26.05.2009
Abtreibungswillige Frauen – ein Fall für den therapeutischen Staat?
„Wir haben abgetrieben! 374 deutsche Frauen halten den § 218 für überholt und erklären öffentlich: Wir haben gegen ihn verstoßen!“ So lautete die provokative Aufmachung der Titelseite des Stern aus dem Jahre 1974. Nun, 35 Jahre später, ging es wieder um das Thema Abtreibung.
Diesmal hat der Bundestag beschlossen, die Regeln für Spätabtreibungen zu verschärfen. Proteste oder öffentliche Bekenntnisse blieben aus. Die neuen Regeln besagen u.a., dass Ärzte abtreibungswillige Frauen in eine ergebnisoffene, psychosoziale Beratung vermitteln müssen.
Die Fronten in der Debatte der 70er-Jahre waren klar: Für oder gegen die Abschaffung des § 218 einzutreten hieß, sich für oder gegen die Emanzipation der Frau zu bekennen. Wer sich dem progressiven Lager zugehörig fühlte, stimmte mit den „Abtreibungsbefürwortern“. Ganz anders die jüngste Debatte: Zu den Befürwortern einer Gesetzesverschärfung gehörten. auch „feminismusverdächtige“ Frauen wie Andrea Nahles oder Renate Schmidt. Die Debatte sei keine Auseinandersetzung von Feministinnen gegen Lebensschützer, so Schmidt.
Aber warum nicht? Waren die Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Lagern nicht wichtig und richtig? Und vor allem: Worum ging es in der jüngsten Bundestagsdebatte eigentlich? Die Initiatorin der Gesetzesänderung, Kerstin Griese (SPD), sagte zu Beginn der Abstimmung, es ginge darum, die Frauen besser zu beraten. Damit wird eine Gesetzesverschärfung verbal positiv verpackt. Wer könnte schon gegen „bessere“ Beratung sein? Wozu dann aber schärfere Gesetze? Wer eine Spätabtreibung möchte oder braucht, befindet sich in einer schwierigen Lage. Doch keiner kann behaupten, Frauen stünden in einer solchen Situation nicht schon heute genügend Beratungs- und Hilfsangebote zur Verfügung.
Die Begründung zeigt die Verlogenheit der Debatte. Mir wären ein paar „alte Feministinnen“ im Bundestag sehr lieb gewesen. Vielleicht hätten sie sich gegen den Trend, Frauen als therapie- und beratungsbedürftige Wesen darzustellen, gewandt? Dies nämlich war der eigentliche Tenor der Debatte. Frauen kämpften einst dafür, als selbst bestimmte Bürger wahrgenommen zu werden. Ihnen ging es darum, klar zu stellen, dass sie schwierige Lebensentscheidungen selber treffen können. Der Staat hatte dabei keine Rolle zu spielen. Ganz anders die Sicht auf den Bürger heute: Mit dem neuen Gesetz sollen möglichst alle Frauen, nicht nur solche, die dies wünschen, zu einer „psychosozialen“ Beratung gedrängt werden. Das neue Zeitalter des „therapeutischen Staats“ hat auch die Abtreibungsdebatte erreicht!
Während sich die einen vor den „Therapiekarren“ spannen ließen, ging es den Initiatoren des Gesetzes allerdings doch auch um den Lebensschutz. So klagte Griese vor einigen Wochen, man müsse sich in Deutschland unterdessen schon rechtfertigen, wenn man sich für ein behindertes Kind entscheide. Das stimmt natürlich ebenso wenig wie die Behauptung, es gebe zu wenig Beratungsangebote. Tastsächlich entscheiden sich in Deutschland mehr Frauen für eine Abtreibung als für die Austragung eines möglicherweise behinderten Kindes. Doch auch hier gilt: Sie tun dies nicht, aus Mangel an Informationen, Angst, Einschüchterung, Leichtfertigkeit oder gar Dummheit, sondern weil sie sich ein Leben mit einem behinderten Kind schwer vorstellen können.
Wenn Politiker mit den tatsächlich getroffenen Entscheidungen ihrer Bürger unzufrieden sind, sollten sie die Aufrichtigkeit haben, dies ehrlich zu sagen. Doch statt sich der Debatte zu stellen, greifen die Lebensschützer zur Keule des Gesetzes. Die von Griese und ihren Unterstützerinnen geführte Debatte über Spätabtreibung wirkt auf mich weit schlimmer als die Kampagnen der Lebensschützer. Ähnlich wie ihre Gegner, die Feministinnen, hatten die alten Lebensschützer wenigsten den Mut, sich offen der moralischen Debatte zu stellen.