14.02.2025
Die Weigerung, Juden als Opfer zu sehen
Von Brendan O’Neill
Nicht einmal der Anblick der drei jüngst freigelassenen, abgemagerten Hamas-Geiseln reicht aus, um das weit verbreitete Weltbild von Israel als dem Bösen zu erschüttern.
Am Samstag klangen mir die Worte des großen sowjetischen Schriftstellers Wassili Grossman in den Ohren: „Sagt mir, wessen ihr die Juden beschuldigt, und ich sage euch, wessen ihr schuldig seid“. Denn als diese drei Juden, körperlich extrem geschwächt, dünn wie Skelette und von Terroristen verschleppt, nach 16 Monaten Knechtschaft in Gaza endlich die Freiheit genossen, wurde klar, dass die Hamas sich genau des Verbrechens schuldig gemacht hat, dessen sie den jüdischen Staat beschuldigt: Hunger. Hunger als Kriegswaffe. Die erniedrigende Unterernährung von Menschen, die als minderwertig angesehen werden. „Die Juden lassen uns verhungern“, schrie die Hamas in den letzten Monaten, während sie in Wirklichkeit die Juden verhungern ließ.
Die Szenen waren erschreckend, als wohlgenährte und schwer bewaffnete Hamas-Kämpfer Eli Sharabi, Or Levy und Ohad Ben Ami der Öffentlichkeit vorführten. Ihre 491 Tage in Gefangenschaft der neofaschistischen Miliz waren zweifellos die Hölle. Auf seiner Instagram-Seite veröffentlichte Israel Bilder der Männer vor und nach ihrer Entführung. Aus drei gesunden, braungebrannten Männern waren hagere Gestalten geworden. In den feuchten Tunneln der Hamas hatten sie weder Nahrung noch Sonnenlicht bekommen – Dinge, die Leben erst möglich machen. Die Freude der Angehörigen wich dem Entsetzen. „Er sieht aus wie ein Skelett“, sagt Ben Amis Mutter.
Die Unmenschlichkeit der Hamas setzte sich auch bei der Freilassung der Männer fort. Es gab einen zutiefst beunruhigenden Moment, als Eli Sharabi, flankiert von Hamas-Schergen, in ein Mikrofon sagte, er freue sich darauf, seine Frau und seine Töchter wiederzusehen. Wie die Hamas sehr wohl wusste, waren seine Frau und seine Töchter tot. Sie wurden während des Pogroms vom 7. Oktober von militanten Hamas-Kämpfern erschossen, die in ihr Haus eindrangen und „Stirb, Israel“ riefen. Ihre Leichen wurden „aneinander gekuschelt“ aufgefunden. Die Tatsache, dass Hamas-Aktivisten zusehen, wie ein Mann, den sie ausgehungert haben, seine Hoffnung zum Ausdruck bringt, seine Familie wieder zu sehen, die sie abgeschlachtet haben, zeugt von ihrer abgrundtiefen moralischen Verkommenheit.
Es ist eine unvorstellbare Grausamkeit. Man muss Jahrzehnte zurückgehen, um vergleichbare Akte vorsätzlicher Grausamkeit gegen eine jüdische Familie zu finden. Sharabis Frau Lianne war britische Staatsbürgerin. Sie stammte aus Wales. Ihre Töchter, erst 13 und 16 Jahre alt, waren walisisch-israelischer Abstammung. Das Schweigen der europäischen „Progressiven“ angesichts des Massakers der Hamas an diesen Frauen, die nur aus dem Grund getötet wurden, dass sie Juden in Israel waren, ist entsetzlich.
„Es ist alarmierend, dass das liberale Gewissen des Westens von den Bildern abgemagerter Juden, die aus der Gefangenschaft bewaffneter Antisemiten befreit werden, nicht berührt zu sein scheint.“
Auch der 34-jährige Or Levy wusste nicht, dass seine Frau tot war: Sie wurde zusammen mit 363 anderen auf dem Nova-Musikfestival ermordet. Diese Männer wurden 16 Monate lang ihrer Freiheit beraubt und dann in unvorstellbares Leid und Trauer entlassen.
Doch die Tugendhaften des Westens schauen lieber weg. Was hören wir von den vielen selbsternannten Antifaschisten zu diesen faschistischen Gräueltaten? Eine bürgerliche Linke, die „Black Lives Matter“ sagt, muss uns erst noch erklären, ob sie auch das Leben dieser jüdischen Männer und ihrer Familien für wichtig erachtet. Es ist alarmierend, dass das liberale Gewissen des Westens von den Bildern abgemagerter Juden, die aus der Gefangenschaft bewaffneter Antisemiten befreit werden, nicht berührt zu sein scheint. Es scheint, dass selbst Verbrechen, die an die dunkelsten Momente des 20. Jahrhunderts erinnern, nicht ausreichen, um die Frivolität und den Narzissmus unserer Zeit zu durchbrechen.
Nach der Freilassung dieser geschundenen Männer gab es noch etwas Schlimmeres als moralische Gleichgültigkeit – es gab moralische Ablenkung. Anti-Israel-Aktivisten füllten die sozialen Medien mit Bildern von freigelassenen palästinensischen Gefangenen. Keiner sah auch nur annähernd so schlimm aus wie die drei Israelis, aber die Botschaft war so klar wie unheilvoll: „Kümmert euch nicht um die Juden, schaut auf diese Palästinenser.“ So versuchen sie, wie die Propagandisten der Nazis, die Aufmerksamkeit der Welt von den Verbrechen einer faschistischen Armee abzulenken.
Die BBC konnte es sich nicht verkneifen, eine moralische Gleichsetzung von Hamas und Israel zu unterstellen. Nach der Freilassung der drei Israelis erklärte sie, es gebe „Besorgnis über den Zustand der Geiseln auf beiden Seiten“. Geiseln? Es ist ein Skandal, dass unser öffentlich-rechtlicher Sender palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen, von denen sich einige extremer Gewalttaten schuldig gemacht haben, als „Geiseln“ bezeichnet. Später nahm der Sender seine Äußerungen zurück und korrigierte sie im Fernsehen.
„Die Israelfeindlichkeit ist in einflussreichen Kreisen so stark geworden, dass sie sogar bereit sind, die Juden ihrer Ideologie zu opfern.“
Auch deutsche Medien wie der Spiegel sahen sich nicht in der Lage, über den schockierenden Zustand der drei Geiseln zu berichten, ohne darauf hinzuweisen, dass auch „freigelassene Palästinenser über die schlechte Versorgung in den Gefängnissen klagten“. Man kann die Gedankengänge dieser Journalisten fast hören: „Die Leute sympathisieren zu sehr mit Israel – los, schnell noch auf das palästinensische Leid hinweisen“.
Es ist, als seien Teile unserer meinungsbildenden Schichten der Empathie mit Israelis gegenüber instinktiv abgeneigt. Die Empathie macht sie nervös. Sie droht ihr moralisch infantiles Narrativ von Israel als dem bestialischsten aller Staaten und den Palästinensern als dem unterdrücktesten aller Völker ins Wanken zu bringen. Deshalb versuchen sie, das öffentliche Mitgefühl zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass selbst das dystopische Bild von Juden, die von eingeschworenen Judenhassern ausgehungert werden, durch den Hinweis darauf konterkariert wird, dass es auch den Palästinensern schlecht gehe. Es gibt eine „seltsame Abneigung, Juden als Opfer zu sehen“, schreibt die Journalistin Hadley Freeman. Die Juden, als einzige unter den Minderheiten, werden rücksichtslos ihres Opferstatus beraubt, in diesem Fall, um das selbstgefällige Narrativ der kulturellen Eliten über das problematische Israel und das gottverlassene Palästina aufrechterhalten zu können.
Die beunruhigende Realität ist, dass es unter uns Menschen gibt, die diese drei misshandelten Juden nicht als brutal behandelte Menschen sehen, die unsere Solidarität verdienen, sondern als unwillkommene Störfaktoren in ihrer kindischen Moralgeschichte über Israel/Palästina: als ärgerliche Erinnerung daran, dass die Dinge komplizierter sind, als man uns glauben machen will. Als nackter Beweis für die von der Hamas begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die den Krieg ausgelöst haben, den unsere kulturellen Eliten schamlos Israel in die Schuhe schieben. Die Israelfeindlichkeit ist in einflussreichen Kreisen so stark geworden, dass sie sogar bereit sind, die Juden ihrer Ideologie zu opfern. Lieber verhindern sie die Solidarität mit den geschundenen und ungerecht behandelten Israelis, als ihr simples Narrativ der Frechheit einer Differenzierung auszusetzen. Früher schaute man wenn Juden entmenschlicht wurden, weg, um die eigene Haut zu retten – heute schaut man weg, um die eigene falsche Tugend zu retten.
Wir leben in einer Zeit größter moralischer Umkehrung. Niemand bezweifelt, dass die Palästinenser in Gaza durch den von der Hamas begonnenen Krieg enorm leiden. Dazu gehört auch Unterernährung, eine Geißel, die jeden Krieg in der Geschichte begleitet hat. Doch immer wieder wird Israel genau der Verbrechen beschuldigt, die von der Hamas begangen werden. Es wird als faschistisch bezeichnet, obwohl es in Wirklichkeit von einer neofaschistischen Armee angegriffen wurde. Es wird als völkermörderisch bezeichnet, obwohl es die Hamas ist, die mit der völkermörderischen Absicht gegründet wurde, die einzige jüdische Nation der Welt zu vernichten. Es wird beschuldigt, die Palästinenser vorsätzlich auszuhungern – von einer Terrorgruppe, die Juden vorsätzlich ausgehungert hat. Sagen Sie uns, wessen Sie den jüdischen Staat beschuldigen, und wir sagen Ihnen, wessen Sie schuldig sind.