18.08.2021

Schlimmer als Saigon

Von Brendan O’Neill

Titelbild

Foto: The U.S. Army via Flickr / CC BY 2.0

Die Demütigung der USA in Afghanistan zeigt, dass der woke Westen mittlerweile völlig unfähig ist, für seine eigenen Interessen und Werte einzustehen.

Alle sagen, es sei wie in Saigon im Jahr 1975. Hubschrauber, die eine amerikanische Botschaft evakuieren. Chaotische, erschütternde Szenen auf dem örtlichen Flughafen, als amerikanische Verbündete oder einfach nur verängstigte Menschen verzweifelt versuchen, aus dem Land zu fliehen. Amerikanische Funktionäre überzeugen absolut niemanden mit ihren weltfremden Behauptungen, dass die „Mission erfolgreich“ (in Antony Blinkens Worten) gewesen sei. Es ist für alle offenkundig, so die Kommentatoren: Kabul im Jahr 2021 ist eine Wiederholung von Saigon im Jahr 1975. Amerika ist gedemütigt, seine Feinde sind auf dem Vormarsch.

Doch hier ist die brutale Wahrheit: Was momentan geschieht, ist schlimmer als Saigon. Ja, Amerikas Niederlage in Vietnam war eine epochale Demütigung für die selbst ernannten Verteidiger der Freiheit im Kalten Krieg gegen das „Reich des Bösen“ und seine kommunistischen Verbündeten. Aber der Rückzug der USA in Afghanistan, der alarmierend schnelle Zusammenbruch ihrer Verbündeten in der afghanischen Regierung, der Fall von Kabul wie ein Kartenhaus und die Tatsache, dass die Operation Enduring Freedom, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gestartet wurde, nicht in Freiheit, sondern mit dem Überleben und dem schließlichen Sieg des Feindes, der Taliban, endete – all dies stellt den bedeutendsten Moment des geopolitischen Niedergangs der USA seit Jahrzehnten dar. Tatsächlich wirft dies nicht nur Fragen zu Amerikas globaler Stellung auf, sondern auch zu seinem eigentlichen Zweck und Sinn als Nation.

Das Ausmaß der Demütigung, die die Vereinigten Staaten gerade erlitten haben, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die mächtigste Militärmacht der Welt und ihre unglaublich gut finanzierten Verbündeten in Kabul wurden von einer regressiven Bewegung aus dem 12. Jahrhundert beiseitegeschoben, die der Meinung ist, dass Ehebrecher gesteinigt werden sollten. Die Verbündeten der technologisch aufgerüstetsten Armee der Welt wurden von einer zusammengewürfelten islamistischen Armee in die Flucht geschlagen, die sich sofort nach ihrer Ankunft in Kabul daran machte, Werbeplakate für weibliche Schönheitsprodukte zu übermalen. Eine Nation, die in Freiheit gegründet wurde – und die ihre internationale Präsenz während der gesamten Nachkriegszeit mit der Sprache der Freiheit rechtfertigte – wurde von einer Bewegung verdrängt, die so intolerant ist, dass sie Popmusik verbietet, Komiker hinrichtet, die sich über sie lustig machen, und Frauen mit Stöcken schlägt, wenn sie ihrer Meinung nach unanständig gekleidet sind.

„Die mächtigste Militärmacht der Welt und ihre Verbündeten wurden von einer regressiven Bewegung aus dem 12. Jahrhundert beiseitegeschoben, die der Meinung ist, dass Ehebrecher gesteinigt werden sollten.“

Die Auswirkungen des amerikanischen Versagens, des langsamen, tragischen Weges von der Operation Enduring Freedom bis zu den heutigen Bildern verzweifelter Afghanen, die sich an das Fahrgestell der letzten US-Militärflugzeuge klammern, die Afghanistan verlassen, werden schrecklich und lang anhaltend sein. Vor allem aber haben sich die USA als unzuverlässiger Verbündeter erwiesen. Welche Nation oder welches Volk, das Hilfe braucht, würde sich mit dieser angeblich freiheitsliebenden Supermacht verbünden, die ihre Verbündeten ihrem Schicksal überlässt, sobald der Feind anklopft? Wer wird den USA jetzt noch vertrauen, dass sie beim Aufbau neuer Institutionen helfen, angesichts der faulen Früchte ihres milliardenschweren, zwanzigjährigen „Nation-Building“-Projekts in Afghanistan – einer verhängnisvoll schwachen Potemkinschen Regierung, die sofort kapitulierte, als die Taliban die Straßen Kabuls stürmten?

Dieses geopolitische Desaster für die USA wird auch die Hand ihrer Gegner stärken, insbesondere die Chinas. China ist bereits dabei, seine Beziehungen zu den Taliban zu festigen und seinen maßgeblichen Einfluss im neuen Afghanistan geltend zu machen. Der Sieg des selbsternannten Islamischen Emirats Afghanistan wird auch islamistischen Kräften Auftrieb geben. Sowohl in der Region als auch unter den aufstrebenden Dschihadisten im Westen wird der Sieg der islamistischen Seite im „Krieg gegen den Terror“, die Rückkehr der Bewegung an die Macht, die al-Qaida beherbergte, als sie 2001 die „Ungläubigen“ in New York City und Washington, DC, mit ihrer Barbarei heimsuchte, Zuversicht und Tatkraft verbreiten. Israel muss aktuell sehr besorgt sein, da es weiß, dass islamische Extremisten wieder auf dem Vormarsch sind und dass sein einstiger Hauptunterstützer einfach vor Terroristen wegläuft, wenn der Kampf zu schwierig wird.

Die Demütigung Afghanistans ist nicht nur ein militärisches Versagen, sondern auch ein politisches und moralisches. Die USA haben außerordentlich schlechte politische Entscheidungen getroffen, einschließlich ihrer Bereitschaft, den Taliban zu vertrauen und zu glauben, dass diese brutale, menschenverachtende und frauenfeindliche Bewegung als Akteur in die „internationale Gemeinschaft“ eingebunden werden könnte. Selbst jetzt scheint Washington mit den Ereignissen vor Ort in Afghanistan überhaupt nicht vertraut zu sein. Amerikanische Geheimdienstler sagten, die Taliban könnten Kabul innerhalb von 90 Tagen einnehmen. Das war vor vier Tagen. Sie wissen nichts. Man hat den Eindruck eines verwirrten, zerfallenden Imperiums, das selbst auf die Teile der Erde, die es beherrscht, mit Verblüffung blickt.

„Vor allem aber haben sich die USA als unzuverlässiger Verbündeter erwiesen.“

Aber über all dem, selbst über der politischen und militärischen Inkohärenz des amerikanischen Imperiums, steht die zersetzende kulturelle Dynamik. Dies ist vielleicht der wichtigste Faktor bei der Demütigung Afghanistans – die Tatsache, dass die USA und der Westen im Allgemeinen eindeutig nicht über die kulturellen Ressourcen verfügen, die für einen Kampf der Kulturen erforderlich sind. Dies war nicht nur eine territoriale Schlacht, ein Kampf um das Land Afghanistan. Es war auch ein kultureller Kampf. Es war ein Krieg zwischen einer Seite, die sehr starke Überzeugungen hat und mehr als bereit ist, dafür zu sterben, und einer anderen Seite, die nicht mehr weiß, wofür sie steht, und die Risiken und Selbstaufopferung wann immer möglich vermeiden möchte. Sie können sich wohl denken, welche Seite die Taliban und welche die USA sind.

Das war schon immer das Problem des Westens in Afghanistan: Es fehlte ihm der Glaube an die Werte, die er dem unterdrückten Land zu vermitteln vorgab. Wir werden die Frauen vom Leben unter der Burka befreien, sagten die Vertreter des Westens. Aber ist es nicht „islamfeindlich“, die Burka oder irgendeine andere islamische Praxis zu kritisieren? Unsere Eliten behaupten seit Jahren genau das. Wir werden euer intolerantes islamistisches System durch eine Zivilgesellschaft ersetzen, die von klugen Professoren gestaltet wird, versprach der Westen. Aber ist es nicht wertend und möglicherweise ein wenig rassistisch – auf jeden Fall ein Verstoß gegen die Ideologie des Multikulturalismus – zu behaupten, die westliche Demokratie sei der islamistischen Theokratie überlegen?

Wie eine britische Denkfabrik in den 1990er Jahren in ihrer Definition des „Islamophobie“-Begriffs feststellte, ist es falsch zu behaupten, der Islam sei in irgendeiner Weise „dem Westen unterlegen“. Das Getöse des Westens nach dem 11. September 2001 wurde durch den allgemeinen Abstieg des Westens in den moralischen Relativismus zunehmend untergraben. Wie kann man die zivilisatorische Autorität der westlichen Werte behaupten, wenn das gesamte Bildungs- und Universitätssystem darauf ausgerichtet ist, die westliche Zivilisation in Frage zu stellen und zu verächtlich zu machen? Man kann nicht an einem Kampf der Kulturen teilnehmen, wenn man seine eigene Zivilisation verabscheut.

„Man kann nicht an einem Kampf der Kulturen teilnehmen, wenn man seine eigene Zivilisation verabscheut.“

Wer glaubt, die Taliban hätten all das nicht mitbekommen, den potemkinschen Charakter nicht nur der afghanischen Regierung, sondern auch der westlichen Zivilisation selbst, der macht sich etwas vor. Die Taliban werden beobachtet haben, wie sich das mächtige amerikanische Militär in Diskussionen über die Critical Race Theory und das angebliche Problem der „weißen Wut“ verzettelt hat. Sie werden die Rekrutierungskampagne der britischen Armee mitverfolgt haben, die sich an „Schneeflocken“ und „Me Me Me Millennials“ richtete – und zwar weil diese Menschen angeblich das „Mitgefühl“ hätten, das für die gefühlsbetonten Kriege des 21. Jahrhunderts erforderlich sei. Sie wissen, dass der heutige Westen sich für seine Geschichte und seine zivilisatorischen Werte schämt und dass es ihm an Ideen mangelt, wie er seine zerbrechliche Jugend in eine kämpferische Kraft verwandeln kann, und sie werden ihre eigene Hingabe an die Scharia auf Leben und Tod als das Gegenteil von alledem verstehen. Sie wissen, dass dies nicht nur ein militärischer, sondern auch ein kultureller Kampf war, und dass sie an dieser Front die bei weitem stärkere Seite waren.

Die Wahrheit ist: Amerika und seine westlichen Verbündeten sind zu sehr von Wokeness eingenommen, als dass sie einen moralischen oder militärischen Kampf für ihre Werte führen könnten. Die letzten 20 Jahre, die schwelende Demütigung Afghanistans, erinnern an den römischen Kaiser Nero, der der Legende nach die Fidel spielte, während Rom brannte. Eine intolerante islamistische Armee gewinnt an Stärke und plant ihre Rückkehr an die Macht, während die amerikanische und die britische Armee wie besessen darüber nachdenken, wie sie transsexuelle Menschen besser inkludieren können, welche Geschlechterpronomen sie verwenden sollen (die Liste der Royal Air Force umfasst „ze“, „per“ und „hir“), wie sie ihre Übungen so gestalten können, dass sie „Schneeflocken“ besser einbeziehen, und wie sie Kriege führen können, ohne den Feind zu beleidigen. Unvergessen bleibt die Geschichte von den US-Marinesoldaten, die auf eine für Afghanistan bestimmte Bombe „Entführt das, Schwuchteln“ kritzelten und damit in ein Wespennest stachen. Solche „spontanen Schreibakte“ seien völlig inakzeptabel, sagte ein damaliger US-Konteradmiral. Die Taliban kämpften auf Leben und Tod für ihre theokratische Vision – der Westen stritt sich über beleidigende Formulierungen.

Deshalb ist der Vergleich mit Saigon unzulässig. Damals wurden die USA von mächtigen externen Kräften zum Rückzug gezwungen – natürlich von den Vietnamesen, aber auch von der Antikriegsbewegung in den USA, der sich ein Großteil der Jugend und bedeutende Teile der Elite anschlossen. Die afghanische Demütigung ist dagegen fast ausschließlich ein Produkt der inneren Zerrissenheit – der Erschöpfung der amerikanischen Politik, des westlichen geopolitischen Verstandes und des Glaubens des Westens an das eigene Projekt und die eigenen Werte. Die Art und Weise, wie der Afghanistankrieg zu Ende gegangen ist, hat nichts Positives an sich. Es ist eine Katastrophe für das afghanische Volk, ein verheerender Schlag für das Selbstvertrauen der Vereinigten Staaten und ein weiterer Rückschritt für diejenigen unter uns, die nach wie vor glauben, dass die Werte der Demokratie und der Freiheit überlegen sind und dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen. Das afghanische Unglück wird noch lange einen langen Schatten werfen.

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