12.11.2021

Der kaputte Diskurs

Von Adrian Müller

Titelbild

Foto: Santeri Viinamäki via Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Mit der Aufklärung setzte sich die Vorstellung durch, dass Argumente unabhängig vom Sprecher bewertet werden sollten. Im aktuellen „antirassistischen“ Diskurs gilt dieser Konsens allerdings nicht mehr.

Zentraler Bestandteil der Aufklärung und eine Errungenschaft des freien Denkens ist der Konsens, dass jedes Argument unabhängig von der jeweiligen Person gelten muss. Als Begründung einer Aussage reichte den Denkern der Aufklärung nicht mehr, dass sie von einer bestimmten höheren Autorität vertreten wurde. Als Ziel galt es, Argumente mittels rationalen Diskurses unabhängig vom Sprecher zu bewerten. Dieses freie Denken rief stets den Widerstand staatlicher Autoritäten hervor. So hieß es im Jahre 1838 im Preußischen Staate: „Es ziemt dem Untertanen nicht, an die Handlungen des Staatsoberhaupts den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen und sich in dünkelhaftem Übermut ein öffentliches Urteil über die Allgewalt derselben anzumaßen.“

Auf Dauer konnte die moderne Idee des freien Denkens und des rationalen Diskurses mit dem Leitspruch der Aufklärung „Sapere aude“ allerdings nicht unterdrückt werden. Die Macht des Klerus und der feudalen Ordnung wurde so in westlichen Ländern überwunden. Der Konsens für eine Diskussion auf rationaler Argumentationsbasis statt auf identitärer bzw. auf Autoritätsbasis ist die Grundlage für eine offene und demokratische Debattenkultur. Im aktuellen, einflussreichen „antirassistischen“ Diskurs wird dieser Konsens allerdings immer mehr gefährdet.

Im woken Diskurs wird die Menschheit mittels „intersektionaler Denkweise“ in Opfer- und Täterkollektive unterteilt. Die Zuordnung zum Kollektiv einer Tätergruppe bzw. Opfergruppe erfolgt durch zum Großteil unveränderbare Merkmale, wie beispielsweise Geschlecht, Herkunft, Alter, Religion, Rasse und sozialen Stand. Der cis-heterosexuelle alte weiße Mann wird als Synthese verschiedener Täterkollektive angesehen, und damit als Personifizierung des Schlechten oder gar Bösen.

„Der Konsens für eine Diskussion auf rationaler Argumentationsbasis statt auf identitärer bzw. auf Autoritätsbasis ist die Grundlage für eine offene und demokratische Debattenkultur.“

Der Intersektionalismus führt nicht nur zu vollkommen absurden Verallgemeinerungen aufgrund äußerer Merkmale, sondern auch zu neuen Formen der Wahrheitsfindung: Recht hat nicht, wer die besseren Argumente vorweisen kann, sondern wer am überzeugendsten belegen kann, einer unterdrückten Opfergruppe anzugehören. „Ich denke, also bin ich“, wird ersetzt durch: „Ich bin diskriminiert, also habe ich recht“…

Wer im intersektionalen Wettbewerb um Diskriminierungspunkte die höchste Punktzahl erreicht, dessen Sichtweise soll unwidersprochen gelten. Die Punktzahl der Unterdrückung wird wiederum von woken Aktivisten bestimmt. Laut intersektionaler Theorie seien „privilegierte“ Personen aufgrund ihrer „Positionalitiät“ überhaupt nicht in der Lage, die Wirklichkeit richtig zu erkennen. Ihnen gegenüber wird der Vorwurf erhoben, einerseits als angeblich privilegierte Personen mit ihrer Meinung nur ihre eigenen Privilegien zu rechtfertigen und andererseits die Wirklichkeit nur verfälscht wahrnehmen zu können. Ähnlich wie bei einem 3D-Film könnten nur marginalisierte Gruppen durch ihre 3D-Brille der „gelebten Erfahrung“ die Welt in all ihren Tiefen und Facetten wahrnehmen.

Die Opferrolle verleiht Anerkennung und Autorität aufgrund von „authentischen gelebten Erfahrungen“. Dabei bleibt es marginalisierten Gruppen untersagt, die Dogmen der woken Aktivisten zu kritisieren. Wer die Agenda des woken „Antirassismus“ gegen das „strukturell rassistische System“ nicht unterstützt, ist entweder selbst „privilegiert“ und daher rassistisch motiviert oder zählt nicht als „authentische“ Stimme. Wer nicht auf der Seite der woken Aktivisten kämpft, der muss Teil des rassistischen Unterdrückungssystems sein.

„‚Ich denke, also bin ich‘, wird ersetzt durch: ‚Ich bin diskriminiert, also habe ich recht‘.“

Als etwa Fatina Keilani im Tagesspiegel kritisch über die Aktivisten des neulinken Antirassismus schrieb, wurde sie als „Verräterin“ an den Pranger gestellt. Ein woker Internet-Mob zog in den sozialen Medien über Keilani als „Rassistin“ her und warf ihr vor, eigentlich ein „alter weißer Mann“ zu sein. Auch bei CNN wurden bereits nichtweiße Personen, die nicht an die Dogmen der woken Aktivisten glauben, als „white supremacists with a tan“ (weiße Rassisten mit Bräunung) diskreditiert.

Rückfall in voraufklärerischen Tribalismus

Der Mensch zählt nicht mehr als freies Individuum, sondern wird nur noch als Avatar eines Kollektivs „gelesen“. Jeder Einzelne wird dadurch zum Spielball eines Machtkampfes zwischen angeblich dominanten und unterdrückten Kollektiven degradiert. Die Identität der Person ersetzt wieder das Argument, wie es bereits in vormodernen Gesellschaften der Fall war. Martin Luther Kings Traum von Gleichbehandlung unabhängig von Hautfarbe wird als Blindheit gegenüber „Rassismus“ diffamiert. 

Die sich dadurch vertiefende Spaltung der Gesellschaft führt zu einer Retribalisierung in antagonistische Identitätsgruppen. Selbst rassistische Aussagen wie z.B. die Rede von einer „eklig-weißen Mehrheitsgesellschaft“ werden als legitim erklärt, wenn es der „antirassistischen“ Sache dient. Woke Identitäre suchen die Konfrontation, um Andersdenkende gezielt einzuschüchtern. Wer es dabei wagt zu widersprechen, wird als Rassist gebrandmarkt. So führten die Evergreen-Proteste von radikalen woken Studenten dazu, dass der linke amerikanische Biologie-Professor Bret Weinstein sich gezwungen sah, seine Lehrtätigkeit aufzugeben. In Frankreich versuchen selbsterklärte Antirassisten und Vorkämpfer gegen „Islamophobie“ mittels haltloser Rassismusvorwürfe den Rücktritt von Vincent Tournier und Klaus Kinzler zu erwirken, und gefährden damit die freie Forschung von säkularen Wissenschaftlern.

„Durch Konzepte wie ‚White Fragility‘ wird Widerstand gegen diese Erpressung dem Opfer als Kennzeichen von ‚Rassismus‘ angelastet.“

Die Verbindung von Intersektionalismus und „repressiver Toleranz“ führt dazu, dass man nicht mehr von „Indianerkostümen“ reden soll, gleichzeitig aber für israelfeindliche Aktivisten Verständnis haben muss. Neben repressiver Toleranz, Diffamierung und Bevormundung werden im kaputten „antirassistischen“ Diskurs auch klassische Erpressungsmethoden angewandt. Wer sich den woken Aktivisten nicht unterwirft, der stelle sich selbst auf die Seite der bösen „weißen Dominanz“. Durch Konzepte wie „White Fragility“ wird Widerstand gegen diese Erpressung dem Opfer als Kennzeichen von „Rassismus“ angelastet. Dieses Konzept ist nichts anderes als eine klassische sogenannte Kafka-Falle, bei der alle möglichen Reaktionen als Bestätigung der Anklage dienen, nach dem Schema: „Hast du aufgehört, deine Tochter zu misshandeln?“

Diese Vorgehensweise findet sich in den Forderungen von Lehramtsstudenten der Freien Universität Berlin. Die Aktivisten fordern die Umgestaltung des Bildungssystems nach ihren Vorstellungen ein. Zu Diskussionen sind sie nicht bereit und konfrontieren die Universitätsleitung mit einem Rassismusvorwurf: „Ein Ignorieren dieses Schreibens und fehlende Umsetzung der Forderungen innerhalb dieses Jahres werden wir als rassistische Kontinuität deutscher Institutionen einordnen.“ Weitere woke Rhetorik-Tricks schildert Mike Young auf der Webseite der Organisation Counterweight.

Wie lässt sich nun der kaputte Diskurs wieder reparieren? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Auf jeden Fall ist wichtig zu lernen, wie man seinen Standpunkt gegen diese Einschüchterungsversuche selbstbewusst vertritt. Dazu sollte man klarmachen, dass ein manipulativer Rassismusvorwurf nichts anderes als perfider Rufmord ist und eine Aushöhlung des Rassismusbegriffs in Kauf nimmt. Gleichzeitig muss man darlegen, wie der berechtigte Kampf gegen Rassismus in der woken Agenda missbraucht wird. Dazu braucht es eine selbstbewusste liberale Positionierung, die Wert auf rationalen Diskurs liegt. Es gilt die Werte der Aufklärung, also Gleichbehandlung, Rationalität und freien Meinungsaustausch, standhaft zu verteidigen. Hierbei gilt es aus der Defensive herauszukommen und die woken Ankläger als das zu enttarnen, was sie sind: Nur eine weitere Wiederkehr von autoritären Narren, die von ihren Mitmenschen ideologische Unterwerfung verlangen.

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