01.01.2006

Einmal 21. Jahrhundert, bitte!

Analyse von Stefan Chatrath

Ein Blick auf das vergangene deutsche Fußballjahr offenbart: Es bedarf eines weiteren Professionalisierungsschubs, um den Anforderungen des modernen Profifußballs gerecht zu werden.

Fitnessdebatte: altbacken und rückwärtsgerichtet

Kaum ein Thema hat in den letzten Monaten so sehr die Sportberichterstattung bestimmt wie der Streit zwischen Bundestrainer Jürgen Klinsmann und den Bundesligatrainern. Klinsmann hatte behauptet, den deutschen Nationalspielern mangele es an Fitness. Ein Vorwurf, den die für das tagtägliche Training der Nationalspieler verantwortlichen Bundesligatrainer vehement bestritten.

Was ist von Klinsmanns Kritik zu halten? Eigentlich nicht besonders viel. Denn selbst wenn das Fitnesstraining modernisiert werden könnte: in puncto Ausdauer und Kampfkraft sind die deutschen Nationalspieler im internationalen Vergleich noch immer führend. Natürlich gibt es auch hier noch Luft nach oben. Das bestreitet niemand. Aber ein viel größeres Defizit besteht auf einer ganz anderen „Baustelle“. Woran es vielen Nationalspielern wirklich mangelt, ist Handlungsschnelligkeit, also die Fähigkeit, auch unter höchstem Gegnerdruck den richtigen Pass im richtigen Moment zu spielen. Im modernen Fußball ist im Regelfall nach Ballannahme innerhalb von wenigen Sekunden eine Entscheidung zu treffen. Wenn zwei hochklassige Mannschaften aufeinander treffen, ist die bespielte Fläche durch das ständige Verschieben der 20 Feldspieler zum Ball mittlerweile nicht mehr größer als 40 mal 50 Meter.

Der Vermittlung von Handlungsschnelligkeit ist im Training oberste Priorität einzuräumen. Dies ist aber häufig nicht der Fall. Noch immer ist in Deutschland die Trainingslehre geprägt von der „klassischen“ Auffassung, der Fußball müsse erst in seine Einzelteile zerlegt und diese einzelnen Komponenten müssten dann gesondert trainieren werden: Ausdauer, Schnelligkeit, (Sprung-)Kraft, Koordination, Beweglichkeit, Technik. Ein Trugschluss, denn in den meisten Fällen ist nicht etwa der sprint-, sondern der handlungsschnellste Spieler eher am Ball. Um zur Handlungsschnelligkeit zu befähigen, bedarf es jedoch eines hohen Anteils komplexer Spielformen im Training – anders als von der klassischen Trainingslehre propagiert. Das hat nun endlich auch der für die Trainerausbildung verantwortliche Deutsche Fußball-Bund (DFB) erkannt: Im vergangenen Jahr hat die DFB-Zeitschrift Fußballtraining erstmals einen Schwerpunkt veröffentlicht zum Thema „Vermittlung von Handlungsschnelligkeit“.

Die von Jürgen Klinsmann initiierte Fitnessdebatte erscheint vor diesem Hintergrund seltsam altbacken und rückwärtsgerichtet. Kritisch zu hinterfragen ist auch, inwiefern eigentlich die „Hausaufgaben“ sinnvoll sind, die Klinsmanns Fitnesscoach Mark Verstegen den deutschen Nationalspielern mit auf den Weg gegeben hat. Sie sollen im Anschluss an das Vereinstraining noch Zusatzschichten einlegen: Einheiten beispielsweise zur Verbesserung von Schnellkraft, Beweglichkeit oder Technik, jeder für sich allein. Ob das wirklich weiterhilft? Man wird das Gefühl nicht los, dass hier versucht wird, den Anforderungen des modernen Fußballs mit den Mitteln der klassischen Trainingslehre beizukommen. Wenn das mal kein Irrweg ist...? Ein falsches Signal an die Trainerbasis ist es allemal.

Fußball im Pay-TV: Warum eigentlich nicht?!

Der Pay-TV-Sender Premiere hat sich für 200 Millionen Euro die TV-Rechte für die Champions League gesichert. Ab der kommenden Saison sind damit die Spiele der deutschen Mannschaften nur noch über Pay-TV empfangbar. Premiere ist zwar verpflichtet, pro Spieltag eine Partie im Free-TV zu übertragen, aber um ein Spiel mit deutscher Beteiligung wird es sich dabei laut Premiere nur im Ausnahmefall handeln. Die Reaktionen der betroffenen Klubs waren heftig: „Was den FC Bayern München angeht, werden wir uns mit Händen und Füßen dagegen wehren“, sagte Bayern-Manager Uli Hoeneß dem Tagesspiegel. Karl-Heinz Rummenigge, Vorstandsvorsitzender der Bayern, warf Premiere vor, seine Kunden auf „erpresserische Weise“ zu Abonnements zu zwingen: „Dann sind wir nämlich wieder mal der Lockvogel für sie und haben selber nichts davon – außer Ärger mit den Fans.“ Das Abwehrverhalten des Bayern-Managements ist nur schwer nachvollziehbar. Anstatt den Premiere-Deal als Chance zu nutzen, das Pay-TV in Deutschland zu etablieren, wird der TV-Sender in Misskredit gebracht. Warum eigentlich? Wie viel visionärer wäre es gewesen, nun gemeinsam mit Premiere ein Angebot exklusiv für die 100.000 Bayern-Mitglieder zu entwickeln – mit dem Ziel, langfristig einen eigenen Pay-TV-Kanal unter dem Dach des Senders zu etablieren? Gerade die Bayern sind auf die Einnahmen aus dem Pay-TV angewiesen, um auch in Zukunft international konkurrenzfähig zu sein. In anderen Fußballligen ist das Pay-TV schon längst ein wichtiges Standbein. Kein Wunder also, dass dort im TV-Bereich deutlich höhere Einnahmen erwirtschaftet werden. In Frankreich beispielsweise zahlt der Pay-TV-Sender Canal+ für die Ligarechte 500 Millionen Euro – 200 Millionen mehr, als der Erlös in Deutschland beträgt.

"In anderen Fußballligen ist Pay-TV schon längst ein wichtiges Standbein."

In der Fußballbundesliga sind die Vermarktungspotenziale im TV-Bereich noch längst nicht ausgeschöpft. Dazu bedarf es aber eines Perspektivwechsels: TV-Anstalten sind mehr als nur „Cash cows“. Sie sind – ähnlich wie Sponsoren – Wertschöpfungspartner für die Fußballvereine, mit denen gemeinsam Geschäftsmodelle entwickelt werden können zum Nutzen von Verein, Fernsehen und deren jeweiligen Kunden – und damit auch zum Wohle des Fußballs.

Heuschreckenalarm: Glazer übernimmt ManU

Ein weiteres Thema, das im vergangenen Fußballjahr die Gemüter erregte, war die Übernahme von Manchester United durch den US-amerikanischen Investor Malcolm Glazer. Für umgerechnet 1,2 Milliarden Euro hat Glazer die Mehrheit am börsennotierten Premier-League-Verein erworben – und löste damit ein mediales Erbeben in England aus, das auch hierzulande in der Sportpresse seinen Widerhall fand. Erst recht, nachdem FIFA-Präsident Sepp Blatter Glazer vorwarf, mit seiner Art von „Wildwest-Kapitalismus“ „den Fußball ernsthaft [zu] gefährden“.

"Woran es vielen Nationalspielern wirklich mangelt, ist Handlungsschnelligkeit, und nicht Fitness."

Zum Teil ist das Misstrauen gegen Glazer sicherlich gerechtfertigt. Das zum Kauf aufgenommene Darlehen von 815 Millionen Euro schrieb er auf ManU um, sodass der Verein, je nach Zinsniveau, jährlich zwischen 27 und 75 Millionen Euro zur Tilgung aufwenden muss. Noch 2004 verbuchte ManU einen satten Gewinn von 41 Millionen Euro, der durch den Glazer-Deal in Zukunft allenfalls zur Deckung der Verbindlichkeiten taugen würde und nicht – wie bisher üblich – in großem Umfang in die Mannschaft reinvestiert werden könnte.

Ohne jede Frage: Glazers Vorgehen ist bedenklich, die Kritik nachvollziehbar – zumindest, solange sie sich unmittelbar auf den Businessplan bezog. Meistens mündeten die Kommentare jedoch in einer Art Grundsatzkritik am modernen, kommerziellen Fußball. Der Fußball, so hieß es, sei heute seelenlos, er sei durchkapitalisiert und verlogen, habe den Kontakt zu seinen Wurzeln, zu seiner Tradition und zu den Fans verloren.

War früher wirklich alles besser? Wer sich Aufzeichnungen früherer Spiele anschaut, stellt schnell fest, dass der Fußball früher langsam war, geradezu statisch, mit festen Positionen, geringer taktischer Varianz und einer vergleichsweise simplen Technik. Kein Vergleich mit dem Fußball von heute, in dem Tempo und taktische Flexibilität gefragt sind, genauso wie die schon angesprochene Handlungsschnelligkeit. Zwischen dem Fußball von gestern und heute liegen Welten, auch in der Athletik. Ein Mittelfeldspieler rennt heute zwischen acht und elf Kilometern pro Spiel. In den 70er-Jahren waren es zwischen vier und fünf. Die Öffnung des Fußballs für kommerzielle Zwecke hat dem Sport sehr gut getan – auch wenn viele das noch immer nicht wahr haben wollen.

Und die Spieler? Früher noch mit Herz und Seele dabei, und jetzt rennen sie nur noch dem Geld hinterher? Auch das ist eine Verklärung der Vergangenheit, denn diese „guten alten“ Zeiten hat es nie gegeben. Die Fußballspieler haben schon immer dafür gesorgt, dass sie nicht am Hungertuch nagen mussten – Beispiele dafür gibt es viele. Selbst ein Fritz Walter vergoldete sich den WM-Titel der deutschen Mannschaft 1954, indem er im Anschluss an die WM zum gutbezahlten Werbeträger für Saba und Adidas aufstieg. Mag zwar sein, dass die Fußballer in ihren Vereinen stärker verwurzelt waren. Aber das war eher eine Folge mangelnder Alternativen. Was viele gar nicht wissen: Ein Uwe Seeler beispielsweise hätte, selbst wenn er es gewollt hätte, gar nicht nach Italien oder Spanien wechseln können. Nach der WM-Pleite von 1966 verhängten der italiensche und der spanische Fußball eine Ausländersperre. Als Günter Netzer, nachdem im Sommer 1973 die Grenzen wieder offen waren, zu Real Madrid wechselte, erließ der DFB sofort eine Auswanderungssperre für Nationalspieler. Schließlich wollte man zur WM im eigenen Land nicht mit einer „Legionärstruppe“ auflaufen – ein „Problem“, das sich heute gar nicht stellt.

Wettskandal: ein „Skandälchen“, mehr nicht

Zur Erkenntnis, dass früher nicht immer alles besser war, trägt wohl auch eine Betrachtung des Wettskandals bei. Im Vergleich zum Skandal der Saison 1970/71, als nach Spielmanipulationen insgesamt 52 Bundesligaspieler gesperrt wurden, ist heute eher von einem „Skandälchen“ zu sprechen. Selbst nach umfangreicher Aufarbeitung durch die Staatsanwaltschaft ist neben Steffen Karl mit Thijs Waterink nur einem weiteren Spieler die Mittäterschaft nachgewiesen worden. Der Glaubwürdigkeit des deutschen Fußballs hat der Wettskandal jedenfalls nicht geschadet. Im Gegenteil, die Zuschauer strömen in die Stadien wie nie zuvor.

Aber auch hier ist den Verantwortlichen der Fußballbundesliga der Vorwurf zu machen, eine große Chance verpasst zu haben: Warum haben sie den Wettskandal nicht zum Anlass genommen, das Schiedsrichterwesen auf professionelle Beine zu stellen, wie es in vielen anderen Sportarten längst üblich ist? Mit einem vertretbaren Aufwand hätte die Kritik an Hoyzer & Co. durch die Liga in eine progressive Richtung gesteuert werden können. Dass ausgerechnet im Milliardengeschäft Fußball die Schiedsrichter noch immer Amateure sind, ist nicht mehr zeitgemäß.

In den letzten Jahren hielt zwar in nahezu allen Klubs professionelles Management Einzug. Aber dennoch ist das Potenzial des Profifußballs in Deutschland noch längst nicht ausgeschöpft. Handlungsfelder gab und gibt es viele. Auch 2006 wird es wieder die eine oder andere Gelegenheit geben, neue, innovative Wege zu gehen. Hoffen wir, dass die Verantwortlichen davor nicht zurückschrecken.

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