10.09.2021
Es gibt keine moderaten Taliban
Von Brendan O’Neill
20 Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 fallen zu viele im Westen auf den Mythos einer reformierten, geläuterten Taliban herein.
Hätte Ihnen jemand im September 2001, als die Zwillingstürme fielen und die Menschen im Pentagon starben, gesagt, dass Amerika es am 20. Jahrestag dieser Gräueltat in Erwägung zöge, sich mit den Helfershelfern dieser Tat zu verbünden, hätten Sie ihn für verrückt erklärt. Doch nun sind 20 Jahre seit diesem düsteren, apokalyptischen Tag vergangen, und ein US-Militärchef hält es für „möglich“, dass seine Streitkräfte mit den Taliban zusammenarbeiten werden. Ja, denselben Taliban, die Osama bin Laden beherbergten, als seine Schergen den 11. September 2001 planten. Denselben Taliban, deren Verbindungen zu Al-Qaida sich in den letzten zwei Jahrzehnten sogar noch vertieft haben – wie es in einem kürzlich veröffentlichten UN-Bericht heißt, sind die Taliban und Al-Qaida jetzt durch ideologische Sympathie und Eheschließungen eng miteinander verbunden. Diese Taliban. Diese Al-Qaida – das sind diejenigen, denen Amerikas Militärchefs kokette Blicke zuwerfen.
Die „Möglich“-Bemerkung kam von Mark Milley, keinem Geringererem als dem Vorsitzenden der Generalstabschefs. Auf einer jüngsten Pressekonferenz des Pentagon wurde Milley gefragt, ob seine Streitkräfte möglicherweise eine operative Beziehung zu den Taliban aufbauen könnten, um IS-K (den Islamischen Staat – Provinz Chorasan) zu bekämpfen. Dabei handelt es sich um das lokale IS-Netzwerk, das in Afghanistan zahlreiche Gräueltaten verübt hat, darunter das Selbstmordattentat am Kabuler Flughafen vom 26. August, bei dem fast 200 Menschen, darunter 13 amerikanische Soldaten, getötet wurden. Das sei „möglich“, sagte er. Ja, die Taliban seien „skrupellos“, räumte er ein, aber der Feind meines Feindes und so weiter (die Taliban und der IS haben sich in den letzten Jahren gegenseitig bekämpft). Milleys Kommentar folgt auf eine an Lob grenzende Bemerkung Frank McKenzies, dem Leiter des US Central Command. Amerikas Umgang mit den Taliban während der Sicherung des Flughafens von Kabul sei „sehr pragmatisch und sehr geschäftsmäßig“ gewesen, gurrte er.
„20 Jahre Krieg, ‚Nation-Building‘, Mohnblumenvernichtung und die Unterweisung von Afghanen in Dingen wie moderner Kunst haben Afghanistan nicht in das Seattle Zentralasiens verwandelt, wie es sich die NGO-Industrie vorgestellt hatte.“
Nein, Milleys Äußerung bedeutet nicht, dass Amerika definitiv Antiterroroperationen an der Seite der Taliban starten wird – also der Bewegung, die die Leute beherbergt hat, die den schlimmsten Terroranschlag der Neuzeit verübt haben (daran sei immer wieder erinnert). Aber dass eine solche Perspektive überhaupt in der Öffentlichkeit vorgebracht werden kann, ist vielsagend. Die langsame Annäherung Amerikas an die Taliban ist in vielerlei Hinsicht merkwürdig und auffällig. Welchen Sinn hatte der Verlust von 2400 US-Militärangehörigen, die größtenteils im Kampf gegen die Taliban gefallen sind, wenn die USA nun eine geschäftsmäßige Beziehung und möglicherweise sogar eine Art Antiterror-Bündnis mit diesen „skrupellosen“ Islamisten eingehen wollen? Und wie werden sich die Gedenkfeiern zum 20. Jahrestag von 9/11 anfühlen, was werden sie bedeuten, wenn die Menschen wissen, dass Amerikas oberste Militärs hinter den Kulissen überlegen, ob sie sich mit den Taliban/Al-Qaida zusammentun sollten, um IS-K auszurotten?
Erstens offenbart all dies, wie katastrophal die Intervention in Afghanistan gewesen ist. Sie hat den Raum für das Entstehen islamistischer Terrorgruppen geschaffen, die noch schlimmer sind als diejenigen, denen die USA nach dem 11. September den Krieg erklärt hatten. 20 Jahre Krieg, „Nation-Building“, Mohnblumenvernichtung und die Unterweisung von Afghanen in Dingen wie moderner Kunst haben Afghanistan nicht in das Seattle Zentralasiens verwandelt, wie es sich die NGO-Industrie vorgestellt hatte. Die Intervention hat noch nicht einmal die Taliban und Al-Qaida ausgeschaltet, was ihr eigentlicher Auftrag gewesen war. Vielmehr haben die Taliban wieder das Sagen, ihre Al-Qaida-Verbündeten fühlen sich zweifellos ermutigt, und noch nihilistischere Formen der islamistischen Barbarei sind auf den Plan getreten, um die Lücken zu füllen, die die Regimewechselpolitik des Westens nach dem 11. September in Afghanistan, Irak, Syrien und Libyen hinterlassen hat. Und die mächtigen USA, die nach dem 11. September 2001 die Operation „Enduring Freedom“ gestartet hatten, müssen nun die unangenehme Tatsache akzeptieren, dass sie im Wesentlichen von einer Bewegung aus dem 12. Jahrhundert besiegt worden sind, die dem Mann, der vor 20 Jahren ein Massaker an 3000 Menschen anrichtete, Zuflucht und Beistand gewährte. Vielleicht muss Amerika bald seine eingeschworenen Feinde vom September 2001 um Hilfe bitten. Dies stellt eine globale Demütigung schwindelerregenden Ausmaßes dar.
Aber es scheint noch etwas anderes vor sich zu gehen. Eine tiefer verwurzelte Inkohärenz in den Reihen der westlichen Eliten. Diese Verwirrung findet aktuell ihren Ausdruck in der außerordentlichen Naivität gegenüber den Taliban. Man tut sich schwer, die Wahrheit über die Taliban zu akzeptieren – dass sie eine rückständige, regressive und gefährliche Bewegung sind, die eine erhebliche Bedrohung für die Menschlichkeit und Freiheit in Afghanistan darstellt. Stattdessen scheinen viele im Westen, vom Militär über Berater im Weißen Haus bis hin zu Medienkommentatoren, der Fantasie von einer Art Taliban 2.0 auf den Leim gegangen zu sein, der Vorstellung von gütigeren, sanfteren Taliban, die nicht mehr ganz so frauenfeindlich sind wie vor 20 Jahren und die Ladendieben vielleicht nur im Wiederholungsfall die Hände abhacken und nicht mehr dem durchschnittlichen verzweifelten Brotklauer. Es gibt fast schon Bemühungen, die Taliban zu rehabilitieren – wenn etwa die Pressesprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, die Taliban anfleht, über ihre „Rolle in der internationalen Gemeinschaft“ nachzudenken. Vielleicht werden die Taliban eines Tages neben dem Iran in den UN-Frauenrechtsausschuss einziehen?
„Überall wird laut spekuliert, ob der Westen mit den Taliban zusammenarbeiten kann.“
Überall wird laut spekuliert, ob der Westen mit den Taliban zusammenarbeiten kann. „Haben sich die Taliban verändert, seit sie das letzte Mal an der Macht waren?“, lautet eine aktuelle Schlagzeile bei den britischen Sky News. „Wie moderat sind die Taliban?“ fragen in Deutschland wortgleich F.A.Z. und Tagesspiegel. Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) will den Taliban Geld anbieten, wenn sie sich etwas netter gegenüber Frauen und anderen Gruppen geben. Diese Diskussionen über eine künftige „integrative“ Regierung, die von den Taliban angeführt und in die internationale Gemeinschaft integriert wird, finden statt, während mächtige örtliche Taliban-Kommandeure der BBC Interviews geben, in denen sie sagen, dass Mädchen keinen Schulunterricht erhalten sollten, dass „unislamische“ Musik verboten werden sollte und dass die Strafe für Ehebruch „die Steinigung ist“. Ich kann mir kaum vorstellen, dass diese Leute an Workshops zur Konsensfindung teilnehmen werden.
Ja, es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Taliban verändert haben. Dinge ändern sich mit der Zeit. 20 Jahre Krieg und – für die Taliban-Führung – Exil werden sich zweifellos auf diese Bewegung ausgewirkt haben. Aber die Vorstellung, dass die Taliban nicht mehr wirklich die Taliban sind – dass sie ihre islamistische Intoleranz gegen eine Politik der Integration eintauschen könnten – ist eine Illusion. Ein Hauptargument der naiven Talibanversteher ist, dass das Exil zur Globalisierung und damit zur Normalisierung der Taliban-Führung beigetragen haben könnte. In einem Artikel mit der Überschrift „Wie das Exil die Taliban veränderte“ beschreibt die Financial Times, wie die Taliban-Führer in der „glänzenden Modernität“ Katars lebten und von Diplomaten in verschiedenen anderen Golfstaaten sowie in Pakistan bewirtet wurden. Es habe „Salongespräche“ über die Bildung einer „integrativen“ Regierung gegeben, heißt es. Das klingt wie eine globale Version der Nonsens-Ideologie der „Deradikalisierung“, die an radikalen Islamisten in Großbritannien ausprobiert wurde. Westliche Funktionäre scheinen wirklich zu glauben, dass ein bisschen Therapie und Schmeichelei oder ein Blick auf die Moderne, sei es in den Klassenräumen des Hochsicherheitsgefängnisses Belmarsh oder in einem protzigen Hotel in Doha, ausreicht, um einen Hardcore-Islamisten in einen Hippie zu verwandeln.
In Wirklichkeit kann die Globalisierung oft das Gegenteil von „Deradikalisierung“ bewirken. Sie kann den islamistischen Radikalismus eher verstärken, als ihn zu mildern. Ein prinzipieller Spannungspunkt zwischen den Taliban und Al-Qaida in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren lag darin, dass die Taliban stark lokal ausgerichtet waren und sich ausschließlich auf die Errichtung eines Emirats innerhalb der Grenzen Afghanistans konzentrierten, während Al-Qaida sich als hochgradig globalisierte, technologisch versierte Organisation eher zum Spektakel des internationalen Terrorismus hingezogen fühlte als zur harten, langweiligen Aufgabe, eine lokale Theokratie aufzubauen. Wenn die Taliban in den letzten zwei Jahrzehnten ihre Beziehungen sowohl zu den mittelschichtigen Globalisten von Al-Qaida als auch zu den reichen, modernen Scheichs der Golfstaaten gefestigt haben, könnten sie dadurch durchaus bedrohlicher und selbstbewusster in ihrem Islamismus geworden sein.
„Wenn die Taliban in den letzten zwei Jahrzehnten ihre Beziehungen sowohl zu den mittelschichtigen Globalisten von Al-Qaida als auch zu den reichen, modernen Scheichs der Golfstaaten gefestigt haben, könnten sie dadurch durchaus bedrohlicher und selbstbewusster geworden sein.“
Man beachte etwa, wie unbekümmert die Taliban darüber sind, dass ihr Vermögen von einem feindseligen Westen eingefroren werden könnte. Die Financial Times berichtet, dass „ein westlicher Funktionär, der an einer Ausbildungsinitiative für moderne Regierungsführung beteiligt ist“ – ja, wir bilden die Taliban aus, damit sie modern werden! –, etwas Interessantes eingeräumt hat. Die Möglichkeit, der Westen könnte ihnen die direkte finanzielle Unterstützung entziehen, lasse „hochrangige Taliban“ unbesorgt, weil sie glaubten, dass das Geld „von China, Pakistan, Russland und Saudi-Arabien ersetzt werden wird“. Und so wird es wahrscheinlich auch kommen. Die Globalisierung der Taliban-Führung im Exil könnte die Entschlossenheit der Taliban, ihr Emirat zu verwirklichen und ihre Macht in ganz Afghanistan durchzusetzen, eher befördern als behindern. Im Exil haben die Taliban schließlich ihre Kontakte ausbaut und einen Vorgeschmack auf die globalisierten Netzwerke von Macht, Einfluss und der Sprache des Terrors erhalten.
Natürlich sind die Taliban eine zersplitterte Bewegung. Ihre jüngsten Erfolge bei der Expansion jenseits ihrer üblichen paschtunischen Anhängerschaft und der Anwerbung anderer ethnischer Gruppen in Afghanistan, einschließlich der Tadschiken und Usbeken, sind sowohl Zeichen der Stärke ihrer Bewegung als auch ihrer grundlegenden Instabilität. Ihr Wachstum ermöglichte es den Taliban, praktisch ganz Afghanistan zu erobern, aber das birgt auch sektiererische Probleme für die Zukunft.
Angesichts dieser rapiden Ausbreitung ist es erschreckend naiv, wenn Aussagen von Taliban-Vertretern wie „Wir werden die Rechte der Frauen respektieren“ gegenüber BBC oder CNN im Westen für bare Münze genommen werden. Bei den heutigen Taliban handelt es sich um eine uneinheitliche Schar, wobei viele Mitglieder genauso skrupellos sind wie die Taliban in den späten 1990er Jahren, wenn nicht noch skrupelloser. In Teilen Afghanistans drängen Taliban-Vertreter Frauen aus dem Arbeits- und Hochschulleben und bestrafen sie, weil sie sich nicht sittsam kleiden. Es gab Hinrichtungen und die Niederschlagung von Anti-Taliban-Protesten. Am bemerkenswertesten ist, dass dem Haqqani-Netzwerk die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul übertragen wurde. Dies ist der Flügel der Taliban mit den engsten Verbindungen zu Al-Qaida. Er wird derzeit von den USA mit Sanktionen belegt. Die Taliban-Führung hat den Freunden von Al-Qaida grünes Licht gegeben, Kabul zu beherrschen, und westliche Beobachter sprechen immer noch von einer reformierten, geläuterten Bewegung. Es ist surreal.
„Ein Westen, der nicht mehr weiß, wofür er steht, wird nicht in der Lage sein zu artikulieren, wogegen er steht.“
Die westlichen Illusionen über die Taliban 2.0 haben viele Gründe. Zum Teil haben wir es wohl einfach mit Realitätsvermeidung zu tun. Wer will schon die Wahrheit über die kolossalen Misserfolge der westlichen Intervention in Afghanistan einräumen? Noch beunruhigender ist die Möglichkeit, dass die PR-Maschine der Taliban besser funktionieren könnte als die des Westens (vielleicht eine weitere Sache, die sie im Zuge ihrer Globalisierungserfahrung im Exil gelernt haben?).
Vor allem aber zeugt die westliche Naivität gegenüber den Taliban von einem tiefen Widerwillen, sich unseren Feinden zu stellen oder auch nur zuzugeben, wer unsere Feinde sind. Seit 20 Jahren sind westliche Regierungsvertreter, Beobachter und Wissenschaftler sehr zurückhaltend dabei, die neuen Terrornetzwerke zu benennen, die dem Westen Feindschaft geschworen haben und gewaltige Akte der Barbarei gegen die Bürger westlicher Staaten verüben. „Man sagt nicht ‚Islamisten‘“, heißt es, denn diese Leute „haben nichts mit dem Islam zu tun“. Noch besser wäre es, überhaupt nicht über das islamistische Problem zu reden, dann würde es vielleicht verschwinden. Einem Westen, der nicht einmal bereit ist, über die Tatsache zu sprechen, dass ein britischer Lehrer immer noch untergetaucht ist, nachdem er Todesdrohungen von islamischen Fundamentalisten erhalten hat, wird es kaum leicht fallen, mit dem weitaus umfassenderen globalen Problem der islamistischen Regression ehrlich umzugehen.
Die Sache ist die: Ein Westen, der nicht mehr weiß, wofür er steht, wird nicht in der Lage sein zu artikulieren, wogegen er steht. Ein Westen, der von der Abscheu vor seinen eigenen Traditionen und Werten zerfressen ist, wie man an der Wendung gegen die moderne westliche Geschichte sehen kann, die in der gesamten Anglosphäre zu beobachten ist, vom Weißen Haus bis zu den Universitäten, wird kaum in der Lage sein, sich gegen eine ausländische Bewegung zu stellen, die unsere Lebensweise ebenfalls verabscheut.
Die Wahnvorstellungen über die Taliban 2.0 sind im Grunde Ausdruck einer moralischen Zurückhaltung, ja sogar einer moralischen Feigheit, bei der Verschleierung an die Stelle von Klarheit tritt und Mythenbildung über diese angeblich moderat gewordene islamistische Bewegung an die Stelle der schwierigen Aufgabe tritt, unsere eigene Lebensweise als die überlegene zu behaupten. Westliche Beobachter können oder wollen die Wahrheit über die Taliban nicht zugeben, weil dies bedeuten würde, dass sie etwas tun müssten, was sie nicht mehr tun – ein Urteil fällen, Stellung beziehen und die Aufklärung gegen die Theokratie verteidigen.