02.12.2016

Essen als Abgrenzung

Analyse von Stefan Laurin

Titelbild

Foto: martinclark via Pixabay / CC0

Ob Bio, vegan oder vegetarisch: Essen ist längst mehr als Genuss und Sättigung. Es wurde zu einer Religion, deren Anhänger sich an dem Gefühl der eigenen Überlegenheit erfreuen.

Essen war immer eine wunderbare Möglichkeit, sich von anderen abzusetzen. Während beim mittelalterlichen Grundherren oft ein großes Stück Fleisch auf dem Tisch lag, steckten die Bauern ihre Holzlöffel in einen Topf voller Brei. Der französische König Ludwig XIV. schätzte Geflügel und frisches Gemüse, das in einer großen Auswahl von seinem Gärtner Jean de La Quintinie eigens für die Küchen Versailles angebaut wurde. Währenddessen kamen bei den meisten anderen Franzosen Bohnen und Brot auf den Tisch. Später dann sorgten die Industrialisierung und der wachsende Wohlstand dafür, dass Hunger immer seltener und die Auswahl an Lebensmitteln für fast alle größer wurde: Immer häufiger lag nun auch auf den Tischen von Arbeiterfamilien ein Braten. Es gab Kuchen und Torte und Obst und irgendwann auch exotische Leckereien wie Miracoli, Salamipizza von Dr. Oetker und Ravioli.

Aber lange ging es mit der lukullischen Demokratie nicht gut. In dem Maße, in dem ökologisches Denken um sich griff, geriet auch das Essen immer stärker in den Blick. Das ökologische Denken verdrängte zu Anfang zwei Aspekte des Essens, die bis dahin im Vordergrund standen: Genuss und Sättigung. Wer in den späten 1970er-Jahren einen der damals noch wenigen Bio-Läden betrat, hatte unter den Augen eines verhärmten Langhaarigen mit Latzhose eine magere Auswahl an verschrumpelten Äpfeln, rachitischen Kohlrabi und mitleiderregenden Kartoffeln. Um Spaß ging es hier nicht, sondern um das richtige, bessere Bewusstsein und für das musste man auch bereit sein zu leiden. Essen sollte nicht mehr in erster Linie lecker sein; es sollte gesund sein und zu einer anderen, vermeintlich besseren Welt beitragen.

„Das Bio-Lebensmittel gesünder sein sollen, ist eine religiöse Überzeugung.“

Für den Lebensmittelchemiker Udo Pollmer sorgt der Kult um Bio-Lebensmittel weder dafür, die Welt besser zu machen noch ist er der Gesundheit förderlich. Für ihn ist klar, warum dieser Bereich boomt: „Das hat vor allem den Grund, sich von anderen Menschen abzuheben. Andere Gründe sind vorgeschoben. Das Bio-Lebensmittel gesünder sein sollen, ist eine religiöse Überzeugung. Wer heute eine Diät macht sagt ‚Ich lebe vegan‘. Bei Einladungen kann man sagen: ‚Ich kann Fleisch aus ethischen Gründen nicht essen.‘ Dahinter steht Vanitas, der leere Schein.“

In seinen Büchern weist Pollmer, der nach seinem Erstlingswerk „Iß und stirb. Chemie in unserer Nahrung“ zu einem Liebling der Ökoszene avancierte, nach, dass es viele Mythen um Bionahrung gibt. Dem Handelsblatt gilt er als „Antichrist der Esskultur“. Pollmer sieht mit Befriedigung, dass der zu sorglose Umgang mit Chemikalien in der Landwirtschaft, den er einst aufdeckte, der Vergangenheit angehört. Heute glaubt er nicht mehr daran, dass biologisch erzeugte Produkte gesünder sind als die aus der konventionellen Landwirtschaft. In einem im Magazin Focus erschienenen Essay verweist Pollmer auf den Denkfehler vieler Konsumenten hin: „Weil Biolebensmittel ohne chemische Pflanzenschutzmittel erzeugt werden, erscheinen sie in den Augen vieler Verbraucher als besonders sicher. Gegen alle Fakten glauben viele Menschen, Lebensmittel seien dann besonders gesund, wenn sie naturbelassen sind. Das Gegenteil ist der Fall. Historisch betrachtet machten erst Züchtung und Verarbeitung aus nährwertlosen Gräsern Brotgetreide und aus unverdaulichen Wildfrüchten schmackhaftes Obst. Ohne die modernen Methoden der Konservierung wurden in früheren Zeiten ganze Dörfer durch verdorbene Nahrungsmittel dahingerafft.“

Vieles, was in der Ökoszene als Wahrheit gilt, hält einer näheren Überprüfung kaum stand. Thomas Jorberg, der Vorstandvorsitzende der in Öko-Kreisen beliebten Bochumer GLS-Bank, sieht die Ernährung der Menschheit nur gewährleistet, wenn global nach den Maßstäben der Bio-Landwirtschaft gearbeitet wird. Im Bankenspiegel, dem Kundenmagazin der Bank, prangert er die industrielle Nahrungsproduktion an: „Die Lebensmittelindustrie wirkt nicht nur zerstörerisch auf unsere natürlichen Lebensgrundlagen, sondern befindet sich auch in einem wirtschaftlich ruinösen Wettbewerb, da immer geringere Margen zum Qualitätsverfall und letztlich in den Ruin führen.“

„Die Ernährung von bald neun Milliarden Menschen ist nur durch industrielle Landwirtschaft möglich.“

Daran stimmt nichts. Nach Statistiken der Welthungerhilfe geht der Hunger seit mehr als zwei Jahrzehnten zurück und das hat nichts damit zu tun, dass Landwirte weltweit teilweise auf Bio-Produktion umgestellt haben, um die besonderen Bedürfnisse einer überschaubaren ökologisch korrekten Oberschicht in den USA und Westeuropa zu befriedigen. Die Experten geben besseres Saatgut und Fortschritte bei der Agrochemie und der Logistik als Hauptgründe an: Die Pflanzen sind widerstandfähiger geworden, die Erträge sind gestiegen und effektivere Pflanzenschutzmittel kommen zum Einsatz. Eine Ernährung von bald neun Milliarden Menschen ist nur durch eine industrielle Landwirtschaft denkbar. Würden die Vorstellungen westlicher Bio-Bürger Wirklichkeit werden, dann würden Milliarden Menschen verhungern.

Wenn die vernünftigen Gründe fehlen, sich für Biolebensmittel zu entscheiden, bleibt, wie Pollmer sagt, die Abgrenzung das wohl wichtigste Element. Nicht ganz zufällig überschreibt das Greenpeace-Magazin einen Artikel über Vegetarier mit dem Begriff „Besseresser“ und Thomas Schönberger, der Vorsitzende des Vegetarierbundes „Vebu“, weiß der WAZ zu erzählen, wer die typischen Vegetarier sind: „Weiblich, jung, gebildet, städtisch und im Westen lebend – das ist die Speerspitze der vegetarischen Bewegung.“

„Das ökologisch bewusste Leben ersetzt das gottgefällige.“

Der von Pollmer mit Religion verglichene Kult um die Gesundheit, der große Wert, der auf bio, Veganismus und Vegetarismus gelegt wird, markiert Milieu-, wenn nicht Klassengrenzen. „Der einzige Arbeiter, der in diesem Viertel je gesehen wurde, ist der Sozialarbeiter“ ist ein beliebter Scherz im Französischen Viertel Tübingens, die von Markus Feldenkirchen im Spiegel trefflich als „Die grüne Hölle“ beschrieben wurde. Gesundheit ersetzt langsam aber sicher das Geld, das ökologisch bewusste Leben das gottgefällige. Der von Max Weber beschriebene protestantische Arbeitsethos, der seinen Anhängern nach Webers Überzeugung zu mehr Wohlstand verhalf, wird ersetzt durch einen ökologischen Ethos, der zu einem längeren Leben führt. Es ist auch eine Ideologie all jener, die sich in den bequem ausgestatteten Nischen des öffentlichen Dienstes, dem natürlichen Habitat der Anhänger der Grünen, niedergelassen haben. Denn Statistiken zeigen, dass Manager und Arbeiter, die viel leisten, beispielsweise im selben Maße zur ungesunden Zecherei neigen.

So kamen die Daten der National Longitudinal Mortality Study aus den USA gut an. Sie zeigten, dass es einen Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit gab, der unabhängig vom Einkommen war: Während die Lebenserwartung der gut ausgebildeten in den 1990er-Jahren um 1,6 Jahre stieg, wurden Menschen ohne Ausbildung nicht älter. Während die US-Studie schon ganz im Zeitgeist eines ökologischen Puritanismus feststellte, dass Gebildete sich besser ernähren und weniger rauchen und daher die Armen und Dummen durch ihr Verhalten selbst an ihrem früheren Tod Schuld seien, kam zeitgleich eine Schweizer Studie zum selben Ergebnis, was die Lebenserwartung betraf, zog allerdings andere Schlüsse: Wer die Voraussetzungen und Chancen hat, eine höhere Ausbildung zu erlangen, wird in vielen Bereichen des Lebens bevorteilt – und lebt schließlich länger. Menschen mit niedrigerer Bildung, die oft unter härteren Bedingungen arbeiten würden, sollte man zum Ausgleich die Möglichkeit geben, früher in Rente zu gehen.

Von solchen Ideen ist schon längst nicht mehr die Rede. Das Bionade-Bürgertum sonnt sich in seiner Überlegenheit und genießt es, sich von den niedrigeren Ständen abzusetzen, Besseresser und Besserleber zu sein. Doch ein Ende des Glücks ist in Sicht: Die Discounter Aldi-Süd und Lidl bauen ihre Filialen zu kleinen Bio-Paradiesen um. Spätestens wenn die Putzfrau im Waldorfkindergarten in ihrer Pause an ihrem Bio-Brot mümmelt, taugt all das kaum noch, um sich abzusetzen. Dann muss etwas anderes her – es wird spannend zu sehen, was das sein wird. Nur eines ist klar: Der Abstand zwischen der Putzfrau im Waldorfkindergarten und den Eltern der dort untergebrachten Kinder wird am Ende wieder gewahrt sein.

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