05.05.2013

Euro-Verlierer Deutschland

Essay von Walter Krämer

Politik und Medien sind sich einig: Deutschland ist der große Gewinner der Euro-Einführung. Die Fakten sprechen eine ganz andere Sprache. Die wirtschaftliche Entwicklung hierzulande wurde durch den Euro gebremst.

„Der Euro ist die Grundlage unseres Wohlstandes“
- Angela Merkel in ihrer Neujahrsansprache, 31. 12. 2010 -


Im Ausland wie vielfach auch im Inland gilt Deutschland als der große Euro-Profiteur. Alle Euro-Länder hätten durch die Gemeinschaftswährung enorm gewonnen, sagte der italienische Ministerpräsident Mario Monti (zitiert nach Spiegel Online vom 17. Januar 2012), „Deutschland aber vielleicht noch mehr als andere“. Schon mehr als 400 Millionen Euro habe Deutschland allein an Griechenland verdient, stimmt ihm der griechische Ex-Finanzminister Venizelos zu (Spiegel Online vom 6. April 2012). Es leihe sich billig Geld und verleihe es teuer weiter, ein Bombengeschäft. „Kein europäischer Finanzminister wird in diesen Tagen von seinen Kollegen so beneidet wie Wolfgang Schäuble“, assistiert das Handelsblatt. „Im Süden Europas müssen die Kassenwarte die Haushalte zusammenstreichen und miterleben, wie die Zinsen für ihre Anleihen trotzdem weiter steigen. Schäuble dagegen kann sich quasi zurücklehnen: Sein Haushalt saniert sich praktisch von selbst. Denn es sprudeln nicht nur die Steuereinnahmen, sondern gleichzeitig sinken die Zinsen, die der deutsche Staat für neue Schulden zahlen muss. Zuletzt gelang es dem Staat gleich mehrfach, Geld zu negativen Zinsen geliehen zu bekommen.“

Entsprechend herrscht kein Mangel an positiven Einschätzungen der Rolle des Euro für die deutsche Wirtschaft und für Deutschland allgemein:

  • „Deutschland ist der Profiteur des Euro“ (Bert Rürup, Kölner Stadtanzeiger, 25. 3. 2010).
  • „Es gibt kein Land in der Europäischen Union, dass so viel von der EU gewinnt wie Deutschland“ (Elmar Brok, CDU-MdEP, 4.10.2010).
  • „Deutschland ist Haupt-Profiteur des Euro“ (Theo Waigel, Frankfurter Rundschau, 31.1.2011).
  • „Kein Staat profitiert so von der europäischen Integration und der gemeinsamen Währung wie Deutschland“ (Spiegel Online, 19.3.2011).
  • „Der Euro hat Deutschland massiv genutzt“ (Die Partei Bündis90/Grüne auf gruene.de/themen/europa/fatale-oekonomische-folgen.html).
  • „Wir sind die Gewinner des Euros und wir müssen als Bundesrepublik Deutschland größten Wert darauf legen, dass dieser Euro erhalten bleibt“ (IG-Metall-Chef Berthold Huber, Deutschlandfunk, 11.10.2011).
  • „Wir verdanken dem Euro ein Drittel unseres Wachstums“ (Frank Mattern, Leiter von McKinsey Deutschland, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.2011).
  • „Wir sind keine Nettozahler der EU, sondern Nettogewinner „ (Siegmar Gabriel vor dem Deutschen Bundestag, 29.6.2012).
  • „Deutschland ist eindeutig ein Gewinner des Euro“ (Wolfgang Schäuble, Bild am Sonntag 9.9.2012).
  • „Deutschland hat auch vom Euro kräftig profitiert“ (Joachim Gauck, Rede zu Perspektiven der europäischen Idee, 22.2.2013).

Und so weiter. Diese Liste ließe sich mit etwas Mühe sicher noch verlängern. Sie ist genauso lang wie verlogen, hohl und falsch. Natürlich ist klar, dass Politiker aus Staaten, die wirklich vom Euro profitieren, bei dieser Frage gerne auf andere zeigen. Da ist Venizelos nicht allein. Und dass diese Argumente auch in Deutschland gerne aufgegriffen werden, liegt einmal daran, dass Politiker Wähler brauchen, und da bleibt einer Regierung, die sich die Eurorettung auf die Fahnen geschrieben hat, kaum etwas anderes übrig, als dessen Vorteile herauszustreichen. Frau Merkel würde vermutlich genauso reden, auch wenn sie es besser wüsste. Andere Pro-Stimmen hängen daran, dass der Euro als vermeintlicher Motor des deutschen Exportüberschusses Arbeitsplätze sichert, also sind auch die Gewerkschaften und die Arbeitgeber dafür. Insbesondere hat die deutsche Exportindustrie am Euro wenig auszusetzen. Solange die Exporte bezahlt werden, und für die Exportindustrie werden sie bezahlt, gibt es hier keine Krise. Und so haben alle, die an einen positiven wirtschaftlichen Nettoeffekt des Euro für die deutsche Wirtschaft glauben, dafür gute subjektive Gründe.

Es besteht hier die Gefahr, dass eine zweifelhafte These durch ständiges Wiederholen zum Gemeinplatz wird. Zwar ist dem durchschnittlichen deutschen Medienkonsumenten durchaus bewusst, dass er oder sie durch verschiedene Euro-Hilfsmaßnahmen direkt oder indirekt zur Kasse gebeten wird - das Gemurre in den Kommentarspalten der Netzausgaben deutscher Zeitungen und Politikmagazine ist kaum zu überhören -, aber netto scheint der Euro doch weiter ein gutes Geschäft zu sein. Und wenn man das nur oft genug hört, glaubt man es dann auch. Der amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahnemann zeigt in seinem Bestseller Schnelles Denken langsames Denken zahlreiche Wege auf, wie ständiges Wiederholen auch offenkundig falscher Aussagen unseren Denkapparat überlisten kann. Denn dieser Denkapparat ist notorisch faul und nimmt gerne Abkürzungen jeder Art, zum Beispiel, indem er die Bekanntheit oder Vertrautheit mit einer Aussage als Indikator für deren Wahrheit nimmt („familiarity is not easily distingiushed from truth“). Das geht sogar so weit, dass wir nur einen Teil eines Satzes wiedererkennen müssen, um das Ganze für korrekt zu halten. Kahnemann erzählt von Experimenten, da wurde einem Teil der Probanden die Wortfolge „die Körpertemperatur eines Huhnes“ mehrfach vorgespielt, dem anderen nicht. Dann wurden die Teilnehmer aufgefordert, wahr oder falsch bei der Aussage anzukreuzen: „Die Körpertemperatur eines Huhnes beträgt 51 Grad“. Das ist natürlich Unfug, und die Versuchsteilnehmer, die nicht zuvor den ersten Teil des Satzes gehört hatten, sahen das auch völlig ein. Die andere Hälfte dagegen kreuzte mehrheitlich diese Aussage als richtig an. Sehen wir uns also einmal an, was von den Pro-Euro Argumenten übrig bleibt, wenn man kurzfristigen Eigennutz und langfristigen politischen Beharrungswillen einmal ignoriert.

Zinsgewinne

Beginnen wir mit den Zinsgewinnen Deutschlands und der deutschen Bundesbank. Die sind zwar vorhanden, kürzen sich aber gegen Zinsverluste an anderer Stelle wieder weg und sind längst nicht so eindeutig positiv, wie immer wieder unterstellt. So sind mit dem Ende der D-Mark auch die Zinsgewinne der Deutschen Bundesbank weggefallen, die dadurch entstanden, dass die D-Mark auch im Ausland als Zahlungsmittel galt. Gegen Ende der D-Mark-Zeit sollen laut Bundesbank zwischen 65 und 90 Milliarden D-Mark im Ausland als Bargeld umgelaufen sein. Deses Geld gab die Bundesbank nicht gratis her, sie nahm dafür pro Jahr aus dem Ausland zwischen 5 Milliarden D-Mark und 6 Milliarden D-Mark Zinsen ein. Und diese Gewinne fallen mit dem Euro weg, sie werden auch durch den deutschen Anteil an den entsprechenden Zinsgewinnen der EZB nicht wettgemacht.

„Die Bundesbank wird nach bislang unbestätigten Informationen auch in diesem Jahr einen deutlich geringeren Gewinn an die Bundesregierung ausschütten als von Finanzminister Wolfgang Schäuble erwartet“, meldete im März 2013 der Fernsehsender n-tv. „Die Notenbank werde am Dienstag einen Erlös für 2012 ausweisen, der in etwa auf dem Niveau des vorangegangenen Jahres von 643 Mio. Euro liege, heißt es in einem Bericht der ‚Süddeutschen Zeitung‘. Im Bundeshaushalt sei dagegen eine Summe von 1,5 Mrd. Euro eingeplant.“

Im Fachjargon der Ökonomen sagt man dazu auch ›Münzgewinn‹ oder ‘Seigniorage’ (gesprochen Sennjoritsch). Dieser sozusagen mühelose Münzgewinn floss per Umweg über die Bundesbank dem deutschen Fiskus zu, siehe oben, und hat zu D-Mark-Zeiten dem Finanzminister über manche Haushaltsklippe hinweggeholfen. Heute kassiert ihn die Europäische Zentralbank, und nur noch 27 Prozent davon, entsprechend dem deutschen Kapitalanteil, landet im Finanzministerium in Berlin. Netto verbleibt damit ein jährlicher Milliardenverlust, sozusagen die Mitgift der Bundesbank für das Europrojekt. Die Ökonomen Hans-Werner Sinn und Holger Feist schätzen den Barwert der so entgangenen und stattdessen den anderen Euroländern, an erster Stelle Frankreich, zufließenden Zinsgewinne auf über 50 Milliarden Euro – dieses Vermögen hat der deutsche Finanzminister seinen Kollegen sozusagen an seinen Wählern vorbei geschenkt (allerdings ohne dass sich irgendeiner dieser Kollegen dafür bedankt hätte, jedenfalls nicht bis jetzt).

Ohne allen Zweifel positiv sind dagegen die Ersparnisse, die der deutsche Finanzminister derzeit durch die historischen Niedrigstände der von ihm zu zahlenden Zinsen erzielt. Im Jahr 2012 ist es sogar vorgekommen, dass Finanzminister Schäuble nicht nur ohne Zinsen Geld aufnehmen konnte, er bekam sogar noch Geld von den Geldgebern dazu! Deutsche Staatsanleihen gelten derzeit als sicherer Hafen, und um in diesem sicheren Hafen die aktuellen Krisenstürme abzuwettern, sind viele internationale Investoren mit Niedrigzinsen oder sogar negativen Zinsen zufrieden. Nach Berechnungen von Ökonomen des Weltwirtschaftsinstituts in Kiel summieren sich die so erzielten Zinsersparnisse des deutschen Fiskus in den Jahren von 2009 bis 2022 (dann laufen die letzten der bisher begebenen zehnjährigen Anleihen aus) auf insgesamt 68 Milliarden Euro. Um so viel niedriger sind die Zinszahlungen für die in den Krisenjahren 2009 bis 2012 begebenen Bundesanleihen verglichen mit denen, die bei den Zinsen der Jahre 1999 bis 2008 entstanden wären.

Insgesamt hat die Finanzagentur des Bundes, die dergleichen Wertpapieremissionen organisiert, in den Jahren 2009-2012 für 1044 Milliarden Euro Kredite aufgenommen. Zum großen Teil wurden dabei nur auslaufende Altkredite durch neue ersetzt, die Netto-Neuverschuldung war erheblich niedriger. Aber auch dieses Ablösen von hoch verzinsten Altkrediten durch niedrig verzinste Neukredite spart dem Kreditnehmer sehr viel Geld, aktuell nutzen zum Beispiel viele private Hypothekenbesitzer diese Zinsflaute für lukrative Umschuldungen aus.

Aber diese gesparten Zinsen, so die Kieler Ökonomen, sind nur zu einem kleinen Teil dem Euro geschuldet. Denn auch für viele andere Euroländer sind die Zinsen derzeit so niedrig wie kaum je zuvor. Mit anderen Worten, ein guter Teil der Zinsentlastung ist keine Folge des Euros, sondern der schwachen Konjunktur. Zieht man diesen Anteil ab, dann bleiben nach Berechnungen der Kieler Ökonomen noch 12 Milliarden Euro übrig, die der deutsche Finanzminister über zehn Jahre nur deshalb spart, weil sein Land innerhalb der Eurozone als der sichere Hafen gilt. Auf das Jahr gerechnet sind das rund 1 Milliarde Euro, eine große Summe für jede private oder juristische Person, aber gesamtwirtschaftlich gesehen, angesichts der weit höheren Belastungen an anderer Stelle, eher etwas von der Art, die ein bekannter Frankfurter Großbankier einmal als ‚peanuts‘ zu bezeichnen das Bedürfnis hatte.

Deshalb sind auch die Zinsgewinne, die der deutsche Fiskus durch seine Beteiligung an den Hilfskrediten für Euro-Krisenstaaten einnimmt, eher mit einer Prise Vorsicht zu betrachten. Es trifft zwar zu, dass Deutschland für diese Kredite mehr Zinsen einnimmt als es selbst für seine eigenen Kredite zahlt. Insofern agiert das Land Deutschland hier nicht anders als jede normale Bank. Und normale Banken können auch dann in Konkurs gehen, wenn sie konsequent mehr Zinsen fordern als sie selber zahlen. Nämlich immer dann, wenn der Schuldner seine Schulden überhaupt nicht mehr bedient. Genau um für diesen Eventualfall vorzubeugen, sind ja die Zinsen für ausgegebene Kredite höher als für die selbst aufgenommenen. Und in einer funktionierenden Geldwirtschaft sind sie umso höher, je höher die Wahrscheinlichkeit, dass der Kreditnehmer falliert. Zieht man aber dieses Ausfallrisiko mit in Betracht, sind die von den Krisenländern zu zahlenden Zinsen viel zu niedrig.

Exportüberschüsse

Der Kronzeuge für den Euro als Wohltäter der deutschen Wirtschaft sind natürlich die Exporte. „Deutschland ist der größte Profiteur des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes aus 27 Staaten, in dem rund 500 Millionen Einwohner fast 30 Prozent des globalen Sozialproduktes erwirtschaften,“ schreibt Spiegel Online (19.3.2011) stellvertretend für einen Großteil der deutschen Medien, die fast gebetsmühlenhaft wiederholen, wie gut doch der Euro für die deutsche Wirtschaft sei. „Zwischen Schleswig-Holstein und Bayern hängt fast jeder vierte Arbeitsplatz direkt oder indirekt vom Export ab, also dem Handel mit anderen Staaten.“

Das ist richtig. Aber weiß der Spiegel, dass nur noch 37,5 Prozent der deutschen Exporte, also weit weniger als die Hälfte, in die Eurozone fließen? Als der Euro-Fahrplan 1995 festgeschrieben wurde, gingen 46,6 Prozent aller deutschen Exporte in die 17 Länder, aus denen heute die Eurozone besteht. Heute sind es fast zehn Prozentpunkte weniger. Absolut gesehen sind die Exporte in die Eurozone und die übrige EU zwar gestiegen, von einer kleinen Delle zu Beginn der Krise abgesehen, aber noch stärker gestiegen sind die Exporte in den Rest der Welt. Seit es den Euro gibt, wird also Euroland für die deutschen Exporte im Vergleich zum übrigen Ausland immer weniger relevant, die Exportmusik spielt heute in den USA und China und in anderen großen Schwellenländern wie Indonesien, Brasilien oder Indien. Und das ohne eine gemeinsame Währung und ohne feste Wechselkurse. Oder anders ausgedrückt: der Euro ist an den deutschen Exporterfolgen weit weniger beteiligt als die meisten glauben.

Selbst innerhalb der Eurozone verschwindet ein großer Teil des Glanzes der deutschen Exporte, wenn man dagegen hält, was die in Deutschland ansässigen Wirtschaftsteilnehmer an Importen dafür eintauschen. Denn für ihre Industrieprodukte erhält die deutsche Wirtschaft immer weniger an Importgütern zurück, das Tauschverhältnis der international gehandelten Waren, die „terms of trade“, werden für Deutschland immer schlechter, für einen Staubsauger, einen Geschirrspüler oder eine Druckmaschine tauschen die Verkäufer immer weniger Olivenöl oder Aluminiumbleche ein. Von 1995 bis 2012 sind die Preise deutscher Exportgüter laut Statistischem Bundesamt um durchschnittlich 19 Prozent, die Preise der deutschen Importgüter dagegen um durchschnittlich 32 Prozent gestiegen, das heißt real gesehen bringen die deutschen Exporte immer weniger Ertrag. Im Jahr 1995 konnte man für den Listenpreis eines VW Golf (Basisversion) noch 33 Wochen in einem griechischen Drei Sterne Hotel Urlaub machen (zwei Personen, Halbpension), im Jahr 2000 reichte der Erlös noch für 30 Wochen, im Jahr 2005 noch für 25 Wochen, und im Jahr 2010 nur noch für 23 Wochen. Damit hatte der Wert eines VW Golf, gemessen in griechischen Urlaubseinheiten, in dieser Zeit um rund ein Drittel abgenommen.

Auch in Italien, Spanien oder Frankreich ist der Urlaub heute für Touristen aus Deutschland real teurer als vor zehn oder zwanzig Jahren – hatte man seinerzeit verglichen mit einem Urlaub zuhause dort viel Geld gespart, so ist es heute vielfach umgekehrt. Die goldenen Zeiten, als man auf Sardinien für den Preis einer Pizza in Köln ein Drei-Gänge Menü mit Wein bekam, sind lange vorbei. Mit anderen Worten: Für das, was sie durch ihre Exporte erlösen, bekommen die in Deutschland tätigen Wirtschaftsteilnehmer immer weniger an Gegenwert.

Die deutsche Krankheit

Die Zinsgewinne, Exportüberschüsse und sicheren Arbeitsplätze zeigen aber auch aus anderen Gründen nur die halbe Wahrheit. Was nützen zum Beispiel die höchsten Exportüberschüsse und die sichersten Arbeitsplätze, wenn die Erträge dieser Exporte und dieser Arbeit nicht bei den Menschen ankommen, die diese Arbeit tun?
„Der Euro ist gut für VW, aber nicht für Deutschland“ titelte das Wall Street Journal Deutschland am 6. Juli 2012. „Jedes Mal, wenn es am Finanzmarkt eine Eurokrise gibt – alle drei bis vier Minuten also – gibt es ein Argument, das die Verteidiger der Gemeinschaftswährung mit selbstgefälliger Bestimmtheit vorbringen: Am Ende müssen die Deutschen den Euro stützen und zahlen, weil das Land so viel vom Euro profitiert hat. Diese Einschätzung ist verbreitet, das Problem ist: Sie ist kompletter Unsinn“. Nach Auskunft des englischen Wirtschaftsforschungsinstituts Lombard Street Research stieg das verfügbare Durchschnitts-pro-Kopf-Einkommen der Deutschen von 1998 bis 2011 um nur etwa 7 Prozent, verglichen mit Zuwachsraten von 13 Prozent für Spanien und über 18 Prozent für Großbritannien, Frankreich und die USA. „Deutschland ist heute ein ärmeres Land im Vergleich zu seinen Nachbarn und vielen EU-Mitgliedern als im Jahr 1998“, fassen die Forscher im Politmagazin The European ihre Ergebnisse zusammen.

„Wenn es Deutschland so gut geht“, stimmt dazu das Wall Street Journal ein, „sollte es dann nicht mehr Anzeichen dafür geben, dass auch der Durchschnittsdeutsche wohlhabender wird? Eine erfolgreiche Wirtschaft ist doch dazu da, den arbeitenden Menschen mehr Wohlstand zu bringen. In den Läden in Düsseldorf und München müssten die Kassen ununterbrochen klingeln, die deutschen Immobilienpreise sollten durch die Decke gehen, und jedes Designerlabel der Welt sollte nach Berlin kommen und den Leuten dabei helfen, das Geld, das ihre Brieftaschen zu sprengen droht, loszuwerden.“

Aber nichts davon geschieht. Und wenn, dann eher zögerlich und ansatzweise. Und auf keinen Fall in dem Ausmaß, wie das etwa lange Jahre in Irland oder Spanien zu sehen war. Die Steigerungsragen der deutschen Einzelhandelsumsätze liegen wie gehabt im europäischen Hinterfeld, und noch jetzt, im fünften Jahr der Krise, kann man für den Preis eines Reihenhauses in Dublin in Köln eine Mehrfamilienvilla kaufen. Wie man die Sache aus deutscher Sicht auch dreht und wendet: Seitdem es den Euro gibt, sind viele Menschen in Europa reich geworden, die meisten aber nicht in Deutschland, sondern anderswo.

Viele haben heute schon vergessen, dass in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends Deutschland als der kranke Mann Europas galt: „Die Zahl der Arbeitslosen steigt und steigt - und die schwache Konjunktur ist nur eine der Ursachen: Gewerkschaften mauern. Die rot-grüne Regierung verhindert mit immer mehr Gesetzen, dass neue Jobs entstehen. Der Arbeitsmarkt funktioniert nicht mehr“. So war im Spiegel (Nr. 6/2002) zu lesen, in einem langen Artikel, der sehr passend „Die deutsche Krankheit“ übertitelt war: „Hoffnungslos hat sich die Regierung in ihrer eigenen Arbeitsmarktpolitik verheddert. In dem Versuch, vermeintlichen Missständen mit immer neuen Regeln beizukommen, schafft sie ständig neue Ungerechtigkeiten, die ihrerseits nun dringend neuer Regeln bedürfen - und damit vermutlich neue Ungerechtigkeiten erzeugen. Unter Rot-Grün hat sich damit eine Entwicklung noch beschleunigt, die diverse Regierungen in Bonn und Berlin bereits vor über einem Vierteljahrhundert angestoßen hatten: Mit immer neuen Gesetzen, Vorschriften und Auflagen verwandelten sie den deutschen Arbeitsmarkt in ein weltweit belächeltes Lehrbeispiel für Bürokratie und Erstarrung“.

Als der Spiegel dies Anfang des Jahres 2002 schrieb, stand die Arbeitslosenzahl in Deutschland bei 3,9 Millionen. Zwei Jahre später waren die 5 Millionen überschritten. Nahezu alle großen Industrienationen hatten in dem Jahrzehnt vor dem Spiegel-Artikel neue Arbeitsplätze geschaffen: die USA 23 Millionen, Großbritannien knapp 2 Millionen und die kleinen Niederlande 1,8 Millionen. Nur in Deutschland war in dieser Dekade die Zahl der Arbeitsplätze um nahezu 300.000 zurückgegangen – die ersten Jahre des Euro waren für Deutschland ein ökonomisches Desaster ohnegleichen.

Bremsverluste

An einem Teil dieses Desasters, der Überregulierung des Arbeitsmarktes, war die deutsche Politik selbst schuld. Dank der Agenda 2010 und der mutigen, wenn auch späten Reformen der Regierung Schröder sind diese Hindernisse für das Wirtschaftswachstum inzwischen zu einem guten Teil überwunden. Aber den anderen Teil, die schwache Konjunktur, hatte die deutsche Politik allenfalls indirekt zu verantworten. Denn die vielleicht wichtigste Ursache für diese lange Zeit so lahme deutsche Wirtschaft war eine große Zurückhaltung bei Investitionen aller Art. Über lange Jahre war die deutsche Investitionsquote (die in Deutschland getätigten Realinvestitionen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) eine der niedrigsten im ganzen Euroraum. Die Deutschen investierten zwar, aber nicht im eigenen Land, sie trugen ihre Ersparnisse nach Spanien, Irland oder Portugal. Viele Sparer wussten das vermutlich nicht einmal, denn dieser Kapitalexport fand über Versicherungen oder Banken statt, und die legten die Gelder ihrer Kunden vorzugsweise außerhalb der Landesgrenzen an. Weil aber Investitionen und Wirtschaftswachstum sozusagen Zwillinge sind, war über lange Jahre das Wirtschaftswachstum in Deutschland so bescheiden und in Irland, Griechenland, Portugal und Spanien so hoch.

Dass die deutschen Banken und Versicherungen in so großem Umfang die in Deutschland erwirtschafteten Ersparnisse ins Ausland transferierten und transferieren konnten, war eine direkte Konsequenz des Euro. Denn mit dessen Einführung gingen die von potenziellen Schuldnern zu zahlenden Zinsen deutlich zurück, und dieses Angebot griffen die Peripherieländer nur allzu gerne auf – eine gigantische Verschuldungswelle begann, mit einer spiegelbildlich genauso gigantischen Welle von Auslandsinvestitionen alias Kapitalexporten anderswo, deren desaströses Brechen aktuell die Eurozone erschüttert.

Erst mit der Krise 2008 kehrte sich diese Entwicklung um, und für das Jahr 2012 (das letzte, für das bei der Abfassung dieser Zeilen Informationen vorliegen) lagen die Bruttoinvestitionen in Deutschland relativ zum Inlandsprodukt wieder über denen in Irland, Griechenland und Portugal. Seit in Deutschland ansässige Kapitalanleger ihre Gelder wieder in der Heimat investieren, stehen die Baukräne in Berlin und Stuttgart statt in Dublin und Madrid, und werden neue Werksanlagen lieber in München oder Hamburg statt in Barcelona oder Lissabon geplant. Aber die in den langen Jahren zuvor erlittenen Bremsverluste hat die deutsche Wirtschaft noch nicht wieder eingeholt, selbst nach fünf Krisenjahren, in denen die Wirtschaftsleistung vieler ehemaliger Tigerstaaten anders als in Deutschland kaum noch stieg oder sogar sank, liegt Deutschland über die gesamte Eurozeit gesehen immer noch zurück: Im Vergleich zu Irland etwa ist die deutsche Wirtschaft von 1995 bis 2012 nur halb so stark gewachsen und holt diesen Rückstand vielleicht niemals wieder auf.

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