01.07.2005
Europäische Demokratieverscherbler
Analyse von Kai Rogusch
Der Verweis auf EU-Beschlüsse ist kein ausreichendes Indiz für Rechtstaatlichkeit.
In Zeiten der „Globalisierung“ internationalisiert sich auch das staatliche Handeln. So hat die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in den Bereichen „Justiz und Inneres“ in den letzten Jahren erheblich an Fahrt gewonnen: wo sonst sollen sich internationale Phänomene der Kriminalität und des Terrorismus erfolgreicher bewältigen lassen als in einem internationalisierten „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ – so wie es EU-Politiker vorgeben? Der so genannte Europäische Haftbefehl stellt aber für das Bundesverfassungsgericht nun die passende Gelegenheit dar, die rechtspolitischen Entwicklungen der EU auf ihre freiheits- und demokratiegefährdenden Tendenzen hin zu untersuchen.
Der Europäische Haftbefehl verpflichtet sämtliche EU-Staaten zur Auslieferung auch eigener Staatsangehöriger an die Strafverfolgungsbehörden anderer EU-Mitgliedstaaten. So ist nun die Auslieferung deutscher Staatsbürger an osteuropäische Staaten wie Ungarn oder Estland möglich. Erstmals auf deutschem Boden vollstreckt wurde der Europäische Haftbefehl nach einer Verfügung des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg am mutmaßlichen Al-Quaida-Mitglied Mamoun Darkazanli – einem deutschen Staatsangehörigen syrischer Abstammung, dem in Spanien u.a. wegen Unterstützung des internationalen Terrors der Prozess gemacht werden soll. Hamburgs parteiloser Innensenator Udo Nagel lobte den Vorgang als „eine beispielhafte internationale Zusammenarbeit“.
Polizeikräfte verhafteten Darkazanli, der in Sicherheitskreisen als eine Schlüsselfigur des internationalen Terrors gilt, vor seiner Wohnung im Hamburger Vorort Uhlenhorst. Schon seit über sechs Jahren war er von deutschen und amerikanischen Geheimdiensten beobachtet worden. Sicherheitsfachleute sagen ihm eine Verstrickung in die Anschläge vom 11. September nach. Er soll über Kontakte zu der Terrorgruppe um Mohammed Atta wie auch zum Finanzchef der Al-Qaida und sogar zu Osama bin Laden selbst verfügt haben. Als er in der schon startklaren Passagiermaschine von Berlin nach Madrid saß, stoppte das Bundesverfassungsgericht im letzten Moment die Auslieferung des deutschen Staatsbürgers. Die Karlsruher Richter werden bis zum Ende des Auslieferungsstopps Ende August über sein weiteres Schicksal entscheiden. Damit ist nun der Europäische Haftbefehl Gegenstand einer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Prüfung, bei der es nicht nur um den verdächtigen Darkazanli geht.
„Steht die Europäische Union vor einem ‚Dumping‘-Wettbewerb einzelner EU-Staaten um möglichst niedrige freiheitsrechtliche Standards? Zweifel an der „Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze“ sind jedenfalls angebracht.“
Eine fragwürdige Besonderheit des Falles Darkazanli liegt auf der Hand: Spanien gilt in der EU wegen seiner langjährigen Erfahrungen mit der terroristischen Bedrohung, vor allem durch die baskische Untergrundorganisation Eta, als ein Vorreiter in der Terrorbekämpfung. In Spanien sind die legalen Möglichkeiten für die Ermittler umfangreicher als in Deutschland. Da gemäß dem EU-Rahmenbeschluss zur Einführung des Europäischen Haftbefehls seit spätestens Anfang 2004 mit vergleichsweise wenig Zeitaufwand an theoretisch alle 25 Mitgliedstaaten der EU ausgeliefert werden kann, ist Spanien aufgrund seiner „günstigen“ Bedingungen zu einer Art Dreh- und Angelpunkt bei der Bekämpfung des internationalen Terrors geworden. Steht die Europäische Union damit vor einem „Dumping“-Wettbewerb einzelner EU-Staaten um möglichst niedrige freiheitsrechtliche Standards? Die Prüfung des Europäischen Haftbefehls gibt den Karlsruhern Richtern die Gelegenheit, eine wichtige Etappe des europäischen Einigungsprozesses einer grundsätzlichen (verfassungs-) juristischen Wertung zu unterziehen.
Der Europäische Haftbefehl „erleichtert“ die Auslieferung von Verdächtigen zwischen sämtlichen 25 EU-Mitgliedstaaten, indem er eine Reihe bisheriger Auslieferungsabkommen ersetzt und bei 32 aufgelisteten Deliktsarten einen „weitgehenden Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit im Auslieferungsrecht“ vorsieht. Ein Franzose, der sich der Begehung einer der nicht weiter definierten Straftaten in irgendeinem der 24 übrigen EU-Staaten verdächtig gemacht hat, kann zum Beispiel nach Polen oder nach Ungarn oder Österreich überstellt werden – ohne weitere Prüfung der Tatvorwürfe durch seine französische Heimatjustiz. Nach der neuen Gesetzeslage reicht bloß ein formal korrekter Antrag des den Europäischen Haftbefehl ersuchenden Staates.
Eine weitere entscheidende Neuerung etwa des deutschen „Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl“ besteht darin, dass nun auch deutsche Staatsangehörige an jeden EU-Mitgliedstaat ausgeliefert werden können – durch eine rechtskräftige Entscheidung deutscher Oberlandesgerichte, welche die Auslieferungsersuche der EU-Staaten zu bearbeiten haben. Diese gesetzliche Änderung ermöglichte die Überstellung von Mamoun Darkazanli an die spanische Justiz, wo ihm die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren droht. Doch damit entfällt der fundamentale Schutz eines jeden deutschen Staatsbürgers aus Art. 16 Absatz 2 GG, nicht an das Ausland ausgeliefert werden zu dürfen.
Etwa 50 Jahre galt dieser Schutz vorbehaltlos. Seit Ende 2002 gibt es eine Ergänzung in Satz 2 des Art. 16 Abs. 2 GG, der zufolge Deutsche an einen EU-Mitgliedsstaat ausgeliefert werden dürfen. Als notwendige Bedingung hierfür nennt der novellierte Grundgesetzartikel das Erfordernis, dass „rechtsstaatliche Bedingungen gewahrt“ sein müssten. Doch kann man bei dem ganzen Prozedere, das von der Verabschiedung des EU-Rahmenbeschlusses über dessen nationalstaatliche Umsetzung bis hin zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls reicht, noch von der „Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze“ sprechen? Zweifel sind mehr als angebracht.
Zum einen lenkt die Beschäftigung mit dem Europäischen Haftbefehl den Blick auf EU-Rechtsetzungsprozesse, die historisch hart erkämpften demokratischen Errungenschaften hohnsprechen. Der Europäische Haftbefehl wurde im Juni 2002 durch einen so genannten Rahmenbeschluss des EU-Ministerrates erlassen: Danach war der Bundestag europarechtlich verpflichtet, den Europäischen Haftbefehl einzuführen – Rahmenbeschlüsse sind im Hinblick auf das Ziel verbindlich und lassen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union lediglich Spielräume bei der jeweiligen nationalstaatlichen Ausgestaltung. Dieser Zwang durch die Vorgaben der Exekutive ist ein Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz zwischen Exekutive und Legislative, einer Kernbestimmung demokratisch verfasster Rechtsstaaten: Innen- und Justizminister treten im Rat zusammen und geben den nationalen Parlamenten vor, was sie zu beschließen haben!
„Ein deutscher Staatsbürger kann nun im EU-Ausland für Handlungen bestraft werden, die er in Deutschland zu einer Zeit begangen hat, als sie hierzulande noch straflos waren.“
Im Zuge aufeinander folgender Novellierungen der EU- sowie EG-Verträge wurden immer mehr Aspekte der EU-Innen- und Rechtspolitik „vergemeinschaftet“.
Mittlerweile haben die europäischen Justiz- und Innenminister zum Beispiel die Einführung biometrischer Daten in die Pässe von EU-Bürgern beschlossen. Derzeit planen die EU-Staaten einen Rahmenbeschluss zur Speicherung von Telefonverbindungen und SMS-Botschaften – kein Wunder, dass sich auch die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit verstärkt für die Vorgänge auf EU-Ebene interessiert.
„Der Europäische Haftbefehl ermöglicht die Einführung ausländischer Strafrechtsordnungen im Inland, auf deren Entstehung wir keinen parlamentarisch-demokratischen Einfluss haben.“
Kritiker monieren, dass das Europäische Haftbefehlsgesetz Straftaten auch rückwirkend erfasse. So beziehen sich die spanischen Tatvorwürfe gegen Darkazanli auf Handlungen, die er vor Inkraftreten des bundesdeutschen Straftatbestandes der Unterstützung ausländischer terroristischer Vereinigungen begangen haben soll – und sogar vor der grundgesetzlichen Legalisierung der Auslieferung von deutschen Staatsbürgern ans Ausland. Ein deutscher Staatsbürger kann nun im EU-Ausland für Handlungen bestraft werden, die er in Deutschland zu einer Zeit begangen hat, als sie hierzulande noch straflos waren. Damit wird der grundlegende strafrechtliche Grundsatz „Nulla poena line lege“ (Keine Strafe ohne Gesetz) verletzt, argumentieren sie. Bestrafen dürfe der klassische Rechtsstaat jedoch nur Taten, die er zuvor selber als Unrecht definiert hat. Beim Terrorverdächtigen Darkazanli gilt dieses Prinzip nicht mehr: Lieferte man ihn nach Spanien aus, würde er dort wegen in Deutschland vorgenommener und in Deutschland strafloser Handlungen einer Strafverfolgung ausgesetzt. Bei allem Verständnis für das Erfordernis resoluter internationaler Kooperation bei der Terrorbekämpfung: Die Brisanz des Europäischen Haftbefehls besteht darin, dass er sich auf eine Vielzahl von Deliktsgruppen bezieht, die sehr vage formuliert sind. Die Positivliste von Straftaten, bei denen auch Deutsche ohne weitere Prüfung durch die hiesige Justiz ans Ausland überstellt werden können, enthält 32 überschriftsmäßig aufgeführte Deliktsarten, die nicht weiter definiert werden. Dazu zählen Allgemeinplätze wie etwa „Korruption“, „Cyberkriminalität“, „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ oder „Umweltkriminalität“. Auf diese Weise erlaubt der Europäische Haftbefehl die Einführung ausländischer Strafrechtsordnungen im Inland – Strafrechtsordnungen, die in jedem der 24 sonstigen EU-Mitgliedstaaten ständigem Wandel unterliegen. Das kann in vielen Fällen zu Strafbarkeiten führen, die keine präzise Grundlage in einem inländischen Gesetz haben und auf deren Entstehung hiesige Staatsbürger keinen parlamentarisch-demokratischen Einfluss haben.
Dass Schwerstkriminalität einer grenzüberschreitenden Strafverfolgung bedarf, ist nicht in Abrede zu stellen. Der nicht enden wollende Aktionismus politischer und bürokratischer Eliten auf dem Feld der (internationalisierten / europäisierten) Sicherheitspolitik deutet allerdings in eine gefährliche Richtung. Angesichts einer Reihe klärungsbedürftiger Fragen wirken Rechtsauffassungen der Bundesregierung geradezu betriebsblind. So warnte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries wiederholt, die Bundesrepublik Deutschland könne sich in weiten Teilen aus der Europäischen Union verabschieden, falls Karlsruhe den Europäischen Haftbefehl für verfassungswidrig erklärte – dabei schien sie kaum einen Gedanken an rechtsstaatliche Bedenken zu verschwenden. Der Anwalt der Bundesregierung, Johannes Masig, meinte lapidar, Deutschland habe sich nun einmal völkerrechtlich dazu verpflichtet, EU-Beschlüsse umzusetzen. Der Augsburger Hochschullehrer ergänzte, beim Europäischen Haftbefehl handele es sich um „zwingendes europäisches Recht, zu dessen Umsetzung die Bundesrepublik bedingungslos und unabhängig von ihrer Verfassung unionsrechtlich verpflichtet“ sei. Es sei überdies eine Kriegserklärung an Europa, wollte man die Verbindlichkeit des Rahmenbeschlusses der EU in Frage stellen. Doch auch Bundestagsabgeordnete schienen rechtsstaatliche Prinzipien lieber außen vor zu lassen, als sie fatalistisch erklärten, bei der Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl in „normativer Unfreiheit“ gehandelt zu haben.
Es bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht mit einem richtungweisenden Urteil ein verfassungsjuristisches Signal gegen die kurzsichtige Verscherbelung demokratischer Substanz gibt. Daneben ist jedoch vor allem eine aufgeweckte kritische „europäische Öffentlichkeit“ vonnöten, um dem gegenwärtigen Abbau demokratischer Errungenschaften den Boden zu entziehen und jene, die dafür verantwortlich zeichnen, zur Rechenschaft zu ziehen.