04.10.2022

Ein Angriff auf die Aufklärung

Von Stefan Laurin

Titelbild

Foto: John Duffy via Flickr / CC BY 2.0

Die Cancel Culture stellt einen Frontalangriff auf den Universalismus der Aufklärung dar. Dem Nachwuchs in Hochschulen und Medien dient sie auch dazu, Konkurrenten aus dem Weg zu räumen.

Bei Cancel Culture geht es um Macht, Geld und um eine weitreichende Veränderung der Gesellschaft. Ihre Wurzeln liegen in der Postmoderne, die wiederum ihre Wurzeln sowohl in der Sprachwissenschaft als auch in der Ablehnung von Demokratie, Aufklärung und Marktwirtschaft hat. Den Protagonisten der Cancel Culture ist es wichtig, Sprache zu verändern, die Möglichkeiten, was noch gesagt werden kann, zu beschränken und Begriffe so zu platzieren, dass sie von weiten Teilen der Gesellschaft übernommen werden. Denn mit der Sprache, davon ist die Szene überzeugt, wird Ideologie nicht nur transportiert. Sie schafft die Gesellschaft.

Die Konflikte, die wir heute erleben, sind nichts Ungewöhnliches und sie sind nicht neu: In Gesellschaften kämpfen verschiedene Gruppen um Macht und Einfluss, und Sprache war immer schon ein Mittel der Auseinandersetzung. Die aktuellen Konflikte konzentrieren sich vor allem auf die Bereiche Medien und Wissenschaft. Viele der Anhänger der Cancel Culture hoffen, hier bezahlte Positionen zu finden. Dafür muss die Konkurrenz verdrängt, ja denunziert werden: Die anonyme Initiative „Münkler-Watch“ versuchte, den bekannten liberalen Politikwissenschaftler Herfried Münkler als rassistisch, militaristisch und sexistisch darzustellen. Der Historiker Jörg Baberowski muss sich, gerichtlich bestätigt, als Hetzer beschimpfen lassen, weil er sich 2015 für eine Einwanderungspolitik auf der Grundlage geltender Gesetze ausgesprochen hatte. Der Comedian Dieter Nuhr wurde angegriffen, weil er Witze über die Klimaaktivistin Greta Thunberg machte. Die Deutsche Forschungsgesellschaft zog zeitweilig eine Beitrag Nuhrs zurück, weil Aktivisten ihm in einem Shitstorm vorgeworfen hatten, ein Wissenschaftsleugner zu sein. Nuhr soll sowohl den Klimawandel als auch die Gefahren von Corona heruntergespielt haben. Beides traf nicht zu.

Die Anhänger der Cancel Culture sehen solche Angriffe als legitim an. Für sie gibt es keine Cancel Culture. Ihrer Ansicht nach ist es heute nur so, dass Menschen, vor allem die viel gescholtenen alten, weißen Männer, damit rechnen müssten, dass ihnen in der Öffentlichkeit widersprochen wird. Wenn es um mehr nicht ginge, gäbe es kein Problem. In offenen Gesellschaften muss jeder damit rechnen, dass ihm widersprochen wird und er seine Aussagen begründen muss. Position und Herkunft reichen in ihnen zum Glück allein nicht aus, um einer Ansicht Gewicht zu verleihen.

Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen Kritik und dem Versuch, einen Menschen zu vernichten und ihm mit ehrabschneidenden Unterstellungen seine Würde zu nehmen. In einem demokratischen Diskurs hat Kritik sachlich zu sein. Sie zielt auf das Gesagte ab, nicht auf den Sprecher. Und sie will die Debatte, nicht ihr Ende. Wie alles gilt auch das nicht total: Es ist sinnlos, mit Holocaust-Leugnern zu diskutieren und die Feinde der offenen Gesellschaft, das wissen wir seit Popper, sollten keine Freiheit genießen, denn sonst kann es schnell vorbei sein mit Offenheit, Demokratie und Debatte.

„Es gibt einen Unterschied zwischen Kritik und dem Versuch, einen Menschen zu vernichten und ihm mit ehrabschneidenden Unterstellungen seine Würde zu nehmen.“

Aber Feinde der Freiheit sind weder Nuhr noch Münkler oder Baberowski. Sie sind die Feinde all jener, die keine anderen Ansichten mehr ertragen und sich mit ihnen nicht auseinandersetzen, sondern sie aus der Debatte verdrängen wollen. Rassismus und Sexismus sind dabei die wichtigsten Hebel. Und Rassismus und Sexismus finden die Aktivisten überall. Denn sie sind für sie ein struktureller, fester Bestandteil der Gesellschaft. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani teilt diese Ansicht. In seinem Buch „Wozu Rassismus“ schreibt er: „Ganz egal, wo wir Rassismus suchen, wir werden ihn finden. Mit etwas Sensibilität finden wir ihn sogar, ohne zu suchen. Warum? Weil der Rassismus im Fundament ist.“ 1

Das ist nicht falsch, aber es ist auch nicht mehr als eine extrem verengte Sicht auf die westlichen Gesellschaften: Ja, Rassismus ist im Fundament, wie vieles andere Übel auch, aber die Kritik an ihm ist es ebenfalls. Die westlichen Gesellschaften waren immer Diskursgesellschaften: Hielten die Konquistadoren die Indianer für minderwertige Wesen, die man nicht als Menschen bezeichnen kann, stellte sich Kaiser Karl V. dem unter Einfluss des Dominikaners Bartolomé de Las Casas entgegen.

Sprach sich der britische Naturforscher und Cousin von Charles Darwin, Francis Galton, für Eugenik und die Kategorisierung der Menschen in Rassen aus, deren Merkmale nicht veränderbar seien, sah sein Vetter das anders: In „Eine kurze Geschichte von jedem, der jemals gelebt hat“ fasst der britische Biologe Adam Rutherford Darwins Haltung zusammen: „In der Entstehung der Arten benutzt Darwin den emotionalen Begriff ‚Rasse‘, um die Vielfalt der Organismentypen zu beschreiben, einschließlich der ‚verschiedenen Arten, beispielsweise des Kohls‘. Doch im Mittelpunkt seiner großen Idee stand die Erkenntnis, dass sich die Organismen im Fluss der Zeit ständig wandeln. Und 1871 schrieb er in der Abstammung des Menschen mit bemerkenswerter Voraussicht, dass diese menschlichen Rassenmerkmale weder dauerhaft noch wesentlich sind.“ 2

Weder Rassismus noch seine Ablehnung sind letztlich prägend für die westlichen Gesellschaften, die sich permanent wandeln. Die Debatte, die Vielfalt der Positionen und der Streit sind es. Das Fundament der Offenen Gesellschaft ist nicht aus Beton gegossen, es ist fluid und verändert sich ständig. Das macht ihre Stärke aus.

Ein internationales Phänomen

Doch dieses Fundament wird durch Cancel Culture gefährdet. „Cancel Culture“, schreibt die freie Enzyklopädie Wikipedia, sei ein politisches Schlagwort, mit dem systematische Bestrebungen zum sozialen Ausschluss von Personen oder Organisationen bezeichnet werden, denen beleidigende, unanständige oder diskriminierende Aussagen beziehungsweise Handlungen vorgeworfen würden. Das klingt harmloser als es ist, denn zum einen entscheidet nur derjenige, der sich beleidigt fühlt, ob eine Beleidigung vorliegt. Mit dem Begriff „Cancel Culture“ verbindet man vor allem Auseinandersetzungen in der westlichen Gesellschaft, doch das ist eine zu enge Sicht. Cancel Culture ist international und richtet sich immer gegen den Westen und seine Werte. Sie ist die Instrumentalisierung der Gefühle für den politischen Kampf.

„Rassismus und Sexismus finden die Aktivisten überall. Denn sie sind für sie ein struktureller, fester Bestandteil der Gesellschaft.“ 

Die Mordversuche und Anschläge, die im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten geschahen, wurden mit der „Beleidigung der Muslime“ begründet. Bei der Mordaufforderung gegen den britisch-indischen Schriftsteller Salman Rushdie durch das iranische Regime wurde ebenfalls mit der Beleidigung der Muslime argumentiert. Und wenn UN-Mitgliedstaaten sich auf einer Veranstaltung über den Umgang Chinas mit den Uiguren austauschen wollen, wird das von dem 1,4 Milliarden-Menschen-Staat als Beleidigung aufgefasst.

Wer beleidigt wurde, darf sich als Opfer sehen und da die Reputation des Opferstatus in den vergangenen 50 Jahren zugenommen hat, findet er immer jemanden, der seine Haltung unterstützenswert findet. Bei denen, welche die Zeichner der Karikaturen in der Jyllands-Posten bedrohten, war das u.a. Günter Grass. „Es war eine bewusste und geplante Provokation eines rechten dänischen Blattes“, sagte Grass nach einem Bericht der F.A.Z. der spanischen Zeitung El Pais. „Dem Westen“, schreibt die F.A.Z. „warf Grass in der Debatte über die Karikaturen hinsichtlich der Verweise auf die Presse- und Meinungsfreiheit Selbstgefälligkeit und Arroganz vor.“ 3

Es ist wichtig, die Cancel Culture in diesem internationalen Zusammenhang zu sehen. Dies macht deutlich, was sie jenseits aller Beteuerungen von Beleidigtsein und angeblicher Verletztheit in ihrem Kern ist: ein Angriff auf Aufklärung, Universalismus und die Menschenrechte. All das gilt ihren Vertretern als Tarnung von Privilegien, die es zu vernichten gilt.

Der woke Scheinriese

Die Cancel Culture ist eine der Waffen im Reservoir des ursprünglich aus Frankreich stammenden Ideenbündels der Postmoderne, die der britische Philosoph Roger Scruton in seinem Buch „Narren, Schwindler, Unruhestifter“ als Nonsens-Maschine beschreibt: „Die Nonsens-Maschine aus Paris war die Artillerie, mit der der Angriff auf die bourgeoise Kultur geführt wurde, sie schleuderte über deren Befestigungen hinweg schwere Blöcke von undurchdringlichem Neusprech in den öffentlichen Raum.“ Ihre Folge sei „die Zerstörung der Konversation, von der die bürgerliche Gesellschaft lebt.“ 4

So weit ist es noch nicht gekommen, die Konversation findet noch statt, aber es wird beständig versucht, den Kreis derjenigen, die an ihr teilnehmen dürfen, einzuschränken. Und allen, die den Protagonisten der Cancel Culture widersprechen, die Reputation zu rauben.

„Weder Rassismus noch seine Ablehnung sind letztlich prägend für die westlichen Gesellschaften, die sich permanent wandeln.“

Einer kleinen Gruppe, die vor allem im Bereich der geisteswissenschaftlichen Fakultäten westlicher Universitäten und in Teilen der Medien aktiv ist, gelingt es dabei in der Öffentlichkeit den Anschein einer Größe zu erwecken, die sie nicht hat. „Innerhalb der jüngeren Generationen (unter 30) ist das Thema weitgehend konfliktfrei im gebildeten Mainstream. Die ‚woken‘ Aktivist:innen lösen die (eher unpolitischen) Hipster ab,“ schreibt El-Mafaalani. Von den Erkenntnissen der empirischen Sozialforschung ist das nicht gedeckt: Die Shell-Jugendstudie beschrieb 2019 die Jugendlichen als offen, tolerant, umweltbewusst, demokratisch und traditionell orientiert, wie die Tageszeitung Die Welt beschreibt: „Die wichtigsten Werte sind für die überwältigende Mehrheit der Jugendlichen nach wie vor gute Freunde (97 Prozent), eine vertrauensvolle Partnerschaft (94) und ein gutes Familienleben (90). Dreh- und Angelpunkt sind für die meisten Zwölf- bis 25-Jährigen die eigenen Eltern. 92 Prozent verstehen sich gut mit ihnen, 74 Prozent betrachten sie auch als Erziehungsvorbild. Zwei Drittel wollen später auch eigene Kinder haben. Hier erlebten die Forscher allerdings eine Überraschung. Erstmals fragten sie nach, wie die Jugendlichen Arbeit und Erziehungszeit in einer Partnerschaft aufteilen würden, wenn sie ein zweijähriges Kind hätten. Das Ergebnis: erstaunlich traditionell. Mehr als die Hälfte (54 Prozent) bevorzugen das klassische ‚Versorgermodell‘ mit einem in Vollzeit oder vollzeitnah arbeitenden Vater und einer Teilzeit oder gar nicht arbeitenden Mutter.“ 5

Eine „Woke-Generation“ scheint da gerade nicht heranzuwachsen. Die Jugend von heute mag wie die Jugend von gestern auch nicht auf das eigene Auto verzichten und bei Fridays for Future (FFF) liefen ohnehin vor allem die Gymnasiastinnen mit, und auch die nur in überschaubarer Zahl. Dem Tagesspiegel sagte der Soziologe Dieter Rucht: „Bei FFF handelt es sich um eine Bewegung, die in der Hochphase von primär weiblichen Gymnasiastinnen zwischen 11 und 18 Jahren getragen wurde. Selbst wenn da sehr viele Leute unterwegs waren, war es doch nur eine Minderheit der gymnasialen Schülerschaft, die ihrerseits nur einen Teil der gesamten Schülerschaft darstellt. Schülerinnen und Schüler von Haupt- oder Berufsschulen haben an den Demos von FFF so gut wie gar nicht teilgenommen.“ 6

Politische Ökonomie der Cancel Culture

Viele sind es also nicht, die sich zur Woke-Generation zählen. Und die, die es tun, haben vor allem zwei wichtige Motive, weshalb sie versuchen, mit ihrem Aktivismus größer und bedeutender zu erscheinen, als sie es sind. Die Möglichkeit, die monatliche Miete zahlen zu können, hängt davon ab, andere von der eigenen Bedeutung zu überzeugen und Konkurrenten aus dem Weg zu räumen.

Egal, ob in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten, in vor allem öffentlich-rechtlichen Redaktionen, Organisationen, die Unternehmen im Bereich Diversität beraten, oder in Nichtregierungsorganisationen (NGOs): Im Gegensatz zu Ingenieuren, Ärzten oder Facharbeitern ist aus diesem Kreis trotz überdurchschnittlicher Bildung kaum jemand in der Lage, seine wirtschaftliche Existenz zu sichern. Es ist deshalb falsch, die Aktivisten als Teil einer Elite zu sehen, denn eine Elite, der dies nicht gelingt, ist keine.

„Einer kleinen Gruppe, die vor allem im Bereich der geisteswissenschaftlichen Fakultäten westlicher Universitäten und in Teilen der Medien aktiv ist, gelingt es in der Öffentlichkeit den Anschein einer Größe zu erwecken, die sie nicht hat.“

Dass die Hochschulen, vor allem ihre geisteswissenschaftlichen Fakultäten, Kampfgebiete sind, hat also auch damit zu tun, dass es um den Zugriff auf Stellen im universitären Bereich geht. Lehrstühle und Stellen für Doktoranden und Wissenschaftliche Hilfskräfte in Fächern wie Gender-Studies oder Postkolonial-Studies sind sowieso in der Hand der Szene, der es bislang gelungen ist, eine an die eigene Existenz gehende Debatte über die Qualität von Forschung und Lehre weitgehend zu verhindern. „Der Umstand, dass Vertreterinnen der Gender-Studies auf die gesellschaftliche Relevanz ihres Fachs verweisen, aber keinerlei gewichtige Studien zu den mitunter virulentesten Konflikten der letzten Jahre vorzuweisen haben, spricht für sich“, führt Vojin Saša Vukadinović 2019 in einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) aus. „An ihnen sind sämtliche geschlechter- und sexualpolitischen Entwicklungen vorbeigezogen, die dringend der wissenschaftlichen Bestandsaufnahme bedürfen, weil sie qualitativ neue Phänomene sind: Jihadismus, Kinderehen, in aller Öffentlichkeit und oftmals, wie die laufenden Verfahren zeigen, bar jeden Rechtsempfindens verübte Gruppenvergewaltigungen und Morde an jungen Frauen.“ 7

Auch in Fächern wie Geschichte, Soziologie oder Pädagogik sind die Anhänger der Cancel Culture unterwegs. Im Kulturbereich, vor allem dort, wo die Arbeit nur durch öffentliche Subventionen gesichert werden kann, ohnehin. Der in Südafrika lebende und arbeitende Historiker Achille Mbembe fordert den Boykott israelischer Wissenschaftler und Künstler – setzte ihn im Fall der israelischen Wissenschaftlerin Shifra Sagy sogar durch. Er wurde aus diesen Kreisen massiv unterstützt, als sein geplanter, und wegen Corona ausgefallener, Auftritt bei dem Kulturfestival Ruhrtriennale 2020 kritisiert wurde. Dabei steht der BDS, dessen Ziel der Boykott und letztendlich die Vernichtung Israels ist, wie kaum eine andere Organisation für Cancel Culture: Man möchte Unternehmen, Hochschulen und Sportveranstaltungen frei von jüdischen Israelis haben – und zwar aus einem Grund: weil sie jüdische Israelis sind. Unterstützt wurde der Protest gegen die Kritik an Mbembe, die natürlich als rassistische gebrandmarkt wurde, ohne dass für diesen Vorwurf auch nur ein Beleg geliefert wurde, von Vertretern großer Kulturinstitutionen wie dem Deutschen Theater Berlin, der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss und des Deutschen Bühnenvereins. Ihnen schlossen sich in einem zweiten Aufruf vor allem Künstler und Veranstalter an, die wirtschaftlich die Nähe zu den Großen suchten. Dass BDS eine antisemitische Kampagne ist, störte weder die A-Hörnchen der Großkulturbetriebe noch die nach deren Anerkennung heischenden B-Hörnchen.

Wer in diesem Milieu eine wirtschaftliche Perspektive haben will, tut also gut daran, sich der postmodernen „Nonsensmaschine“ anzuschließen und damit auch eine Cancel Culture voranzutreiben, die vielleicht dafür sorgt, dass es für einen selbst noch irgendwo eine Stelle gibt. Doch sich darum zu sorgen, heißt nicht, dass es am Ende auch gelingt: Erhellend in diesem Zusammenhang ist das in den Sozialen Medien verbreitete Interview eines Gender-Studies-Experten, der keine Stelle findet, weil die vorhandenen alle von Frauen belegt werden. Was er einerseits als gut und richtig, aber für sich persönlich trotzdem als bedauerlich empfindet.

„Dass die Hochschulen, vor allem ihre geisteswissenschaftlichen Fakultäten, Kampfgebiete sind, hat also auch damit zu tun, dass es um den Zugriff auf Stellen im universitären Bereich geht.“

Woker „Journalismus“

Ähnlich ist es in den Medien: In der taz kam es im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den 2020 erschienenen Kommentar „All cops are berufsunfähig“ 8 der Autorin Hengameh Yaghoobifarah, den man durchaus so lesen konnte, dass Yaghoobifarah Polizeibeamte für so etwas wie Abfall hielt, zu einem Streit. In der Redaktion standen sich zwei Flügel gegenüber: In einem Brief an die Mitglieder der taz-Genossenschaft, der dem Autor vorliegt, schreibt taz-Chefredakteurin Barbara Junge:

„Das Ringen in der Redaktion über den Text und darüber, was gesagt werden soll, darf oder muss, legt aber auch einen tieferen Konflikt in der taz offen. Wir streiten darum, wie stark der subjektive Blick den Journalismus prägen soll und darf. Identität, Repräsentation und Antidiskriminierung haben in den gesellschaftlichen Debatten inzwischen einen anderen, größeren Stellenwert. Die Frage, ob das einen anderen Journalismus definieren darf oder muss, ist eine schon lange schwelende Kontroverse in der taz.“

Ins Detail ging dann Christian Jakob in dem Beitrag mit dem Titel „Die Welt ist nicht schwarz-weiß“: „Es ist eine Generationenfrage, die den Journalismus tief verändern wird. Die taz hat nur noch nie offen darüber gesprochen. Und das ist gerade ihr eigentliches Problem […] So soll die gesellschaftliche Auseinandersetzung stärker von Benachteiligten bestimmt werden können und sich die Dinge deshalb zum Besseren verändern mögen.“ 9

Die Kernfrage, die sich für die taz stellt, ist, ob Journalismus künftig noch etwas mit Berichterstattung und Distanz zu tun hat oder, wie übrigens in weiten Teilen in den 20er Jahren in Deutschland üblich, vor allem der Verbreitung von Ideologien dienen soll. Für diese Haltung gibt es bekannte und anerkannte Vorbilder. Eines davon ist die Reporterlegende Egon Erwin Kisch. In seinem Buch „Die Reportage“ schreibt Michael Haller, Kisch habe sich zeitweise eine Einheitsfront der Intellektuellen und die „Umfunktionierung der Kunst, zu der damals die Reportage als literarische Gattung zählte, in eine pädagogische Disziplin“ gewünscht. 10

Eng verknüpft mit dieser Frage ist auch, über wen oder was noch wie berichtet werden soll. Der Comedian Jan Böhmermann forderte im Gespräch mit TV-Moderator Markus Lanz und Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, den Virologen Hendrik Streeck nicht mehr zu Wort kommen zu lassen, unterstellte ihm indirekt Menschenfeindlichkeit und rückte ihn in die Nähe von Coronaleugnern und Querdenkern. Der WDR darf sich rühmen, zwar eng an der Seite von Fridays for Future und anderen sozialen Bewegungen zu stehen, bei der Berichterstattung über die Hochwasserkatastrophe im Juli 2021 versagte der Sender hingegen anfangs komplett: Gut in der ideologischen Kür, schlecht in der journalistischen Pflicht.

„Die Cancel Culture ist das Mittel, um die Debatten in der Gesellschaft zu verengen. Statt offener Diskussionen wird versucht, Narrative oder Erzählungen zu etablieren.“

Wie so ein woker Journalismus aussieht, kann man im öffentlich-rechtlichen Jugendformat „Funk“ beobachten, in dem postmoderne Behauptungen wie die, dass Geschlechter beliebig ausgesucht werden können, was der Biologie widerspricht, unhinterfragt übernommen werden. Da kann es dann schon einmal vorkommen, dass die Frage diskutiert wird, ob heterosexuelle Männer, die sich nur mit Frauen treffen wollen, die als Frauen geboren wurden, transfeindlich, ja vielleicht sogar rechtsradikal sind. Das Vergehen dieser Männer: Sie wollen sich nicht mit Männern treffen, die sich als Frauen sehen. Was eigentlich normal und die Grundlage der menschlichen Reproduktion ist, wird nun als „superstraight“ ideologisch aufgeladen. Aber die Postmoderne kennt bei allem, was sie ablehnt, keinerlei Essentialismus. Der gilt immer nur für Minderheiten, deren Zahl auch deswegen weiter zunimmt, da einer Minderheit anzugehören auch das Leben des größten Langweilers adelt. Wer asexuell ist und einfach keine Lust hat, mit anderen Menschen ins Bett zu gehen, kann sich nun darüber beklagen, diskriminiert zu sein. Dass Asexuelle im wirklichen Leben die gesellschaftliche Gruppe sein dürften, für die sich die wenigsten Menschen interessieren, stört dabei nicht. Biologie hat in der Welt von Funk keinen Platz mehr. Eine ganze Wissenschaft wird gecancelt. Die Welt, sie soll so sein, wie sie den Machern von Funk gefällt. Kaum vorstellbar, dass jemand mit anderen Ansichten in dieser Redaktion dauerhaft arbeiten kann.

Eine autoritäre Ideologie

Aber es steht auch ein politisches Konzept dahinter. Der Westen, die Marktwirtschaft, Universalismus, das zählt alles nichts mehr und wird angegriffen. Die Cancel Culture ist das Mittel, um die Debatten in der Gesellschaft zu verengen. Statt offener Diskussionen wird versucht, Narrative oder Erzählungen zu etablieren. Zum Teil gehen die zurück auf das 19. Jahrhundert. So erfreut sich die Verelendungstheorie von Karl Marx, nachdem im Kapitalismus die Armen immer ärmer werden, nach wie vor einer großen Beliebtheit. Vor allem mit Blick auf die globale Entwicklung wird sie häufig verwendet. Dass Wohlstand, Gesundheit und Bildung in den vergangenen 200 Jahren weltweit gestiegen sind, kann zwar durch zahlreiche Daten belegt werden, aber da die nicht zum Narrativ passen, werden sie geflissentlich ignoriert. Der Westen vereint alles Übel. Sexismus, Rassismus, Homophobie und vieles andere mehr sind nicht nur Probleme und Fehlentwicklungen, die ja tatsächlich real sind und angegangen werden müssen, sondern „strukturell“ tief in ihm verankert.

Nun gibt es diese Probleme in allen Gesellschaften der Welt. Aber nur im Westen, so wird behauptet, sind die Teil der politischen und sozialen DNA. Dass es die Staaten des Westens waren, welche die Sklaverei als erste abschafften, dass nirgends die Rechte von Frauen oder Homosexuellen, bei allen noch vorhandenen Defiziten, mehr geachtet werden als hier, spielt bei der Kritik keine Rolle. Der Westen und alles, wofür er steht, ist der Feind, den es zu bekämpfen gilt. Eine auch nur halbwegs in sich schlüssige oder auch nur intellektuell reizvolle Vision, was auf ihn folgen soll, gibt es natürlich nicht.

Natürlich kann man so keine Mehrheiten gewinnen. Aber es gibt ja noch Hebel, die einem zur Verfügung stehen, wenn man bei ARD, ZDF oder in skurrilen Fakultäten arbeitet: „Wie Orwell schon festgestellt hatte“, schreibt Scruton „ist die Sprache das erste Zielobjekt jeder Revolution. Die Revolution braucht das Neusprech, das Macht an die Stelle setzt, die früher die Wahrheit eingenommen hatte, und nachdem das vollzogen ist, wird das Ergebnis als die ‚Politik der Wahrheit‘ beschrieben.“ 11

„Der Westen und alles, wofür er steht, ist der Feind, den es zu bekämpfen gilt. Eine auch nur halbwegs in sich schlüssige oder auch nur intellektuell reizvolle Vision, was auf ihn folgen soll, gibt es natürlich nicht.“

Natürlich geht es bei den Auseinandersetzungen um Sprache, in deren Zentrum das Gendern steht, nicht um Geschlechtergerechtigkeit. Das generische Maskulinum ist geschlechtsneutral und nichts ändert sich an den Lebensverhältnissen von Frauen in mies bezahlten Jobs, wenn das ZDF von Taliban*innen schreibt oder die ARD ihrem Publikum zu berichten weiß, „Braunbären sind zu 75% Veganer:innen“. 12 Bei diesen Auseinandersetzungen geht es um die Macht über die Sprache. Begriffe sollen durchgesetzt, andere gecancelt werden. Frau wird in den Kreisen auch gerne Frau* geschrieben, denn im klassischen Verständnis gibt es in dieser Welt keine Geschlechter mehr und damit auch keine Frauen. Feministinnen wie Alice Schwarzer, die nicht einsehen wollen, dass ein Mann, der einen Rock trägt, eine Frau ist, werden als TERFs (Trans-Exclusionary Radical Feminists) beschimpft. Veranstaltungen an Hochschulen von als „TERFS“ stigmatisierten Frauen wir Naida Pintul werden häufig gestört. So weit kommt es allerdings nur, wenn es im Vorfeld nicht gelungen ist, ihre Vorträge zu canceln. Pintul sagte 2020 dem Autor in einem Interview für das Blog Ruhrbarone über Vorträge an Universitäten: „Seit 4-5 Monaten werden die verrücktesten Versuche unternommen, meine Vorträge zu verhindern, abgesagt zu kriegen oder teilweise die Organisatoren meiner Vorträge selbst abzuschrecken, zum Beispiel durch Drohmails oder indem man allen Referenten einer Vortragsreihe Gelder verweigert, weil ich in dieser Reihe referiere.“ 13

Unterstützt von öffentlichen Geldern versuchen kleine, radikale Gruppen, einen Einfluss zu gewinnen, der in keinem Verhältnis zu ihrer Größe oder gesellschaftlichen Akzeptanz steht. Politiker demokratischer Parteien wie der SPD, der CDU oder der FDP ducken sich weg und gehen oft der öffentlichen Auseinandersetzung aus dem Weg, aus dem Glauben, sie könnten damit Rechtsradikalen wie der AfD nützen. Ein Fehler, dessen Konsequenzen der Autor und Dramaturg Bernd Stegemann in seinem Buch „Wutkultur“ klar benennt: „Die Wut linker Identitätspolitik richtet sich immer stärker gegen die neutrale Position des Universalismus. Die raffinierteste Abwehr besteht darin, den Universalismus zum Partikularismus der ‚weißen Menschen‘ zu erklären. Mit diesem logischen Trick sägt die linke Identitätspolitik jedoch an dem Ast, auf dem sie selbst sitzt. Denn wenn es keinen Universalismus in der Gleichheit mehr gibt, entfällt auch ihr Fundament für eine Gleichheit, mit der Minderheiten gleiche Rechte fordern können. Wer den Universalismus der Menschenrechte ablehnt, öffnet die Türen zur Hölle, in der wieder das Recht des Stärkeren gilt.“ 14

Es gilt, sich jedem Angriff auf die universellen Werte der Aufklärung entgegenzustellen, unabhängig davon, ob er von rechts, links, dem Islamismus oder einem anderen religiösen Fundamentalismus kommt. Immer steckt hinter diesen Angriffen eine autoritäre Ideologie.

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