13.07.2015

„Das Leben der Frau ist wichtiger”

Interview mit Ann Furedi

In vielen Ländern sind Schwangerschaftsabbrüche innerhalb einer bestimmten Frist erlaubt bzw. straffrei, auch in Deutschland. Ann Furedi, Geschäftsführerin der britischen Abtreibungsberatung bpas, fordert erlaubte Abtreibungen in jedem Stadium der Schwangerschaft

Marco Visscher: Von einer gesetzlichen Frist, nach der Abtreibungen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt der Schwangerschaft erlaubt sind, halten Sie nichts. Worin liegt ihr Problem damit?

Ann Furedi: Dass Politiker eine Frist bestimmen, bis zu der Abtreibung erlaubt ist, finde ich falsch. Ein Gesetz kann persönlichen Umständen nie hinreichend Rechnung tragen. Die Entscheidung über eine Abtreibung muss der betroffenen Frau und ihrem Arzt überlassen bleiben. Nur sie kennen die Situation der Frau im Einzelnen und nur ihnen obliegt die Einschätzung, was für sie das Beste ist.

Bis zu welchem Zeitpunkt sollen Abtreibungen dann erlaubt sein? Bis zum siebten, achten, neunten Monat?

Mit dem genauen Zeitpunkt beschäftigt man sich geradezu obsessiv. Bei Operationen ist das nicht der Fall: Kein Gesetz legt fest, bis wann eine Herztransplantation erfolgen kann. Die Politik sollte sich bei Abtreibungen heraushalten. Jede Frist ist völlig willkürlich.

Lebensfähigkeit ist doch keine Frage der Willkür?

Lebensfähigkeit gilt nicht unabhängig von Ort, Zeit und Person. Ein 22 Wochen altes Baby kann in der allerbesten Klinik mit geschulten Fachpersonal überleben, keineswegs aber in einem durchschnittlichen Krankenhaus. Umstände sind verschieden. Eine allgemeingültige Grenzlinie, nach der ein Abtreibungsverbot nach 24 Wochen und 2 Tagen gerechtfertigt wäre, nicht aber nach 23 Wochen und 5 Tagen, besteht nicht. Eine rechtliche Frist kann ich nicht akzeptieren. Man muss sich an einem medizinischen Urteil, das auf den Bedürfnissen der Hilfesuchenden basiert, orientieren.

„Ein Fötus ist kein Kind mit festgelegten Rechten“

Hat ein lebensfähiger Fötus keine Hilfe verdient?

Ein Fötus ist doch kein Kind mit festgelegten Rechten – jedenfalls nicht nach dem Gesetz, und wohl auch nicht nach der Auffassung von Frauen und Ärzten. Für Politiker bleibt Abtreibung immer abstrakt und philosophisch, für die betroffenen Frauen aber ist sie eine eilige persönliche und praktische Frage.

Glauben Sie mir, jede Frau will eine Spätabtreibung vermeiden. Das ist äußerst unangenehm, insbesondere, wann man schwanger aussieht und in der Gebärmutter bereits Bewegungen spürt. Man nimmt der Einfachheit halber an, dass eine Frau, die eine Spätabtreibung will, verantwortungslos gewesen war. Das ist Unsinn. Es geht i.d.R. um Frauen, die mit der Schwangerschaft noch stark zu kämpfen haben oder deren persönliche Umstände sich während der Schwangerschaft verändert haben. Diese Frauen verdienen mehr Zeit, um eine gute Abwägung treffen zu können.

Eine Spätabtreibung ist nicht nur „unangenehmer“, sondern auch riskanter.

Das ist wahr. Die Risiken einer Abtreibung nehmen im Verlauf einer Schwangerschaft zu. Bei einer Spätabreibung in einer guten klinischen Umgebung sind sie aber immer noch äußerst gering.

Es scheint, es wollten Sie Abtreibung normalisieren.

Ja, selbstverständlich will ich das. Abtreibung ist eben völlig normal. In England unterzieht sich jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens einer Abtreibung. Das muss nicht jeder gutheißen, aber so geschieht es nun einmal in einer modernen Gesellschaft. Man weiß doch, wie wir mit allen möglichen Mitteln Einfluss auf unsere Fruchtbarkeit nehmen, um ungewünschten Schwangerschaften aus dem Weg zu gehen: Pille, Spirale, Kondom, Pille danach, und – wenn alles scheitert – Abtreibung. Aber durch die gesetzlichen Beschränkungen im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen werden Frauen, die um eine Abtreibung ersuchen, diskriminiert.

„Durch die gesetzlichen Beschränkungen werden Frauen diskriminiert“

Bereiten Ihnen die zunehmen Abtreibungen bei Teenagern Sorgen?

Dabei handelt es sich um eine relativ kleine Gruppe. Zu unserer Organisation, der bpas, kommen mehr Frauen über 40 als unter 16. Sorgen habe ich eher bei Frauen, die in einer relativ fortgeschrittenen Phase ihrer Schwangerschaft abtreiben wollen. So habe ich von einer Frau gehört, die ihren Mann bei einer Affäre mit ihrer besten Freundin ertappt hat. Oder vom Fall einer Mutter, deren Sohn – mit Down-Syndrom – sich einer Herzoperation zu unterziehen hatte. Sie glaubte zunächst, die Schwangerschaft bewältigen zu können, merkte dann aber, dass sie erst nach der Operation wieder in der Lage war, sich um sich selbst zu kümmern.

Das Leben kann unglaublich kompliziert sein. Deshalb funktionieren Fristen nicht. Man kann einer Frau, die in einer späten Phase eine Abtreibung vornehmen lässt, für die gefühlskälteste und unmoralischste Person der Welt halten, man darf aber auch annehmen: Nun, dann wird sie wohl einen verdammt guten Grund haben.

Ärzte und Krankenschwestern, die späte Schwangerschaftsabbrüche durchführen, finden solche Eingriffe furchtbar.

Selbstverständlich. Leider sind nicht viele dazu bereit. Ich bin schon mal dabei gewesen, wahrlich nicht zum Vergnügen, sondern weil ich es für meine Arbeit wichtig fand. Aber wissen Sie, was noch schwieriger ist? Einer Frau mitteilen zu müssen, dass es zu spät für eine Abtreibung ist. Ein Schwangerschaftsabbruch mag furchtbar sein, letzten Endes aber hat man jemandem geholfen, der das so wollte. Mehrfach mussten wir eine Frau wieder wegschicken, weil sie der nach 24-wöchigen Frist in Großbritannien erschienen war. „Entschuldigen Sie, gnädige Frau, Sie sind zu spät.“ Ich wünschte, wir könnten auch diesen Frauen helfen. Die Politik sollte Frauen das Treffen vernünftiger Entscheidungen stärker zutrauen. Und den Ärzten sollte sie auch das Vertrauen entgegenbringen, dass diese ernsthaft und umsichtig damit umgehen.

„Ich setze mich nicht für Abtreibungen ein, sondern für die Freiheit, selbst zu entscheiden“

Nicht alle handeln so vernünftig, man denke an die amerikanische Frau, die 2009, als „Octo-Mom“ unbedingt Achtlinge zur Welt bringen wollte.

Ja, das fand ich auch ziemlich dämlich. Trotzdem würde ich sie nicht in den OP-Saal zerren wollen, um ihr eine Abtreibung aufzuzwingen, die sie nicht will. Manche treffen schlechte Entscheidungen, das gehört dazu. Es geht aber nicht darum, was wir davon halten, sondern darum, das sie selbst entscheiden können. Ich setze mich nicht für Abtreibungen ein, sondern für die Freiheit der Frauen, selbst eine Wahl treffen zu können.

Was halten Sie von der Position, dass man menschliches Leben in der Gebärmutter unter keinen Umständen beenden darf?

Auch wenn es Sie vielleicht überrascht: Davor habe ich Respekt. Ich halte nichts davon, wenn sich Abtreibungsaktivisten despektierlich über Leben in der Gebärmutter auslassen. Wissen Sie, nach ein paar Wochen schlägt schon das Herz und die DNS weicht von der der Mutter ab. Bei einer Abtreibung beenden wir ein Leben voller Potential. Dessen bin ich mir sehr bewusst. Ich habe größere Achtung vor prinzipiellen Abtreibungsgegnern – die Leben, egal wie früh, wertvoll oder heilig finden – als vor denjenigen, die Abtreibungen nur innerhalb einer bestimmten Frist erlauben wollen. Die erste Position weist zumindest eine intellektuelle und moralische Konsistenz auf.

Sie lehnen diese Auffassung aber ab.

Ja. Für mich stellt sich nicht die Frage, ob Leben heilig ist oder ein Fötus lebensfähig. Nach meiner Überzeugung macht eine Person viel mehr aus als ein schlagendes Herz oder ein einzigartiges Genom. Zwischen einem Organismus in der Gebärmutter, dem sein Wachstum noch bevorsteht, und jemandem, der sich seines Lebens bewusst ist, der eine Geschichte hat, der seine Umgebung und sich selbst kennt, der Träume für die Zukunft hat, besteht ein enormer Unterschied. Daher muss die Frage lauten: Welches Lebens ist wichtiger? Für mich ist das eindeutig.

Sie meinen das Leben der Frau.

Definitiv. Es gehört zu ihrem Leben, moralische Entscheidungen zu treffen – das macht uns Menschen aus. Wenn wir also eine Frau als moralisches und rationales Wesen betrachten, liegt die Entscheidung über Schwangerschaftsfortsetzung oder -abbruch bei ihr. Wenn man dagegen einwendet, dass jedes Lebens heilig sei, kommen wir nie zusammen. Damit kann ich leben. Ich finde es jedoch verwerflich, Abtreibung nur zu erlauben, wenn der Fötus noch nicht allzu sehr einem Baby ähnelt. Entsetzlich, wie oberflächlich Menschen sein können.

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