01.07.2005

Das Wiedererwachen der europäischen Demokratie

Analyse von Frank Furedi

Die Ablehnung der EU-Verfassung durch die französischen und niederländischen Wähler ist ein positives Signal für Europa.

Jeder, der sich auf ernsthafte Art und Weise der europäischen Idee verbunden fühlt, sollte glücklich darüber sein, dass sowohl die Franzosen als auch die Niederländer die EU-Verfassung abgelehnt und all denen eine Absage erteilt haben, die immer behaupteten, zu einem „Ja“ gäbe es keine Alternative.

Die Befürworter und Verteidiger der EU-Verfassung haben in der Vergangenheit nicht um Zustimmung für die Verfassung gerungen, sondern sie als Fait Accompli präsentiert. Immer wieder wurden Wähler wie Kritiker gewarnt, es gäbe keinen „Plan B“ und damit keine Alternative zu dieser Verfassung. Einer der prominentesten Vertreter dieser „Alternativlosigkeit“ war Bundesaußenminister Joschka Fischer. Dies sei „der beste Vertrag für unsere Generation“, es gäbe „keinen besseren“ und er sei „das Optimum dessen, was an Integration möglich ist“, lautete seine gebetsmühlenartig vorgetragene Beschwörungsformel.

Die zentrale Botschaft aus den europäischen Hauptstädten, wir hätten bei der Abstimmung überhaupt keine Wahl, nahm dem französischen Referendum jegliche politische Bedeutung. In der Vergangenheit galt es als Kernbestandsteil demokratischer Politik, alternative Wahlmöglichkeiten zu präsentieren und die Vorstellung eines unveränderbaren Schicksals abzulehnen. Dementsprechend waren ein „Plan B“ und manchmal sogar ein „Plan C“ unverzichtbar für das Funktionieren des demokratischen Prozesses.

„Das Resultat der Referenden stellt einen enormen Rückschlag für die Politik des technokratischen Managerismus dar.“

Im Vergleich dazu gleicht die Aussage, es läge nur ein Vorschlag auf dem Tisch, auf den es in einem Referendum nur eine einzige richtige Antwort geben könne, einem allen demokratischen Grundlagen zuwiderlaufenden politischen Diktat. Glücklicherweise sind die Erpressungs- und Einschüchterungsversuche, mit denen die Mehrheit der französischen und niederländischen Bevölkerung dazu gebracht werden sollten, „Plan A“ abzusegnen, gescheitert. Das Resultat der Referenden stellt einen enormen Rückschlag für die Politik des technokratischen Managerismus dar.
EU-Bürokraten benötigen die Verfassung, um ihre Agenda des endlosen Institutionenauf- und -ausbaus weiterzuverfolgen. Aus ihrer Sicht ist eine Volksbefragung eine störende Ablenkung; ihr einziger Sinn besteht darin, die bereits getroffenen Entscheidungen mit einer gewissen Legitimität zu versehen. Viele EU-Technokraten halten die Bürger für zu dumm, als dass sie komplexe Inhalte wie den der EU-Verfassung verstehen könnten; entsprechend wenig Wert messen sie unseren Ansichten bei.
Die weit verbreitete Skepsis gegenüber dem Wahlvolk brachte schon vor zwei Jahren Chris Bryant vom Labour Movement for Europe im britischen Unterhaus zum Ausdruck: „Ich muss gestehen, dass ich kein großer Anhänger von Referenden bin. Ich bin der Ansicht, dass diese höchst ungeeignet sind, wenn es darum geht, mit derart komplexen Gebilden wie einem Verfassungsvertrag umzugehen. Schauen wir uns doch die Fakten an: Der Verfassungsentwurf besteht aus 565 Artikeln, fünf Zusatzprotokollen und zwei Deklarationen. Deren überwiegende Mehrheit ist fast identisch mit denen in früheren Verträgen. Es ist aber sehr wichtig, das Dokument eingehend und Zeile für Zeile, Artikel für Artikel zu studieren und es nicht einfach einer Ja- oder Nein-Entscheidung zu unterziehen. Wenn es bei ‚Pop Idol’ [einer britischen Casting-Show] darum geht, ob Gareth Gates oder Will Young gewinnt, mag eine Volksabstimmung das geeignete Instrument sein, nicht aber zur Überprüfung eines Vertrages. So etwas muss mit der notwendigen Sorgfalt getan werden; dies ist nur im Parlament möglich.“ [1] Ähnlich äußerte sich Joschka Fischer in einem Interview im Frühjahr 2004, in dem er sich – entgegen dem Votum seiner Partei – gegen ein Referendum in Deutschland aussprach. Für ihn sei der Vertrag „so zentral“, dass er ihn nicht mit Debatten über die Notwendigkeit von Volksabstimmungen „zusätzlich belasten“ wolle: „Worüber wollen Sie die Leute überhaupt abstimmen lassen? Über die Europäische Verfassung, über den Nizza-Vertrag? Wer versteht denn das?“ [2]
Dieser Logik folgend sollte man am besten niemals die Bevölkerung nach ihrer Meinung zu einem komplexen politischen Vorgang befragen, sondern sie wohl ganz den Expertinnen und Experten in Brüssel überlassen.

Das französische „Non“ sowie das niederländische „Nee“ sind umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass sich in beiden Ländern machtvolle Allianzen aus verschiedenen Interessengruppen für eine Zustimmung zum Vertrag ins Zeug legten. Der überwiegende Teil der politischen Klasse Frankreichs befürwortete die EU-Verfassung und arbeitete Schulter an Schulter mit der Kulturelite wie auch mit den Großunternehmen auf ein „Oui“ hin – alle mit derselben Botschaft: „Es gibt keine Alternative.“

„Der Mythos der Alternativlosigkeit ist von einer kritischen europäischen Öffentlichkeit zerstört worden.“

Die Vorstellung, dass es keine Alternative gibt (im Englischen: „TINA“: „There is no alternative“) ist in Europa weit verbreitet: Von Thatcher und Kohl über Blair und Schröder hat sich der Fatalismus der „TINA-Politik“ bis zu Interessengruppen und Lobbyisten ausgebreitet. Insbesondere bei Umweltgruppen erfreut sich diese Argumentationsweise großer Beliebtheit: Die Menschheit ist, so hören wir es seit Jahren, dem Untergang geweiht, wenn sie sich nicht so verhält, wie Umweltschützer es fordern.
In den vergangenen Jahrzehnten war die Politik der Alternativlosigkeit überaus erfolgreich, immer wieder gelang es, grundsätzliche Debatten abzuwürgen und die Bevölkerung mit technokratischen Entscheidungen und „Lösungen“ zu versöhnen. Im Falle der Abstimmungen über die EU-Verfassung war es nun einfacher, den TINA-Protagonisten eins auszuwischen. Die EU ist ein relativ neues Gebilde. Die Vorstellung, dass im alten Kontinent alles auseinander breche, wenn ein von Technokraten zusammengeschusterter Verfassungsvertrag keine Mehrheit fände, klang von Anfang an ein wenig überspannt. Insofern sind die Referenden in Frankreich und den Niederlanden ein positives politisches Ereignis: Der Mythos der Alternativlosigkeit ist von einer kritischen europäischen Öffentlichkeit zerstört worden.

Aber die Referendums-Debatte hatte noch eine andere wichtige politische Dimension: Politiker wie Kommentatoren betonten immer wieder, dass die Entscheidung für oder gegen die EU-Verfassung eine zwischen fortschrittlichen europäischen Kosmopoliten und rückwärtsgewandten, unpolitischen und provinziellen Hinterwäldlern sei. Entsprechend werden deren Wähler nun als zurückgebliebene, fortschrittsfeindliche, realitätsfremde und verwirrte Gestalten karikiert, die lieber den Kopf in den Sand steckten als sich den Realitäten zu stellen. Englands früherer Europaminister Denis MacShane bezeichnete die französischen Verfassungskritiker als „reaktionäre linke und rechte Kräfte“, und der ehemalige britische EU-Kommissar Neill Kinnock zeigte sich empört darüber, dass Teile der französischen Linken „erzreaktionäre und widerliche Elemente“ der Anti-EU-Kampagne aktiv unterstützt habe.

Anhänger der EU-Verfassung beschimpften ihre Widersacher zudem als rassistisch, reaktionär und xenophob. Die Verwendung anti-rassistischer Rhetorik in diesem Kontext verwundert, da zumeist die EU-Kritiker im gleichen Atemzug als minderbemittelt dargestellt werden. So ereifert man sich angesichts chauvinistischer Statements von Frankreichs Rechtsaußen Jean-Marie Le Pen, um sich dann im selben Moment herablassend über diejenigen Wähler zu äußern, denen ihrer Meinung nach die mentale Kapazität fehlt, um die eigenen Interessen zu erkennen und die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Die Arroganz der EU-Technokraten ist mit Händen zu greifen; einige von ihnen sprechen den Referenden nun, da sie gescheitert sind, die politische Bedeutung ab. So ließ der belgische Premierminister Jean-Luc Dehaene verlautbaren, das französische „Non“ könne nicht als Ablehnung der EU-Verfassung angesehen werden, da es den französischen Wählern vielmehr darum gegangen sei, ihrem Präsidenten Jacques Chirac eine Lektion zu erteilen. Dass dieser gemeinsam mit Bundeskanzler Gerhard Schröder die Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses forderte, macht deutlich, wie wenig sie sich letztlich um Volkes Stimme scheren, solange der „Prozess“ nur weitergehe. Das Nein der Franzosen sei zwar ein „Rückschlag für den Verfassungsprozess“, aber nicht sein Ende, betonten Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer einmütig. [3] Man müsse sich lediglich auf „einen Umweg“ und eine „Verzögerung“ des Prozesses einstellen. Auch die CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidatin Angela Merkel dichtete den Ergebnissen der Referenden eine völlig neue Bedeutung an: Es handele sich nicht um eine Abmahnung an Brüssel, sondern vielmehr um einen Ausdruck der „Überforderung“ der Bürger angesichts der anstehenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. [4] All diese „Interpretationen“ eines eigentlich ganz unstreitigen Ergebnisses basieren auf der Annahme, die Wähler seien unfähig, zu einem konkreten Sachverhalt ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen.

„Die Bürger haben genug davon, übergangen und als berechenbares Stimmvieh missbraucht zu werden. Dies ist eine ermutigende Entwicklung.“

In Wirklichkeit deuten die Ergebnisse des französischen und des niederländischen Referendums durchaus darauf hin, dass politisches und soziales Engagement in Zukunft wieder zunehmen könnte. Die Abstimmungen haben gezeigt, dass der Prozess der Entpolitisierung, unter dem die westlichen Gesellschaften seit Jahren leiden, weder ein Naturphänomen ist noch ein unabänderliches Resultat der postmodernen und technokratisch verwalteten Globalisierung darstellt. Wir sehen nun, dass die Abwendung vieler Menschen vom gesellschaftlichen Leben auf die hilflose Arroganz der politischen Eliten zurückzuführen ist, die sich lieber mit sich selbst, mit ihnen zugewandten Nichtregierungsorganisationen oder anderen Ausprägungen dessen beschäftigen, was sie „Zivilgesellschaft“ nennen.

Zwar wird gelegentlich von EU-Vertretern Sorge über die Apathie der Wähler und den Rückgang der Wahlbeteiligung zum Ausdruck gebracht, dies jedoch eher aus Angst vor weiteren peinlichen Schlappen und der daraus resultierenden schwindenden eigenen Autorität und der ihrer Institutionen, von denen behauptet wird, sie würden unser aller Interesse vertreten.
Die beiden Referenden sind ein Beleg dafür, dass die Menschen sehr wohl bereit sind, sich wieder im politischen Leben zu engagieren. Sie hatten genug davon, übergangen und als berechenbares Stimmvieh missbraucht zu werden. Dies ist eine ermutigende Entwicklung. In einem nächsten Schritt auf dem Weg zu einer Wiederbelebung der europäischen Demokratie müssten nun politische Visionen und eine gemeinverständliche politische Sprache entwickelt werden, um die Herausforderungen der Zukunft Europas diskutieren und angehen zu können. Eine solche öffentliche Debatte könnte dazu führen, dass die Öffentlichkeit und die Bevölkerung sich ihrer entscheidenden und konstruktiven Rolle stärker bewusst wird und sie stärker wahrnimmt – für ein demokratisches Europa.

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