25.07.2017

Abtreibung vom Stigma befreien

Rezension von Michael Fitzpatrick

Titelbild

Foto: Joanna Malinowska via Freestocks / CC0

Ein neues Buch stellt die moralische Überlegenheit von Abtreibungsgegnern in Frage.

Als ich als Allgemeinmediziner angefangen habe, ähnelte die Durchführung eines Schwangerschaftstests einem Laborexperiment. Man hantierte mit Reagenzgläsern und Pipetten und interpretierte minimale Veränderungen in der Erscheinungsform von chemischen Indikatoren. Obwohl es mühselig war, war ich oft dankbar, weil der aufwändige Vorgang mir die Zeit gab, herauszufinden, welches Ergebnis erwartet würde und wie die Neuigkeiten – wie auch immer sie ausfallen würden –, aufgenommen würden. Natürlich gibt es ein breites Spektrum an Reaktionen auf einen positiv ausfallenden Test. Die Gefühle reichen von Freude und Glück bis zu Angst und Verzweiflung. Der arme Mediziner muss sich auf eine emotionale Achterbahn einstellen. Wie Ann Furedi in ihrem neuen Buch „The Moral Case for Abortion“ (Ein moralisches Plädoyer für die Abtreibung) feststellt, „steht eine Frau, die weiß, dass sie schwanger ist, an einem Scheideweg“. Wenn sie die Schwangerschaft fortführt, wird ihr Leben nicht mehr dasselbe sein. Wenn sie sich aber für einen Abbruch entscheidet, wird das unvermeidbarer Weise ebenfalls Konsequenzen haben.

Der zentrale Punkt in Furedis schlagkräftigem Buch ist: Es kommt auf die Wahlfreiheit an. Eine Frau sollte wählen dürfen, ob sie ein Kind haben möchte oder nicht. Ihre Entscheidung mag anderen nicht unbedingt weise erscheinen, aber es sollte ihre Entscheidung bleiben. Ihre Fähigkeit zu dieser Entscheidung ist der Kern ihrer Menschlichkeit. Jede Beschränkung der Wahlfreiheit einer Frau in dieser Frage ist ein Eingriff in ihre Autonomie, ihre körperliche Integrität, in ihr Menschsein.

Schwangerschaftstests sind heute in jeder Apotheke erhältlich, doch der rechtliche Rahmen für Abtreibungen hat sich in Großbritannien seit dem Schwangerschaftsabbruchgesetz von 1967 nicht verändert. Das Gesetz wurde von vielen Frauen zu Recht als Befreiungsschlag begrüßt. Wirklich liberal war die britische Gesetzgebung jedoch nie. Wie Furedi zeigt, ist sie von eugenischen Vorurteilen beeinflusst und gestattet Abtreibung nur unter „außergewöhnlichen“ Umständen. Jede Frau, die eine Schwangerschaft abbrechen will, muss zunächst ihren Hausarzt und einen weiteren Arzt davon überzeugen, ihrer Entscheidung zuzustimmen. Das Gesetz von 1967 medikalisiert Abtreibungen und reguliert sie strenger als jeden vergleichbaren chirurgischen Eingriff. Es bewahrt und verfestigt das Stigma einer Prozedur, der sich statistisch jede dritte britische Frau unterzieht (die meisten sind in ihren Zwanzigern und die Hälfte ist bereits Mutter).

„Jede Beschränkung der Wahlfreiheit einer Frau in dieser Frage ist ein Eingriff in ihre Autonomie, ihre körperliche Integrität, in ihr Menschsein.“

Furedi rechtfertigt Abtreibung vor allem moralisch. Sie geht damit über die bekannten pragmatischen Argumente von Abtreibungsbefürwortern hinaus und begibt sich in einen Bereich, der normalerweise von Abtreibungsgegnern besetzt wird. Die Autorin weist darauf hin, dass Abtreibungen heutzutage sicher und (vor allem in den frühen Wochen der Schwangerschaft) unkompliziert sind und ruft Abtreibungsbefürworter dazu auf, ihre defensive, apologetische Haltung abzulegen: „Warum fällt es vielen so schwer zu sagen, dass Abtreibung in Ordnung ist?“ Für Furedi ist es wichtig, zwischen dem Leben des Fötus und dem der schwangeren Frau zu unterscheiden und auf dem übergeordneten moralischen Status der Frau zu beharren. Sie argumentiert, dass der Fötus als biologisches Mitglied der menschlichen Spezies Respekt (oder gar Ehrfurcht) verdient. Doch obwohl der Fötus das Potenzial hat, sich zu einer menschlichen Person zu entwickeln, fehlen ihm Bewusstsein und Selbsterkenntnis – Eigenschaften, die für das Menschsein der schwangeren Frau wesentlich sind. Abtreibungsgegner argumentieren gerne, dass Abtreibungsbefürworter dem Fötus seine Menschlichkeit absprechen. Diese Sichtweise, die einem nicht-empfindungsfähigen Wesen einen menschlichen Status zuspricht, würdigt laut Furedi das Menschsein herab.

Furedi beruft sich auf namhafte Denker wie Kant, Mill, Sartre und Dworkin, um ihre Argumente für die individuelle Autonomie und die körperliche Integrität der schwangeren Frau zu untermauern. Sie bezieht dabei sowohl gegen religiöse Konservative als auch gegen postmoderne Feministen Stellung. Abschließend bietet sie ein überzeugendes Plädoyer für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Selbst liberale Auslegungen des Gesetzes von 1967 gehen davon aus, dass eine Abtreibung ein außergewöhnlicher Vorgang ist, der besonderer Erklärung und Rechtfertigung bedarf. „The Moral Case For Abortion“ legt überzeugend dar, warum dies den Prinzipien von Autonomie und Selbstbestimmung widerspricht. Das Buch verdient eine große Leserschaft, nicht zuletzt unter Ärzten, die die Beschränkung von Frauenrechten in diesem wichtigen Bereich viel zu lange geduldet haben.

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