02.10.2023
Diversität ist kein Wert an sich
Von Frank Furedi
Vielfalt, heute oft Diversität genannt, wird zunehmend propagiert, vor allem an Universitäten. Vielfältige seien homogenen Gruppen überlegen. Dieser Ansatz führt zu Intoleranz und Autoritarismus.
In den letzten 50 Jahren hat sich Diversität als bevorzugter Wert des westlichen politischen und kulturellen Establishments herauskristallisiert. Es gibt eine wachsende Tendenz, Diversität zu heiligzusprechen, und Loyalitätsbekundungen ihr gegenüber sind zu einem wiederkehrenden Ritual zahlreicher öffentlicher und privater Institutionen geworden. Internationale und globalistisch orientierte Organisationen stehen an vorderster Front, wenn es darum geht, die Diversität als grundlegenden Wert für die Gesellschaft zu bewerben. Wie die Unesco es formuliert, „ist Diversität die Essenz unserer Identität". Für die Unesco besteht das Hauptverdienst von Diversität darin, dass sie die Pluralisierung der kulturellen Identität und der Unterschiede feiert und damit eine Gegenerzählung zur Wertschätzung von Nation und nationaler Souveränität bietet. Auf diese Weise zielen internationale Organisationen darauf ab, die Autorität des Nationalstaates zu schwächen.
Die Unesco und andere internationale Organisationen stellen Verschiedenheit und Diversität als moralisch höherwertig gegenüber einer homogenen Gesellschaft dar. Seit den 1950er Jahren wird systematisch versucht, den moralischen Status von homogenen Gemeinschaften und Nationen zu diskreditieren. Gemeinschaften und Einzelpersonen, die die Diversitätsagenda ablehnen, werden häufig als psychisch schwach, ängstlich gegenüber anderen und zunehmend als fremdenfeindlich dargestellt.
Ursprünglich war die Sakralisierung von Diversität eine Reaktion auf die irrige Assoziation von Nationalbewusstsein mit den schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Der Nationalismus wurde als Hauptursache für diese Katastrophe hingestellt, und alle Formen der nationalen Zugehörigkeit – sogar der Patriotismus – wurden als Vorläufer des Faschismus kritisiert. In ihrer berühmten „Studien zum autoritären Charakter“ versuchten die Autoren, die der sozialwissenschaftlich einflussreichen Frankfurter Schule angehören, Diversität als Gegenmittel zur Identifikation der Menschen mit ihrer Nation darzustellen.
„Seit den 1980er Jahren dient Diversität als Medium für die Förderung der kulturellen Identitätspolitik und des Multikulturalismus.“
Die „Studien zum autoritären Charakter“ spielten eine wichtige Rolle dabei, dem Bestreben der Menschen, mit ihresgleichen zusammenzuleben, eine negative normative Konnotation zuzuweisen. Die Schlussfolgerung, die sie zogen, bestand darin, dass das „Bedürfnis nach Homogenität" eine wichtige psychologische Schwäche darstelle. Es wurde als ein Symptom einer autoritären Persönlichkeit dargestellt.1 Die Autoren der Frankfurter Schule bildeten einen moralischen Gegensatz zwischen Menschen, die sich zur Diversität hingezogen fühlen, und solchen, die sie ablehnen:
Dogma der Diversität
„Es ist vielleicht vor allem die Bereitschaft, Unterschiede und Diversität einzubeziehen, zu akzeptieren und sogar zu lieben, im Gegensatz zu dem Bedürfnis, klare Abgrenzungen vorzunehmen sowie Über- und Unterlegenheit festzustellen, das als grundlegendes Unterscheidungskriterium der beiden gegensätzlichen Muster bestehen bleibt. Mitglieder einer Outgroup, die Abweichungen von den kulturellen Normen der Ingroup darstellen, sind für diejenigen am bedrohlichsten, die die kulturellen Normen als absolut betrachten, um sich sicher fühlen zu können.“2 Die Autoren fügten hinzu, dass „es den Rahmen dieses Bandes sprengen würde, die Determinanten dieses Bedürfnisses nach Homogenität und Einfachheit in allen Lebensbereichen vollständig zu ermitteln".
Nach Ansicht der Autoren der „Studien zum autoritären Charakter“ ist die Ablehnung von Diversität mehr als nur ein Charakterfehler, sie stellt eine schädliche und potenziell autoritäre Eigenschaft des Einzelnen dar. Ab diesem Punkt wurde die Heilung der Menschen von ihrem irrationalen Bedürfnis nach Homogenität und die Ermutigung, die Diversität zu lieben, zu einem Projekt des Social Engineering.
Die Autoren des „autoritären Charakters“ behaupteten, dass der moralische Gegensatz, den sie zwischen Diversität und Homogenität aufbauten, wissenschaftlich fundiert sei. In Wirklichkeit war es eine ideologische Feindseligkeit gegenüber den Idealen der nationalen Souveränität, des Patriotismus und der Tradition, die sie dazu bewegte, Homogenität als toxisch darzustellen. Dass dieser moralische Gegensatz von den herrschenden Institutionen der westlichen Gesellschaft so weitgehend akzeptiert und verinnerlicht wurde, zeugt von deren philosophischem und intellektuellem Analphabetismus. Warum? Weil Homogenität und Diversität keine moralischen Kategorien sind, sondern deskriptive Begriffe.
Diversität hat keinen intrinsischen Wert. Diejenigen, die behaupten, dass es unsere intrinsischen Unterschiede sind, die uns wertvoll machen, äußern lediglich eine subjektive Vorliebe für Unterschiede. Unsere Unterschiede sind nicht wertvoller als unsere Gleichartigkeit. Die Frage, ob man lieber mit unterschiedlichen oder ähnlichen Menschen zusammen ist, hat keine moralische Bedeutung. Das Projekt, Diversität in einen Wert umzuwandeln, wird in erster Linie von einer ideologischen Entfremdung von lokaler, gemeinschaftlicher Solidarität und einer Identität, die sich von einer Nation ableitet, angetrieben. Seit den 1980er Jahren dient Diversität als Medium für die Förderung der kulturellen Identitätspolitik und des Multikulturalismus.
„Die Förderung der Diversität hat die soziale Polarisierung weiter vorangetrieben.“
Diese Förderung der Diversität hat die soziale Polarisierung weiter vorangetrieben. Die Politik der Diversität hat die Fossilisierung verschiedener Identitäten gefördert, da unterschiedliche Gruppen versuchen, sich in einem Wettstreit gegen andere zu positionieren. Paradoxerweise hat die Diversität zwischen verschiedenen Gruppen die Homogenisierung der Identität innerhalb dieser Gruppen gefördert. Perverserweise hat die Fetischisierung von Unterschieden zu deren Naturalisierung geführt. Von den Mitgliedern einer Gruppe wird erwartet, dass sie sich über dieselbe Identität definieren. Auf diese Weise hat sich die Diversität und das Feiern von Unterschieden mitschuldig gemacht an der Duldung von Intoleranz und Autoritarismus innerhalb von Identitätsgruppen.
Der enge Zusammenhang zwischen Intoleranz und Diversität wurde in den 1990er Jahren von dem politischen Theoretiker Christopher Lasch hervorgehoben. Er stellte fest, dass „sich in der Praxis herausstellt, dass Diversität einen neuen Dogmatismus legitimiert, bei dem rivalisierende Minderheiten sich hinter einer Reihe von Überzeugungen verschanzen, die für rationale Diskussionen unzugänglich sind".3 Und er warnte davor, dass Diversität zu einer „physischen Segregation der Bevölkerung in in sich geschlossene, rassisch homogene Enklaven führen könnte, die ihr Gegenstück in der Balkanisierung der Meinungen hat". Genau so hat sich der von Diversität geleitete Multikulturalismus entwickelt. Homogene Enklaven führen zu einer Balkanisierung des öffentlichen Lebens und der öffentlichen Meinung.
Die zersetzenden Auswirkungen der Diversitätspolitik auf die Solidarität sind nicht das einzige Problem im Zusammenhang mit der Förderung des Multikulturalismus. Die Sakralisierung der Identität hat auch die Freiheit der Meinungsäußerung untergraben. In vielen Teilen der westlichen Welt geht die Förderung der Diversität auf Kosten der Ausübung der Freiheit.
Vielfalt statt Freiheit an Unis
In den letzten Jahren haben zahlreiche Einrichtungen beschlossen, dass Diversität als Wert so grundlegend ist, dass er nicht in Frage gestellt werden kann. Dieses Denken ist vor allem in den Hochschulen weit verbreitet. Viele Universitäten haben beschlossen, dass der Wert der Diversität den Wert der Redefreiheit und der Wissenschaftsfreiheit übertrumpft. Wenn diverse Gruppen Einwände gegen eine Aussage erheben, können diejenigen, die sie machen, rechtmäßig zum Schweigen gebracht werden.
Einige Universitätsspitzen argumentieren ausdrücklich, dass Meinungsfreiheit und Diversität widersprüchliche Werte darstellen können. In zahlreichen offiziellen Erklärungen argumentieren Verantwortliche, dass die freie Meinungsäußerung eine Gefahr für das Wohlergehen neuer Gruppen von nicht-traditionellen und Minderheiten angehörenden Studenten darstellt. Michael Roth, Präsident der Wesleyan University, schrieb, dass die Universitäten in der Vergangenheit „weit weniger vielfältig waren als heute" und „es viele Stimmen gab, die niemand von uns zu hören bekam". Roths Aussage impliziert, dass die Ausübung der Meinungsfreiheit in der Vergangenheit dazu gedient haben könnte, die Stimmen von Minderheitengruppen zum Schweigen zu bringen.
Die Überzeugung, dass Redefreiheit und Diversität widersprüchliche Werte sind, ist von den Universitätsverwaltungen verinnerlicht worden und beherrscht die gesamte Universitätskultur. Man behauptet, dass die Freiheit entweder „ausbalanciert" oder zugunsten von „Diversität" abgeschwächt" werden müsse. „Ich finde, es ist definitiv ein Balanceakt", bemerkt Gale Baker, Beraterin der Leitung der California State University. Für sie stehen „offene und freimütige Diskussionen und freie Meinungsäußerung" „im Widerstreit" zu dem „Wert, eine vielfältige und integrative Gemeinschaft zu wollen".
„Es ist leichter, eine Gesellschaft zu beherrschen, die aus konkurrierenden kulturellen Gruppen besteht, als eine Öffentlichkeit, die durch ein gemeinsames Bekenntnis zur Nation geeint ist.“
In der heutigen Zeit führt die Aufforderung, „ein Gleichgewicht zwischen freier Meinungsäußerung und „Diversität" herzustellen, unweigerlich zu der Schlussfolgerung, dass die erstere der letzteren weichen muss. Universitätsleitungen setzten sich zunehmend für Diversität ein und messen der Meinungsfreiheit in vielen Fällen wenig Wert bei. Dass die Diversität dominiert und Meinungsfreiheit bestenfalls die zweite Geige spielt, zeigt sich eindrucksvoll in der Art und Weise, wie die Universitätsleitbilder und -erklärungen abgefasst sind.
Nehmen wir die Erklärung von Kanzler Ronnie Green von der University of Nebraska-Lincoln, in der er die neuen Studenten zum Studienjahr 2016/17 auf dem Campus willkommen hieß. In der Erklärung findet der Wert der Meinungs- oder der Wissenschaftsfreiheit keine Erwähnung. Zwar wird Meinungsfreiheit am Rande genannt, doch dient sie nur dazu, Diversität als Wert zu feiern. Für Green ist der Glaube an Diversität keine Option – er ist absolut obligatorisch. Wie er es ausdrückt, sind „unsere Überzeugungen zu Diversität und Inklusion […] nicht verhandelbar". Seine Aufforderung, sich anzupassen, erinnert an das illiberale und autoritäre Klima, das traditionellerweise mittelalterliche Priesterseminare prägte.
Es verdient Erwähnung, dass die Grundwerte der Universität von Nebraska-Lincoln – wie die vieler anderer Hochschulen – zwar die Diversität, nicht aber die Meinungsfreiheit beinhalten. Auf die Erwähnung des Bekenntnisses zur Meinungsfreiheit im Leitbild folgt unmittelbar die Klausel, dass „wir Worte und Handlungen des Hasses und der Respektlosigkeit nicht dulden". Der Umstand, dass das angebliche Bekenntnis zur freien Meinungsäußerung und die Intoleranz gegenüber Worten des Hasses im selben Satz enthalten sind, vermittelt eine implizite Verbindung von freier Meinungsäußerung und Hass.
Die Verabsolutierung des Wertes Diversität wird von den herrschenden Eliten der westlichen Gesellschaft weitgehend unterstützt. Sie befürworten Diversität und kulturellen Pluralismus, weil ihnen das die Aufgabe zuteilt, konkurrierende Interessen zu verwalten. In einer Zeit, in der sich die herrschende Klasse in einer Legitimationskrise befindet, verleiht ihr die Notwendigkeit, Diversität zu managen, eine Existenzberechtigung. Es ist leichter, eine Gesellschaft zu beherrschen, die aus konkurrierenden kulturellen Gruppen besteht, als eine Öffentlichkeit, die durch ein gemeinsames Bekenntnis zur Nation geeint ist. Eine fragmentierte und polarisierte Öffentlichkeit hilft den Machthabern, ihre Hegemonie auszuüben. Daher rührt ihre Wertschätzung für Diversität.