20.12.2024
Erziehung zur Unmündigkeit?
Von Christian Zeller
Die Trägerstiftung der amtlich anerkannten Meldestelle „Respect!“ betätigt sich in der Jugendbildung. Doch was wird jungen Leuten so vermittelt – Zensur und Denunziation?
Die Zertifizierung der im baden-württembergischen Sersheim ansässigen Meldestelle „Respect!“ als sogenannter „vertrauenswürdiger Hinweisgeber“ hat Anfang Oktober für einen zivilgesellschaftlichen und medialen Aufschrei gesorgt. Der Auftrag eines solchen „trusted flagger“ ergibt sich aus dem im Mai 2024 in Deutschland in Kraft getretenen Digital Services Act, Plattformen bei der Säuberung von möglichen rechtswidrigen, aber auch darüber hinaus zweifelhaften oder unerwünschten Inhalten zu unterstützen.
Es steht der Vorwurf einer Zensur durch die Hintertür im Raum, der bislang auch nicht durch eine Stellungnahme der Vorsitzenden der Jugendstiftung Baden-Württemberg, die die Meldestelle 2017 ins Leben gerufen hat, ausgeräumt werden konnte. Werfen wir einen Blick auf die Motivlage, die Meldestelle überhaupt zu gründen. Klar wird, dass sich die Idee dahinter zu der Freiheitlichkeit unserer Gesellschaftsordnung in einem merklichen Spannungsverhältnis befindet. In einem Interview mit der Ludwigsburger Kreiszeitung vom 13. November 2024 erläutert Densborn die mit der Meldestelle verbundene Zielsetzung wie folgt:
Wir haben die Meldestelle 2017 gegründet, weil wir im Gespräch mit jungen Menschen immer wieder festgestellt hatten, dass die nicht wussten, was sie tun sollten, wenn sie im Internet Botschaften entdeckten, die sie angreifen oder bedrohen und die möglicherweise strafrechtlich bewehrt sie [sic]. Es bestand damals verbreitet das Gefühl, dass das Internet ein rechtsfreier Raum wäre. Deshalb haben wir darin den Auftrag gesehen, im Rahmen unserer Jugendbildungsarbeit deutlich zu machen, dass dies eben nicht der Fall ist. Es gibt den Rechtsstaat, der auch Delikte ahndet, die im Internet begangen werden. Mit der Gründung der Meldestelle haben wir einen Kanal für dieses Thema geschaffen. Wenn wir wissen, wie viele Posts jeden Tag allein bei Instagram erscheinen, ist dieser Ansatz aus dem bildungspolitischen Kontext ganz sicher nichts, was mit Zensur zu tun hätte.
Man sieht an dieser Passage zunächst einmal sehr prägnant das rhetorische Mittel, mit dem versucht wird, Kritik gegen die den Rechtstaat auf Spiel setzende Meldestellen-Initiative durch moralistische Argumentationsmuster auszuhebeln: „Bildungspolitik“ klingt ja erst einmal ‚gut‘ und reduziert deshalb die Wahrscheinlichkeit, dass man widerspricht. Denn wollen Sie ernsthaft jemand sein, der dagegen ist, Jugendliche zu bilden? Na, natürlich nicht. Und mit genau diesem ‚guten‘ Anliegen wird nun der Kern der Kritik, nämlich der Vorwurf der Zensur, verknüpft. Die Densbornsche Argumentationslogik lautet also: Wenn der Zweck gut ist (= Bildung für Jugendliche), dann kann auf keinen Fall ein böses Mittel (= Zensur) in Anschlag gebracht werden. Das ist natürlich ein offenkundiger Fehlschluss, und empirisch trifft häufig das genaue Gegenteil zu, wie schon der Volksmund weiß: „Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Vorsätzen.“
„Mit dem ‚trusted flagger‘ ‚Respect!‘ hat Erich Fromms Wort von der ‚Furcht vor der Freiheit‘ wieder eine beunruhigende Aktualität erlangt.“
Allerdings fungiert „Bildungspolitik“ nicht nur als rhetorisches Mittel, um Kritik durch einen Appell an das „Gute“ im potentiellen Kritiker zu minimieren; der skizzierte Ansatz wirft auch ein grelles Licht auf das Grundverständnis von Freiheit, Demokratie und Verantwortung, dem man bei der Gründung der Meldestelle zu folgen schien. Und dieses Grundverständnis steht – analog zu dem Umstand, dass eine solche Meldestelle schon aus rechtsstaatlichen und demokratietheoretischen Gründen dubios ist – gerade in einem Widerstreit zu dem Menschenbild liberaler Demokratien.
Wenn man in der Jugendstiftung nämlich einen originär staatsbürgerlich orientierten, freiheitlich-demokratischen Bildungsansatz verfolgen würde, dann würde man doch junge Menschen über den Sachverhalt aufklären, dass sie sich im Falle vermuteter Straftaten an die Polizei wenden können. Stattdessen setzt man in der Jugendstiftung Baden-Württemberg lieber auf das Wachstum der eigenen Organisation und gründet eine Meldestelle, mit der junge Leute von eben jenem Kontakt mit den eigentlichen staatlichen Institutionen ferngehalten werden, den sie ja als mündige Staatsbürger erlernen sollten.
Mit Baudrillard ließe sich sagen: Die Densbornsche Meldestelle ist gleichsam ein bildungspolitisches Simulakrum: Anstatt Jugendliche auf die Freiheit vorzubereiten und sie darin zu stärken, schafft man eine abgepufferte Zone, die dem Gegenteil dient, nämlich der fortgesetzten Freiheitsvermeidung. Diejenigen, die von einem solchen Konzept zuvörderst profitieren, sind eben jene Institutionen, die sich mit dieser Unterminierung staatsbürgerlicher Mündigkeit für bildungspolitisch unabdingbar erklären und so den Fortbestand ihrer eigenen Institution rechtfertigen können. Und was lernen junge Menschen wohl durch den „bildungspolitischen“ Ansatz von Dernsborn: „Wenn’s schwierig wird, macht schon jemand anders die unangenehme Arbeit für mich.“ Mit dem „trusted flagger“ „Respect!“ hat Erich Fromms Wort von der „Furcht vor der Freiheit“1 wieder eine beunruhigende Aktualität erlangt – ausgerechnet unter der Ägide einer Jugendstiftung.
Dabei ist Jugendbildung auch in einer Gesellschaft, die ihre Freiheitlichkeit nicht nur auf dem Papier beschwört, sondern sie lebt, keinesfalls überflüssig: Man könnte natürlich im Rahmen eines Konzeptes „Erziehung zu staatsbürgerlicher Freiheit und Mündigkeit“ präzise und jugendgerecht über die Rechtslage aufklären und jungen Menschen lebenspraktische Ratschläge an die Hand geben, um sich vor Unbill – den es in der Welt des Internets freilich zuhauf gibt – zu schützen. Stattdessen schafft man eine Meldestelle, mit der genau das ausgehebelt wird, was Jugendliche zuvörderst in einer freiheitlichen Gesellschaft zu lernen hätten: Verantwortung für sich und andere zu übernehmen sowie eine souveräne Kenntnis von eben jenen Institutionen, die einen unterstützen, wenn man selbst nicht mehr weiterkommt, man bedroht, beleidigt oder gemobbt wird.
„Es ist nicht weniger als die Perpetuierung von Unmündigkeit und die Geburt der Denunziation aus dem Geist des institutionellen Pamperns, die den weltanschaulichen Hintergrund von ‚Respect!‘ bildet.“
Dass man jungen Menschen mit einem bildungspolitischen Ansatz, der vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“ mitfinanziert wird, dann auch noch daran gewöhnt, mutmaßlich Strafwürdiges an einen Dritten zu „melden“ anstatt sich an die demokratisch legitimierten staatlichen Institutionen zu wenden, ist an Ironie kaum zu überbieten. Es ist damit nicht weniger als die Perpetuierung von Unmündigkeit und die Geburt der Denunziation aus dem Geist des institutionellen Pamperns, die den weltanschaulichen Hintergrund von „Respect!“ bildet.
Das Interview atmet – ausgehend sowohl von den Fragen des Interviewers als auch von den beiden Gesprächspartnern – den gegenwärtig reüssierenden Geist des Schutzes der Demokratie „vor rechts“. „Trusted Flagger“ werden nämlich, so erfahren wir im Anreißertext des Interviews, von den allseits bekannten Bösen, also den „Rechtspopulisten“ kritisiert, aber auch von einigen – was nur der Name für ein etwas schwächer akzentuiertes Feindbild ist – „bürgerlich-konservativen Medien“. Werfen wir dazu einen Blick auf eine Passage, in der eine aufschlussreiche Weltanschauungskonvergenz zwischen dem Interviewer Steffen Pross und Petra Densborn sichtbar wird.
Mit seiner Frage: „Wehren Sie sich juristisch gegen diese Kampagne oder versuchen Sie einfach, schnellstmöglich wieder in normales Fahrwasser zu geraten?“ unterstellt der Interviewer, dass bereits die (in diesem Fall: breit geäußerte) Kritik an einer „Meldestelle“ potentiell ein Fall für eine zivilrechtliche Klage oder gar die Staatsanwaltschaft sein könnte. Dass er Interviewer hier keine einzelnen Äußerungen meinen kann, die – je nach konkretem Inhalt – strafwürdig sein oder gegen zivilrechtliche Normen verstoßen könnten, verrät seine Formulierung „diese Kampagne“. Damit wird also die Gesamtheit der, so wird insinuiert, von einer bestimmten politischen Seite orchestrierten Äußerungen, die sich gegen die Meldestelle „Respect“ richten, in den Raum des staatlich Sanktionierbaren gerückt. Man möchte anfügen: Ein Land, das solche Journalisten hat, braucht ja vielleicht gar keine Meldestellen mehr.
Densborn reagiert darauf mit eben derselben Logik von Pauschalisierung und Homogenisierung gegenüber einer ganzen, von ihr als solche wahrgenommenen Gruppe: „Es ist uns deutlich wichtiger, die Dinge in der Öffentlichkeit sachlich richtigzustellen. Damit haben wir viele Menschen erreichen können – natürlich nicht die in den rechten Foren.“
Die soziale Logik, der Interviewer und Interviewte hier folgen, ist die Logik der Vergemeinschaftung, die sich schließlich auf der Grundlage eines übereinstimmenden Weltbildes einstellt. Mit der Formulierung von der „Kampagne“ spielt der Interviewer Densborn den Ball der Vergemeinschaftungsofferte zu. Densborn greift ihn auf und spielt ihn mit der Aussage zurück, dass diejenigen in „den rechten Foren“ selbstverständlichnicht erreicht werden können. Interviewer und Interviewte vergewissern sich hier wechselseitig ihrer Weltsicht, die auf der Grundlage der Ausgrenzung des „rechten“ Feindes die Vergemeinschaftung nach innen hin sicherstellt.
„Der Schutz vor einer Gesellschaftsordnung, in der sich ungehindert Meldestellen ausbreiten, ist immer noch der beste Jugendschutz.“
Dabei lese man genau, was Dernsborn dem Interviewer rückbestätigt: „Natürlich nicht“! Will sagen: Diese unverbesserlichen Typen in „den rechten Foren“, die muss man für den argumentativen Austausch unter Staatsbürgern sowieso verloren geben. Diese Verallgemeinerung auf ganze Bevölkerungsteile ist strukturgleich zu der Unterstellung des Interviewers, es handele es sich bei der Kritik an der Meldestelle um eine irgendwie koordinierte „Kampagne“.
Die Zuschreibung, irgendetwas käme von „rechten“ Gruppen, fungiert in weiten Teilen des politisch geradezu grotesk nach links-grün hin verzerrten öffentlichen Diskurses als Beruhigungsschnuller, mit dem man sich über den Umstand hinwegtrösten kann, dass es in einer freiheitlichen Demokratie eben der Normalzustand ist, wenn die eigene Meinung nicht von allen Staatsbürgern geteilt wird. Nimmt man die oben genannten Kritikpunkte an der Meldestelle zum Maßstab – die Schaffung von rechtsstaatlich dubiosen Indifferenzzonen sowie der das Freiheitsbewusstsein von jungen Menschen gerade nicht befördernde Mindset, der hinter „Respect!“ steckt – gibt es keinen Grund, diese Kritik mit eben jener Homogenisierungslogik, die man rechtsidentitären Kräften bisweilen zurecht vorwirft, als „rechts“ zu diskreditieren.
Was hier zu Tage tritt, ist die Förderung dessen, was man in der Szene des Demokratieschutzes durch Meldestellen & Co. so gerne als Menetekel an die Wand malt: die Spaltung der Gesellschaft. Die aus „den rechten Foren“, die müssen wir abschreiben. Aber wie heißt nochmal die von Densborn mit auf den Weg gebrachte Meldestelle? Genau, „Respect!“ Wenn so der Ansatz hinter der Meldestelle aussieht und man damit in Wirklichkeit die Pflege von Doppelmoral betreibt, so ist das noch ein Grund, um zukünftig darauf zu verzichten. Im Übrigen gilt: Der Schutz vor einer Gesellschaftsordnung, in der sich ungehindert Meldestellen ausbreiten, ist immer noch der beste Jugendschutz.