01.05.2002

Die Kommerzialisierung hat den englischen Fußball gerettet

Kommentar von Duleep Allirajah

Die Kommerzialisieirung des englischen Fußballs muss weiter offensiv betrieben werden, damit das 5:1 gegen die Deutschen keine Eintagsfliege bleibt.

Im März 2002 ging mit ITV Digital der Sender in Konkursverwaltung, der für 315 Millionen Pfund die Fernsehrechte für die drei englischen Profiligen unterhalb der Premier League hält. Für 30 Fußballclubs könnte dies das Aus bedeuten. Bezahlt der englische Fußball jetzt dafür, dass er sich dem Kommerz verschrieben hat?

Trotz aller Probleme: Diejenigen, die den Fußball „entkommerzialisieren“ wollen, übersehen, dass die Kommerzialisierung den britischen Fußball in den 80er-Jahren vor dem Untergang bewahrt hat. Fußball ist heute Englands Popkultur Nummer eins. Eine Rückkehr zum Amateursport würde die spielerische Qualität des Fußballs zerstören, würde ihn exklusiv, rückständig und borniert machen. Das wäre das Ende des Fußballs.

Die englische Premier League ist heute die finanzkräftigste Profiliga der Welt. Woche für Woche sind die Stadien ausverkauft, und Millionen von Menschen verfolgen die Spiele live im Pay-TV. Manchester United ist inzwischen mehr als ein Fußballverein, es ist ein Markenartikel, der sich mit Nike oder Coca-Cola messen kann. David Beckham ist ein Star, wie es ihn früher nur im Film- oder Musikgeschäft gab. Dennoch melden sich Warner zu Wort, das Wachstum der Branche sei nicht nachhaltig und die Inflation der Preise, Löhne und Einnahmen werde das Fußballgeschäft zusammenbrechen lassen.

In seinem Buch The Football Business behauptet David Conn, Profitstreben vertrage sich nicht mit dem Geist des Fußballs: „Ungleichheit ist der schwerste Makel des Fußballs von heute. Die Spitzenvereine wissen nicht, wohin mit dem Geld, während viele Vereine in den unteren Spielklassen in Schwierigkeiten stecken.“ Der Globalisierungskritiker George Monbiot teilt Conns Kritik: „90 Prozent der Vereine, die nicht in der Premier League spielen, machen Verluste. Die Schülerligen brechen zusammen, halbprofessionelle Teams machen Pleite. Die Premier League hat sich den Ball geschnappt und ihn vom Platz getragen.“ Eigentümlicherweise hat diese Kritik am Kommerz viel gemein mit dem Ethos des Sportamateurs, wie ihn die adeligen Väter des Fußballs im vorletzten Jahrhundert vertraten. In seiner Sozialgeschichte des Fußballs beschreibt James Walvin, dass „viele bürgerliche Institutionen sich vom Fußball abwanden, als die Arbeitervereine – mit ihren Profis, lärmenden Fans und ihrem Geschäftssinn – dominanter wurden“.

Obwohl in England schon 1885 Profispieler zugelassen wurden, blieb Fußball lange Zeit Amateursport. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts schadete der geringe Kommerzialisierungsgrad dem Fußball nicht. Das Freizeitangebot für kleine Leute war noch sehr begrenzt. Der Nachkriegsboom führte jedoch zu vielen neuen Angeboten, speziell durch das Fernsehen und die Massenmotorisierung. Mit dem Wohlstand stiegen auch die Erwartungen der Menschen, und die Zahl der Zuschauer in den Stadien nahm drastisch ab. Weil zu unkommerziell, konnte der Fußball mit den neuen Freizeitangeboten nicht mithalten. Man hatte Samstags Besseres zu tun, als in dreckigen, maroden und zugigen Stadien, die noch aus der Zeit zwischen den Weltkriegen stammten, im Regen zu stehen. In der Saison 1948/49 wurde mit 41,2 Millionen Zuschauern der Höhepunkt erreicht. Danach ging es bergab: 1985/86 waren es nur noch 16,4 Millionen.

Die Modernisierung der britischen Stadien hat den Fußball auf der Insel aus den 30er-Jahren in die Gegenwart geholt.

Zwei Katastrophen machten endgültig klar, dass der Fußball abbruchreif war. Im Mai 1985 brannte in Bradford die Haupttribüne ab; 55 Fans kamen ums Leben. 1989 wurden im Hillsborough Stadion von Sheffield 96 Liverpool-Fans zu Tode gequetscht. Hillsborough wurde zum Wendepunkt: Lord-Richter Taylor, der der Untersuchungskommission vorsaß, erklärte: „Das Bild, das sich ergab, war vom allgemeinem Niedergang, vom Verfall des Sports geprägt. Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen: Alte Stadien, schlechte Anlagen, Hooligans, hoher Alkoholkonsum und schlechte Vereinsführungen.“

Seither gaben die Vereine mehr als 500 Millionen Pfund für die Renovierung der Stadien aus; ein Drittel des Betrags schoss die Regierung zu. Die Modernisierung der britischen Stadien hat den Fußball auf der Insel aus den 30er-Jahren in die Gegenwart geholt.

Der andere Faktor, der wesentlich zur Wiederbelebung und Modernisierung des britischen Fußballs beitrug, war das Fernsehen. 1992 erhielt Rubert Murdochs Abo-Kanal Sky Sports die Übertragungsrechte für die Spiele der neugegründeten Premier League. In der Folge stiegen die Fernseheinnahmen der Vereine rasch an. Hatte der Sender ITV 1988 noch 44 Millionen Pfund für einen Vierjahresvertrag bezahlt, musste Sky Sports 1992 bereits 192 Millionen Pfund für einen Fünfjahresvertrag auf den Tisch legen. Mit den Fernsehgeldern konnten ausländische Spitzenspieler eingekauft und das britische „Kick and Rush“ durch moderne Taktiken abgelöst werden. Auch auf schlammigen Äckern wird heute kaum noch gespielt, da Rasenheizungen und andere Neuerungen bei der Platzpflege dafür sorgen, dass die Plätze auch unter schwierigen Bedingungen gut bespielbar sind. Für die Zuschauer sind die Stadien wesentlich angenehmer geworden. Zudem hat sich gezeigt, dass die Fans trotz der Fernsehübertragungen nicht zu Hause bleiben: Die Zuschauerzahlen in allen vier Ligen sind von 18,4 Millionen (1989/90) auf 26 Millionen (2001/02) angestiegen.

Für David Conn überwiegen jedoch die Nachteile der Kommerzialisierung: „Manche Stadien sind zu Tode saniert worden, die Atmosphäre wurde zerstört. Viele Spieler aus Übersee ziehen Geld aus dem britischen Fußball ab und verringern dadurch die Chancen einheimischer Talente.“

Die Kommerzialisierung des englischen Fußballs muss weiter offensiv betrieben werden, damit das 5:1 gegen die Deutschen keine Eintagsfliege bleibt.

Tatsächlich ist seit Gründung der Premier League die Zahl ausländischer Spieler erheblich angestiegen. Waren es in der Saison 1992/93 noch elf, so spielten 1998/99 bereits 166 ausländische Profis in Englands höchster Spielklasse. In der Saison 1999/2000 stand in der Anfangself von Chelsea häufig kein einziger britischer Spieler. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass englische Spieler einfach nicht gut genug sind. Einige junge Spieler von Chelsea, die mangels Einsatzchancen den Club verließen, hatten auch bei ihren neuen Clubs wenig Erfolg. Ursache des Problems ist nicht der Import ausländischer Profis, sondern die Rückständigkeit des englischen Trainings- und Nachwuchssystems, das im Vergleich zu Italien und Frankreich wenig konkurrenzfähig ist. Diese Defizite werden zwar durch neue Förder- und Nachwuchszentren allmählich ausgeglichen. Es wird aber Jahre dauern, bis diese neuen Einrichtungen den englischen Profifußball stärken.

Die Kluft zwischen den Spitzenclubs der Premier League und den anderen Vereinen ist größer geworden. Doch bereits als man Ende des 19. Jahrhunderts begann, Eintritt zu verlangen und Spieler zu bezahlen, bekamen die Großstadtvereine aufgrund ihre großen Anhängerschaft schnell die Oberhand. Das Gefälle zwischen den Spitzenklubs und dem Rest hat sich seit den 60er-Jahren weiter vergrößert. Die Fernseheinnahmen der Großen haben diese Entwicklung vorangetrieben – jedoch nicht ausgelöst.

Oft wird behauptet, der englische Fußball sei von neuen Fans aus der Mittelschicht eingenommen worden, während das Stammpublikum durch hohe Eintrittspreise aus den Stadien verdrängt werde. Da aber die Zuschauerzahlen in allen Ligen ansteigen, ist die Behauptung, Fans würden verdrängt, fragwürdig. Zwar stiegen die Preise der Eintrittskarten zwischen 1992 und 1996 um 67 Prozent – was für jüngere und einkommensschwache Fans tatsächlich ein Problem darstellt – ; die Ursache hierfür ist jedoch, dass die Stadien der Premier League zu klein sind, um alle Fans aufnehmen zu können. Als man Anfang der 90er-Jahre die Stadien umbaute, verringerten sich die zugelassenen Zuschauerzahlen. Bei einem ausreichendem Ticket-Angebot würde sich auch das Preisproblem lösen.

Die Kommerzialisierung des Fußballs ist indes nicht unproblematisch. Die Vereine, die sich entschließen, an die Börse zu gehen, sind für Investoren heute nur selten eine gute Anlage – die wenigsten Vereine erwirtschaften einen Überschuss. Die Fernsehstationen haben für die Übertragungsrechte einen unwirtschaftlich hohen Preis gezahlt. Der Zusammenbruch von ITV Digital zeigt – wie auch die Pleite der Kirch Gruppe – , dass der Fernsehmarkt gesättigt ist und die Fernseheinnahmen in Zukunft wohl sinken werden. Das entspricht der Logik des Marktes. Es war naiv davon auszugehen, die Fernsehgelder würden sich unbegrenzt vermehren. Die Folgen des Zusammenbruchs von ITV Digital für den englischen Fußball sind noch nicht klar. Es kann gut sein, dass viele kleine Vereine Pleite gehen und sich einige mit anderen Vereine zusammenschließen müssen. Geringere Spielergehälter und kleinere Kader bedeuten aber nicht das Ende des Fußballs in Großbritannien. Im Gegenteil: Die Kommerzialisierung muss weiter offensiv betrieben werden, damit das 5:1 gegen die Deutschen keine Eintagsfliege bleibt.

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