Les Français d’abord!“ – Franzosen zuerst – war ein Slogan des Front National, und die Partei hat Richtlinien für die Bevorzugung von Franzosen entwickelt. „Es gibt auch in Frankreich Obdachlose“, heißt es, „warum hilft man nicht ihnen, bevor man Syrern hilft?“

Für viele Le Pen-Anhänger ist der Immigrant auch eine Figur, die die französische Kultur untergräbt. Er sei nicht bereit, die herkömmliche Art des gegenseitigen Umgangs zu akzeptieren. Einwanderer wollen sich nicht integrieren, sagt man; sie respektieren Frankreich nicht. Also sind sie anscheinend der Grund dafür, dass sich die Franzosen in ihrem eigenen Land nicht mehr zu Hause fühlen: „Nous sommes chez nous“ (Wir sind zu Hause) ist ein weiterer Slogan, der sich oft gegen die Einwanderer richtet, die für das Unbehagen vieler Menschen verantwortlich gemacht werden.

„Überall, auch in abgelegenen Orten, auf Brücken und in kleinen Bergdörfern, stößt man auf Rassemblement-National-Wahlplakate."

Die Wurzeln des Front National liegen in den 1950er Jahren und gehen auf den Poujadismus zurück – eine Protestbewegung gegen die staatliche Bürokratie und das Big Business. Der Poujadismus, benannt nach Pierre Poujade, verkörperte die Weltanschauung des kleinen Händlers und Ladenbesitzers, der von Steuern, Pariser Bürokraten und dem Einfluss der Großunternehmen geplagt wurde. Der kleine Selbständige war auch einer der wichtigsten Wähler von Jean-Marie Le Pen (ehemaliger Poujadist und Marine Le Pens Vater), der in den 1970er Jahren den Front National gründete.

Die Partei stand für Unabhängigkeit und harte Arbeit, traditionelle Moral und Familienwerte. Sie richtete sich gegen staatliche Bürokratie, Wohlfahrtstaat, Europa und das Großkapital sowie Intellektuelle, Einwanderer und Homosexuelle. Bis heute spiegelt die Nachfolgepartei des Front National, der Rassemblement National, in gewisser Weise die Werte und Perspektiven des Kleinunternehmers wider. Das gilt insbesondere für die südlichen und südwestlichen Regionen. Dies sind Regionen, in denen die alte französische Gemeinschaft und Lebensweise noch am deutlichsten vorhanden ist. Hier sprechen die Wähler nicht von einer Fantasievorstellung des Französischen. Hier gibt es das Französische wirklich. Es beschreibt, wie die Menschen tatsächlich leben, und die Forderung der Le Pen-Unterstützer besteht darin, dass dieser Lebensstil respektiert und geschützt werden soll. Dieser Wunsch ist es, der der Partei ihre soziale Basis verschafft.

Am Anfang war der Front National so etwas wie ein Auffangbecken für verschiedene unzufriedene Gruppen. In den 1970er Jahren waren dies z.B. die Monarchisten, die die Französische Revolution und die Gründung der Republik bedauerten, die Antisemiten und Kriegskollaborateure, die sich nach dem faschistischen Vichy-Regime sehnten. Eine weitere Gruppe waren die Kolonialisten, die dem Verlust Algeriens, das Anfang der 1960er Jahre unabhängig wurde, nachweinten. Zu diesen „Verlierern“ sind jedoch im Laufe der Zeit zahlreiche weitere Wähler hinzugekommen, die einfach nur unzufrieden mit der etablierten Politik waren. Die Krise der Politik hat immer mehr und neue Wählergruppen angespült. So sind auch ehemalige Kommunisten, Sozialisten, Gaullisten, junge Arbeitslose und sogar Teile der Business Class zum Front National gestoßen. Jeder Zerfall einer Institution wie z.B. der Parti Socialiste (PS), hat zu neuen Unterstützern geführt.

Marine Le Pen, seit 2011 Parteichefin, hat versucht, sich von der unappetitlichen Vergangenheit des FN zu distanzieren, indem sie erst ihren Vater, der zu einer Belastung geworden war, entmachtete und dann eine generelle Politik der Entdämonisierung einleitete (deswegen wurde auch der Name geändert). Um die Partei zur ersten Anlaufstelle für Unzufriedene zu machen, hat sie auch ihre Rhetorik angepasst. Die Partei hat sogar versucht, sich der jüdischen Gemeinschaft anzunähern und sie hat Universitätsgruppen an Eliteschulen wie der Sciences Po gegründet. Die Partei sagt, sie sei weder links noch rechts, und ihre Politik setzt sich aus verschiedenen Elementen, die aus unterschiedlichen Interessengebieten stammen, zusammen. Dazu gehören Steuersenkungen auf der einen Seite und sozialstaatliche Maßnahmen wie die 35-Stunden-Woche auf der anderen.

Die Anhänger dieser Partei scheinen eine Energie und Überzeugung aufzuweisen, die die der anderen übertrifft. Überall, auch in abgelegenen Orten, auf Brücken und in kleinen Bergdörfern, stößt man auf Rassemblement-National-Wahlplakate. Die Plakate sind nicht selten beschmiert (Marine Le Pen trägt oft einen Schnurrbart), aber es sind die einzigen Plakate, die weit und breit zu sehen sind. Die Plakatbeschmutzer machen sich nicht die Mühe, Gegen-Plakate aufzuhängen.

„Zu begrüßen ist, dass mit den Gilets Jaunes eine Bewegung entstanden ist, die die Immigranten nicht für die Probleme Frankreichs und die eigene Unzufriedenheit verantwortlich macht."

Die Frage, ob man für oder gegen den RN ist, ist zum primären Schisma im französischen politischen Leben geworden. Die Menschen stimmen dafür oder sie stimmen dagegen. Die anderen Schismen haben an Bedeutung verloren. Marine Le Pen verschmilzt spöttisch die Namen der gaullistischen und sozialistischen Parteien zu „UMPS“. Bei den Kommunalwahlen 2015 zog die Sozialistische Partei, die es heute kaum mehr gibt, einige ihrer Kandidaten aus der zweiten Runde zurück und rief ihre Anhänger dazu auf, die Gaullisten zu wählen, um einen Sieg des Front National zu verhindern. Dies war ein beispielloser Akt. Die Regierungspartei zeigte sich bereit, ihre eigenen Kandidaten zu opfern. Wichtiger als eine eigene, politische Botschaft war ihr die Niederlage des Front National.

Diese Spaltung zwischen pro und contra Le Pen gründet sich immer weniger auf politische Unterschiede. Während die Gaullisten in Teilen die Rhetorik des alten Front National übernommen haben, hat die Partei von Le Pen die sozialistische Rhetorik aufgegriffen. Der Konflikt hat die Form einer politischen Polarisierung angenommen – einer Opposition nur um der Opposition willen. Der Rassemblement National steht gegen den Mainstream und gegen das Establishment; der Mainstream wiederum ist gegen den Rassemblement. Diese Gegenüberstellung ist die Grundlage der Integrität beider Pole.

Mit dem Aufstieg der Gelbwesten ist eine überparteiliche Oppositionsbewegung entstanden, die sich nicht als Teil dieser Spaltung definiert. Obwohl auch sie im gleichen Freiraum, zwischen der offiziellen Politik und den von ihr Enttäuschten, agiert, stellen die Gilets-Jaunes-Unterstützer etwas ganz anderes dar als die der Partei Le Pens. Für die Gilets Jaunes sind die Hauptkonfliktpunkte die Steuern und die politische Repräsentation. Zwar hat Le Pen versucht, von der Bewegung zu profitieren, aber das ist ihr bisher nur am Rande gelungen. Einige Mitglieder der Gilets Jaunes haben sich tatsächlich ihrem Rassemblement angeschlossen, aber nur wenige. Die Einwanderung nach Frankreich ist für die meisten Gelbwestenprotestierer kein übergreifendes, zentrales Thema.

Bisher vermochte es der Rassemblement National nie, den zweiten Wahlgang einer Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Das liegt daran, dass das vereinte Anti-Rassemblement-Lager groß ist. Zu ihm zählen auch zahlreiche Gilets-Jaunes-Anhänger. Wird es Le Pen das nächste Mal gelingen, einen größeren Teil der Enttäuschten unter ihrer Trikolore zu vereinen? Oder wird sich in Frankreich eine neue Protestpartei entwickeln? Zu begrüßen ist, dass mit den Gilets Jaunes eine Bewegung entstanden ist, die die Immigranten nicht für die Probleme Frankreichs und die eigene Unzufriedenheit verantwortlich macht.

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