15.03.2021
Es war einmal in Philadelphia
Von Andrea Seaman
Die Gelbfieber-Epidemie, die 1793 Philadelphia heimsuchte, traf auf Politiker, die damit anders umgingen als die heutigen mit Corona. Schwarze Einwohner handelten jenseits heutiger Identitätspolitik.
Als eine Seuche 1793 Philadelphia erdrückte, war es die Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika. Das Herz der Revolution und der freien Welt, wo die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung unterzeichnet worden waren, sowie eine Handelsmetropole.
Die Anführer der jungen Nation waren vor Ort. George Washington, der erste Präsident. Thomas Jefferson, der Außenminister. Alexander Hamilton, der Finanzminister. Und natürlich Dr. Benjamin Rush, Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung und Arzt – er verkündete die Nachricht von einer drohenden Seuche.1 Die Art und Weise, wie diese Führungspersönlichkeiten mit einer tödlicheren Krankheit als Covid-19 umgingen, steht in krassem Gegensatz zu dem, wie die Menschen unserer Zeit mit Corona umgehen.
Ende August 1793 zählte die Stadt Philadelphia ungefähr 50.000 Einwohner. Anfang November: 5000 Tote. Das war die Gesamtzahl der Todesopfer (wahrscheinlich eine Unterschätzung), aber da 20.000 geflohen waren, bevor diese endgültige Opferzahl erreicht war, entsprach sie 20 Prozent der in Philadelphia Verbliebenen. Das Gelbfieber hatte zugeschlagen. Mit einer Härte, die man bisher in den USA nicht kannte.
Das Fieber brachten die Flüchtlinge und Einwanderer von den Westindischen Inseln mit, wo die Revolution gegen Frankreich ausgebrochen war. Mücken verbreiteten das Virus von Person zu Person, doch ließ sich damals nur spekulieren.
Vorsicht war besser als Nachsicht bei einem Fieber, wo Kranke schwarze Flüssigkeit oder Blut erbrachen, wie Geister zwanghaft seufzten, entsetzlich schrien, in den Wahnsinn gestürzt wurden, oder apathisch und gelbhäutig verendeten. Also hielt jeder Einzelne von jedem anderen Abstand, sich vor einer Ansteckung von Person zu Person fürchtend. Falls man miteinander sprach, dann auf Distanz, mit Kampfer oder Essig durchtränkten Taschentüchern vor Mund und Nase. Die Geschäfte machten zu. Arbeitslose überall, die Straßen leer. Zigarren, so sagte man, halfen gegen die Krankheit. Kinder folgten diesem Rat. Die Schulen schlossen. Das unzulänglich und unzureichend ausgestattete Philadelphia Hospital verstieß mit der Aufnahme von Gelbfieberkranken gegen die Vorschriften.
„Thomas Jefferson führte Aufzeichnungen über die Sterblichkeitsrate, ermittelte die Infektions-Todesrate anhand der täglich bekannten Fälle, studierte die Natur der Krankheit und stellte Spekulationen über ihren Ursprung an.“
Der Staat brach komplett zusammen. Der Kongress tagte mit vielen fehlenden Repräsentanten und vertagte sich bis Dezember. Viele wunderten sich, weshalb westindische Schiffe immer noch ungehindert im Hafen anlegen durften. Der Gouverneur Philadelphias, Mifflin, erhielt Sondervollmachten, floh aber, während Bürgermeister Clarkson als einer der letzten hohen Beamten im verseuchten Philadelphia blieb. Seine Mitarbeiter hatten das sinkende Schiff bereits verlassen, oder hockten zu Hause, krank oder bereits tot. Das Ausmaß der Seuche war erschreckend.
Am 4. September starben 23. Normalerweise schieden zu dieser Zeit täglich nur drei bis fünf in der Stadt dahin. Zwei Wochen später, am 18. September, raffte es 60 hinweg. So ging es von Tag zu Tag, bis sich die Zahlen am 9. Oktober auf über 100 beliefen. Todeszahlen schwebten fast zwei Wochen lang in dieser Größenordnung. Die Kirchenglocken läuteten ständig; man verbot sie, zu deprimierend war ihr Dauerklang. Kanonen und Flinten explodierten da und dort, in Häusern und Straßen, um die scheinbar verpestete Luft zu reinigen. Leichen überfluteten die Friedhöfe, und wurden oft in einem bereits zersetzten Zustand dorthin gekarrt, weil man der Nachfrage nicht hinterherkam. Ein der Krise angemessenes Krankenhaus fehlte, also mussten sie eines in einem großen alten Haus provisorisch einrichten.
Unerschrockene Politiker
Aber siehe da, mitten in der Pestilenz, zog Jefferson unerschrocken durch die Stadt. Der Gründervater der USA, der am Stadtrand lebte, reiste jeden Tag ins Zentrum. „Ich denke, es besteht eine rationale Gefahr, aber ich hatte vorher angekündigt, dass ich nicht vor Anfang Oktober gehen würde, & ich mag nicht den Anschein von Panik erwecken.“
Er würde seine Landsleute nicht leichtfertig im Stich lassen. Jefferson speiste oft unbekümmert mit Hutchinson, obwohl dieser in der Stadt die Fieberkranken heilte. Hutchinson fiel dem Fieber am 6. September selbst zum Opfer. Jefferson führte auch Aufzeichnungen über die Sterblichkeitsrate, ermittelte die Infektions-Todesrate anhand der täglich bekannten Fälle, studierte die Natur der Krankheit und stellte Spekulationen über ihren Ursprung an, die er in Briefen an illustre Persönlichkeiten wie James Madison, einem weiteren Gründervater, mitteilte.
Und Jefferson, der Mitte September verreiste, war unter den großen Staatsmännern seiner Zeit in seiner Bereitschaft, dem Tod zu trotzen, nicht allein. George Washington, der Präsident, verließ die Stadt erst am 10. September, wie es zu dieser Jahreszeit seine Gewohnheit war. Er residierte mitten in der High Market Street Philadelphias, einem Seuchenhotspot. Alexander Hamilton erkrankte und genas, und schrieb den Bürgern Philadelphias, um „diese unangemessene Panik“ zu überwinden, „die die Stadt schnell entvölkert und die Geschäfte sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich unterbricht.“ Das gestörte Geschäftsleben sollte wieder in Gang kommen, forderte Hamilton, selbst inmitten der Epidemie.
„Vor allem hat wohl das freiheitsorientierte Denken der Zeit, unveräußerlichen Rechten des Menschen verpflichtet, Lockdowns nicht einmal in Betracht gezogen.“
Jefferson, Washington und Hamilton waren im Feuer der Aufklärung, im Geiste der Freiheit der Amerikanischen Revolution geschmiedet worden. Von einer solchen Mentalität durchtränkt, reagierten sie in dieser kühnen, der Panik trotzenden Weise. Auch ihre Politik wurde nicht von der Seuche beherrscht. Die Briefe dieser großen Staatsmänner sind voller politischer und persönlicher Diskussionen, als ob in Philadelphia nichts los gewesen wäre. Dies steht im Gegensatz zu heutigen Politikern, die von Covid-19 besessen sind und Angst davor schüren, wie Angela Merkel, die vom letzten Weihnachten mit den Großeltern warnt.
An einen Lockdown dachte man schon gar nicht. Es wäre einfach gewesen, das Kriegsrecht auszurufen und Philadelphia nach außen und im Innern abzuriegeln. Der rationale Straßenplan der Stadt, wie ein Schachbrett gemustert, hätte das leicht gemacht. Aber wer braucht schon einen Lockdown und „social distancing“, wenn die Menschen das alles aufgrund der Schwere der Krankheit bereits aus freiem Willen selbst ausführen? Ist die Krankheit schlimm genug, muss man solche verbindlichen Maßnahmen nicht anordnen. Vor allem hat wohl das freiheitsorientierte Denken der Zeit, unveräußerlichen Rechten des Menschen verpflichtet, Lockdowns nicht einmal in Betracht gezogen.
Hautfarben
Die soziale Solidarität unter Philadelphiern florierte damals, auch inmitten der kollabierten sozialen Ordnung der Stadt. Auch zwischen Schwarz und Weiß. Die Mitglieder der „Afrikanischen Gesellschaft“ zur Unterstützung armer Schwarzen, geführt von den beiden früheren Sklaven Absalom Jones und Richard Allen, die sich selbst freigekauft hatten, halfen dem Bürgermeister als erste Freiwillige.
Sie trugen Tote zu den Gräbern, Kranke zum improvisierten Hospital. Anfangs gratis, wogegen Weiße von Beginn an Lohn erwartet hätten; die Verstorbenen berührend, wo die meisten Weißen den Leichen nicht einmal auf zehn Meter nahekommen wollten. Weiße wurden dabei beobachtet, wie sie für solche Dienstleistungen skrupellos überhöhte Summen von den Armen verlangten. Die Schwarzen, die zur Afrikanischen Gesellschaft – einem kleinen Teil der 2000 Schwarzen in Philadelphia – gehörten, stahlen nicht von den Toten, wie die Weißen, die sie auf frischer Tat ertappten. Jones und Allen schrieben später ein Buch, in dem sie sich gegen die ungerechtfertigten Vorwürfe verteidigten, die Kranken ausgebeutet zu haben.
Man könnte meinen, dass „People of Color“ eine moderne politisch korrekte Phrase ist, aber Jones und Allen verwenden sie in ihrem 1794 veröffentlichten Buch. Im Gegensatz zur heutigen Identitätspolitik weisen Jones und Allen schnell darauf hin, dass „wir der Öffentlichkeit versichern können, dass es genauso viele Weiße wie Schwarze gab, die bei Diebstählen entdeckt wurden,“2 und dass „es unserer Meinung nach einen ebenso großen Anteil an Weißen wie an Schwarzen gibt, die zu solchen Praktiken neigen.“3
„Eine neue Normalität gab es nicht.“
Natürlich gab es Rassismus, der sich gegen die Schwarzen richtete, die aushalfen. Aber das wurde überschattet von den vielen Kranken, die dankbar für ihre Hilfe, ihren Trost und ihre medizinische Versorgung waren. Zwar dachte man zunächst, Schwarze seien weniger anfällig für das Fieber und damit weniger gefährlich als Weiße. Aber dieser Mythos verschwand schnell, als außer Zweifel stand, dass sie genauso anfällig für die Krankheit waren.
Jones und Allen ließen sich nicht auf eine Opfermentalität ein und versuchten nicht, die Mitleidskarte zu spielen. Stattdessen begegneten sie ihren rassistischen Gegnern rational, humanistisch, indem sie den universalistischen Standpunkt vertraten, dass sowohl Weiße als auch Schwarze keine Engel sind, sondern gleichermaßen fehlbare oder ehrbare Menschen. „Wir haben genauso gelitten wie die Weißen“, erklärten sie,4 während „viele der Weißen, die für uns ein Vorbild sein sollten, sich in einer Weise verhalten haben, die die Menschheit erschaudern lassen würde.“5
Und dann widmen sie einen Abschnitt ihres Buches einer vernichtenden Kritik am Rassismus: „Wollt ihr“, fragen Jones und Allen rhetorisch, „weil ihr uns in den unglücklichen Zustand versetzt habt, in dem sich Menschen unserer Hautfarbe befinden, unsere Unfähigkeit zur Freiheit anführen, und unseren zufriedenen Zustand unter der Unterdrückung als ausreichenden Grund dafür, uns unter dem schmerzhaften Joch zu halten?“6 „Der verständige Teil der Menschheit", so schreiben sie, „wird es für unvernünftig halten, dass seitens derjenigen, die uns als Menschen stigmatisieren, deren Niedertracht unheilbar ist, ein überlegenes Wohlverhalten von unserer Rasse erwartet wird.“7 Wir sollten also nicht vergessen, dass die Erhebung von Schwarzen in den Heiligenstand, an deren Verhalten aufgrund ihrer Hautfarbe menschenunmögliche Standards angelegt werden, historisch gesehen die Mentalität der Rassisten ist. Eine Lektion, die die ‚Woken‘ bis heute nicht gelernt haben, die die heilige Meghan Markle verehren, die in ihren Augen nichts falsch machen kann.
Alte Normalität
Nicht zu vergessen sind die Ärzte, Mediziner, die freiwilligen Helfer jeder Herkunft, der Bürgermeister, und die Organisationen, die sich um die Kranken bemühten, das Leiden milderten. Rush, ein Freund der Schwarzen, den Jones und Allen „diesen guten Mann“ nannten, brachte ihnen näher, wie man Patienten behandelt. Es war Rush, der sich von Anfang bis Ende um die Kranken kümmerte, der krank wurde, einen Kollaps erlitt, ins Delirium fiel, und dennoch sein Haus jederzeit für die Hilfesuchenden offenhielt.
Die Zeitungen waren voll von unzensierten Debatten über die Ursprünge der Krankheit, die Streitigkeiten der Ärzte über die Behandlung und ihre Zankereien, bei denen sie sich im Grunde gegenseitig beschuldigten, Patienten durch unwirksame Mittel zu ermorden. Das einzige Problem bestand darin, dass das Papier knapp wurde und die Autoren sich rar machten, sei es auf Grund von Flucht oder weil sie vom Tod bedroht oder der Krankheit schon erlegen waren.
In den ersten Novemberwochen kehrte wieder Normalität ein. Washington und Jefferson kamen zurück, der Kongress trat wieder zusammen. Geschäfte und Schulen öffneten wieder, und das öffentliche Leben kam wieder in Gang. Eine neue Normalität gab es nicht. Die Amerikaner, die Philadelphier, waren nicht bereit, ihre Lebensweise wegen einer Krankheit zu ändern, auf die sie wenig Einfluss hatten. Sie verstanden, dass die Seuche ihre Aktivitäten einschränkte. Sobald das Hindernis beseitigt war, würden sie wieder zu ihrer Vitalität zurückfinden. So geschah es auch. Vielleicht könnten wir das eine oder andere von diesen revolutionären Seelen lernen…