01.06.2018
Donnerndes Ja zur freien Entscheidung
Von Brendan O’Neill
Irland hat in einem Referendum sein Abtreibungsverbot aufgehoben. Im Mittelpunkt stand dabei die Entscheidungsfreiheit, für die wir auch auf anderen Gebieten kämpfen sollten.
Irland befand sich wochenlang fest im Griff des Abtreibungsreferendums. Dabei kam man um ein Wort nicht herum. Nein, nicht die ‚Entscheidungsfreiheit‘, sondern das ‚Mitgefühl‘. Wo man auch hinschaute, sprang es einem ins Auge. Auf den offiziellen „Together-for-Yes“-Plakaten, die allerorts von Dublin über Athlone bis Galway die Laternenpfähle geschmückt haben, an allen Stationen, die ich auf meiner Rundreise anlässlich des Referendums absolviert habe, überall wurde „Mitgefühl“ hochgehalten. Die allgegenwärtigen Plakate der Sinn-Fein-Partei flehten die Wähler an, „Mitgefühl zu zeigen“, indem sie durch ein ‚Ja‘ auf dem Stimmzettel den achten Zusatz der irischen Verfassung, das Verbot von Abtreibungen, aufheben. Dieses Meer von ‚Mitgefühl‘ kommt nicht von irgendwoher. Wie ein Sprecher von „Together for Yes“ dem Guardian vor der Abstimmung mitteilte, baute die Kampagne vor allem auf der Botschaft von „Mitleid, Fürsorge und Veränderung“ auf, um den älteren, unsicheren, in ländlichen Gebieten lebenden Teil der Wählerschaft nicht zu verschrecken. Man versuchte so, „die politische Mitte zu erreichen“.
Fürsorge, Mitgefühl und Veränderung. Auf diesen drei Schlüsselbegriffen basieren die beeindruckenden Bemühungen der offiziellen Yes-Lobby, das Abtreibungsverbot aufzuheben. Allerdings gibt es da noch etwas zu hinzuzufügen, etwas Entscheidendes, Bewegendes und Inspirierendes: Das irische Volk hat nicht nur millionenfach gegen den achten Verfassungszusatz votiert, um Fürsorge und Mitgefühl gegenüber Frauen zu zeigen oder ihren Wunsch nach Veränderung auszudrücken – wie schön und wertvoll diese Begriffe auch sein mögen. Nein, vielmehr hat seine Rebellion gegen den veralteten, freiheitseinschränkenden Artikel etwas durchaus anderes zum Ausdruck gebracht: die Entscheidungsfreiheit.
„Ganz oben auf der Liste von Gründen, den Verfassungszusatz abzulehnen, stand das ‚Entscheidungsrecht der Frauen‘.“
So zeigen es uns auch die Umfragen unter den Wählern. Einer Befragung zu „Einflussfaktoren“ hinter den sage und schreibe 1.429.981 Ja-Stimmen (gegenüber 723.632 Nein-Stimmen) zufolge hat das Selbstbestimmungsrecht eine ausschlaggebende Rolle in den Überlegungen der Wähler gespielt. Ganz oben auf der Liste von Gründen, den Verfassungszusatz abzulehnen, stand das „Entscheidungsrecht der Frauen“. Für 62 Prozent der Wähler war es der entscheidende Punkt, der sie zu einem ‚Ja‘ bewogen hatte. Auf dem zweiten Platz landete das „Risiko für die Gesundheit oder das Leben der Frau“ (55 Prozent) und auf dem dritten das Problem von Schwangerschaften durch Vergewaltigung oder Inzest (40 Prozent). Eindeutig beruht die irische Auflehnung gegen das Abtreibungsverbot in ihrer Mehrheit darauf, dass die Menschen an der Abstimmungsurne die Entscheidungsfreiheit vor Augen hatten, nicht das Mitgefühl.
Ich weise auf diesen Umstand nicht etwa hin, um die Ja-Kampagne zu kritisieren, obwohl ich schon finde, dass sie sich bisweilen zu sehr gescheut hat, Selbstbestimmung, Freiheit und Autonomie zu thematisieren. Sie hat das Recht auf Abtreibung zu sehr als rein gesundheitspolitische Angelegenheit behandelt, als Maßnahme, die verzweifelte Frauen benötigen, statt als Recht, das alle selbstbewussten, souveränen Frauen im Vollbesitz ihrer körperlichen und geistigen Kräfte genießen sollten. Ich möchte vielmehr dazu aufrufen, die Wähler nicht zu unterschätzen, nicht davon auszugehen, dass sie weiche, mit politisch korrekten Schlagwörtern bestückte Botschaften brauchen, um ‚richtig‘ zu wählen. Sie sollten vielmehr als Menschen gesehen werden, die Freiheit und Rechte unglaublich ernst nehmen und denen man auch auf dieser Ebene begegnen sollte.
Das irische Votum gegen das Abtreibungsverbot hat mich ziemlich erstaunt und bewegt. Demokratische Botschaften könnten kaum klarer sein: 66,4 Prozent der Menschen haben gegen den Artikel und für eine Stärkung der reproduktiven Rechte und Wahlmöglichkeiten der Frauen votiert. Sogar jene ländlichen Teile Irlands, bei denen die versnobten Dubliner Eliten von einem ‚Nein‘ ausgegangen war – einschließlich Connacht/Ulster, von wo aus ich diesen Kommentar schreibe – haben deutliche Ja-Mehrheiten hervorgebracht. Das lag auch nicht an der von Beobachtern vereinfachend erwarteten Jugendrevolte. Lediglich die über 65-Jährigen stimmten überwiegend für eine Beibehaltung des Verbots (und sogar unter ihnen befürworteten 40 Prozent seine Aufhebung). Alle anderen Altersgruppen sagten Ja zur Abschaffung. Dies war, wie die angesprochene Umfrage zu den Einflussfaktoren ergab, ein landesweiter demokratischer Knall für die Ausweitung der „freien Entscheidung der Frau".
„Trauen wir den Menschen zu, eigene Entscheidungen zu treffen und ihr Leben so zu führen, wie sie es für richtig halten?“
Freie Entscheidung. Darum geht es. Nicht nur bei diesem Referendum und in der Abtreibungsdebatte generell, sondern es ist überhaupt die Frage unserer Zeit. Trauen wir den Menschen zu, eigene Entscheidungen zu treffen und ihr Leben so zu führen, wie sie es für richtig halten? Oder trauen wir es ihnen nicht zu? Die Abtreibungsdebatte dreht sich sehr deutlich um diese Frage, darum, ob Frauen die Entscheidungsgewalt über ihren Körper und das Recht, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden, haben sollten (Spiked und Novo sind davon voll und ganz überzeugt). Doch die Frage des Selbstbestimmungsrechts betrifft noch viel mehr im gegenwärtigen öffentlichen und politischen Leben, oder zumindest sollte sie es.
Von Nudging-Strategien und dem Bevormundungsstaat, über Zensur unerwünschter Meinungsäußerungen bis zu den fortwährenden Einschränkungen des Rechts auf Abtreibung in Großbritannien und anderen Ländern: Viel zu oft wird von Entscheidungsträgern und ihren Hilfstruppen die Notwendigkeit als selbstverständlich angesehen, die Entscheidungen der Menschen einzuschränken, zu steuern oder, um beim politisch korrekten Neusprech zu bleiben, sie informierter zu gestalten. Unterdessen wird das große Ideal der Aufklärung verunglimpft, das in John Stuart Mills Worten besagt, dass jedes Individuum die Souveränität über den eigenen Körper und Geist genießen sollte. Das ist genau das, was uns an den turbulenten, demokratischen Ereignissen in Irland inspirieren sollte. Nicht, dass es sich gegen das alte Irland gerichtet hat. Nicht, dass die Wähler Mitgefühl mit Frauen gezeigt haben (obwohl ich daran keinen Zweifel hege). Nicht, dass es einen Schlag ins Gesicht der katholischen Kirche darstellt. Diese Institution stirbt in Irland schon seit Jahrzehnten vor sich hin: Was brächte es also, auf einen einzutreten, der schon am Boden liegt?
Nein, wir sollten uns von Irland inspirieren lassen, denn es hat viel erreicht für das Selbstbestimmungsrecht, für die Eigenverantwortung. Und zwar als bewusstes Fanal für die Entscheidungsfreiheit, wie die Umfragen zeigen. Das ist der Hauptgrund, wieso die Menschen mit Ja gestimmt haben. Entscheidungsfreiheit. Das sollte das Wort sein, das wir unablässig in den öffentlichen Raum tragen, wenn wir uns staatliche Einmischungen ins Leben von Frauen, Männern, Eltern und allen anderen verbitten und wenn wir uns für die Ausweitung des Rechts, unsere Zukunft selbst zu gestalten, einsetzen.