07.10.2024

Vom Antisemitismus reden, vom Islam schweigen?

Von Mark Feldon

Titelbild

Foto: rajatonvimma via Flickr / CC BY-SA 2.0

Wenn Antisemitismus in einem Atemzug mit „Islamfeindlichkeit“ genannt wird, verschleiert das die Problemlage. Es lenkt vom zunehmenden Judenhass in Deutschland ab.

Eine Welle des Antisemitismus erfasste Deutschland nach dem Pogrom des 7. Oktober. Dagegen wurden Artikel verfasst, Veranstaltungen organisiert und Programme entwickelt. Sehr häufig verbanden diese jedoch inhaltlich und ihrer Bezeichnung den Hass auf Juden mit „Islamophobie“. Warum ist das so?

Antisemitismus und Islamfeindlichkeit sind weit verbreitet“ titelt Zeit Online, „Mehr Antisemitismus, mehr Islamfeindlichkeit“ die Frankfurter Rundschau und die taz schlicht „Antisemitismus und Islamophobie“. Das Bundesministerium für Familie, Senioren und Jugend finanziert das Modellprojekt „Couragiert! Gemeinsam gegen Antisemitismus und Islam- und Muslimfeindlichkeit“ und die Deutsche Islamkonferenz lädt zur Tagung „Gemeinsam gegen Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit“. Die Freie Universität Berlin verurteilt „Antisemitismus, Rassismus, Muslimfeindlichkeit und andere Formen von Diskriminierung“ und das Zentrum für Antisemitismusforschung organisiert die Konferenz „Feindbild Muslim – Feindbild Jude“. Das Berliner Abgeordnetenhaus wünscht sich eine Kommission, die sich mit „Rassismus, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit“ auseinandersetzt und der SPD-Abgeordnete Raed Saleh fordert, neben dem Kampf gegen Antisemitismus auch den „Kampf gegen Islamophobie“ in die Landesverfassung aufzunehmen. Auch die Autoren des vom Innenministerium veröffentlichten Berichtes „Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz“ vergleichen Antisemitismus und Islamophobie und fordern eine Änderung des Grundgesetzes.

Das Feiern des Pogroms vom 7. Oktober 2023 durch die mittlerweile verbotene Gruppe „Samidoun“ (die 2018 an der #unteilbar-Demonstration gegen Rassismus teilnahm) läutete eine Welle antisemitischer Übergriffe ein, die bis heute anhält. Es gab Brandanschläge auf das Jüdische Gemeindezentrum in Berlin-Mitte und auf Synagogen in Erfurt und Oldenburg. Es gab Angriffe auf einen Rabbiner in Berlin, jüdische Besucher einer Gedenkstätte in Frankfurt/Main, Teilnehmer pro-israelischer Kundgebungen in Hamburg, Chemnitz, Berlin, auf einen jüdischen Studenten in Berlin-Mitte, einen israelischen Touristen und einen Juden vor der Münchner Hauptsynagoge. Ein Messerattentat auf Synagogenbesucher in Heidelberg, einen Terroranschlag durch Hamas-Anhänger in Hamburg und einen – vermutlich vom Iran in Auftrag gegebenen – Anschlag auf jüdische Personen in München konnten Sicherheitsbehörden vereiteln.

Jüdische und israelische Restaurants wurden entweder Opfer von Vandalismus oder Boykott-Kampagnen. „Bleibergs“ musste nach 20jährigem Bestehen schließen, „DoDa’s Deli“ seinen Standort verlegen, „Kanaan“ wurde verwüstet. Das Chemnitzer „Schalom“ ist für seinen Betrieb auf Polizeischutz angewiesen. Nicht anders sieht es bei jüdischen Kindergärten und Schulen aus. Zeitweise blieben mehr als die Hälfte der jüdischen Schüler dem Schulunterricht aus Angst vor Übergriffen fernblieb. Synagogen verschärften ihre Sicherheitsmaßnahmen und empfahlen Besuchern dringend, bei Ankunft und Verlassen des Gotteshauses in Gruppen zu gehen, besonders achtsam zu sein und sich nicht als Jude erkennen zu geben.

„Auch früher schon war es Juden und Israelis oft nicht möglich, sich unbeschwert in deutschen Städten zu bewegen. Seit dem 7. Oktober jedoch haben wir es mit einer neuen Qualität zu tun.“

Wöchentlich finden Demonstrationen und Kundgebungen statt, auf denen Teilnehmer die Hamas-Verbrechen leugnen und die Mörder bejubeln. Immer wieder ist der Ruf „Khaybar Khaybar, oh Ihr Juden, Mohammeds Armee wird zurückkehren“ zu hören, mit dem die Vernichtung eines jüdischen Stammes durch Mohammed gefeiert wird. Die häufig als pazifistisch angemeldeten Aktionen, an denen neben Islamisten auch Linke und Queers teilnehmen, werden oft zum Anlass genommen, die Polizei anzugreifen und Brandstiftungen zu begehen.

An Universitäten fanden Proteste statt, bei denen Aktivisten sich die Handflächen rot anmalten, was das bekannte Foto eines Lynchmordes an zwei israelischen Reservisten in Ramallah im Jahr 2000 in Erinnerung rief. Israelfeindliche Gruppen hielten Seminarräume besetzt und schüchterten jüdische Studenten ein. Räumlichkeiten der Humboldt Universität in Berlin wurden verwüstet, terrorverherrlichende Graffitis wurden an Wände gesprüht und Professoren bedroht. Kunden einer Berliner Starbucks-Filiale wurden von pro-palästinensischen Demonstranten eingeschüchtert und Gewerbetreibende auf der Sonnenallee zur Teilnahme an einem pro-palästinensischen „Generalstreik“ und zu einem Boykott von Pepsi und Coca Cola gezwungen. In deutschen Innenstätten dominieren israelfeindliche Graffitis, Aufkleber oder Plakate, die teilweise an den islamistischen Märtyrerkult erinnern. In der ‚Markierung' von Privatwohnungen mit Davidsternen nahm die „Palästinasolidarität“ schließlich die Form des NS-Antisemitismus der 30ern an.

Juden in Gefahr

Auch früher schon war es Juden und Israelis oft nicht möglich, sich unbeschwert in deutschen Städten zu bewegen. Seit dem 7. Oktober jedoch haben wir es mit einer neuen Qualität zu tun. Berichten der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), aber auch persönlichen Gesprächen nach findet ein Rückzug von Juden aus dem öffentlichen Raum statt. Man meidet U-Bahn und Bus, trägt keine jüdischen oder israelischen Symbole mehr, unterhält sich nicht auf Hebräisch und gibt sich bei der Arbeit oder an der Uni nicht als Jude und vor allem nicht als Unterstützer Israels zu erkennen.

Wer erfahren möchte, wie verzweifelt und enttäuscht viele Juden sind, tut gut daran, eine der wenigen pro-israelischen Kundgebungen zu besuchen. Es handelt sich dabei um echte pazifistische Veranstaltungen, auf denen nicht Rache, Eskalation und Vernichtung gefordert werden, sondern ein Ende der Geiselnahme, des dauernden Raketenbeschusses und der ständigen israelfeindlichen Agitation. Anders als bei vielen pro-palästinensische Demonstrationen ist der Ton hier nicht laut, aggressiv und hetzerisch, sondern fassungslos und flehend: „Warum sind wir nur so wenige? Warum rührt das Schicksal der Juden unsere Politiker, Künstler, Journalisten, Aktivsten nicht? Haben wir noch eine Zukunft hier?“ Der deutsche Staat, dem die Sicherheit Israels doch als „Staatsräson“ gilt, hat ebenso versagt wie die deutsche Gesellschaft, die so stolz darauf ist „die Lehren der Vergangenheit“ gezogen und in eine „wehrhafte Demokratie“ aufgebaut zu haben.

„Während Juden sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, ihre Identität verbergen und ihre Institutionen geschützt werden müssen, wird der Islam in Westeuropa immer dominanter und sichtbarer.“

Dass der Judenhass nach dem 7. Oktober eine neue Qualität bekommen hat, lässt sich nicht bezweifeln. Rabbi Menachem Margolin, Vorsitzender der Europäischen Jüdischen Vereinigung, nennt die Situation „die schlimmste seit dem Zweiten Weltkrieg“ und der niederländische Schriftsteller Leon De Winter hält ein Ende des europäischen Judentums bis 2050 für wahrscheinlich. Ganz anders sieht es bei Muslimen aus, die weiterhin zu Hunderttausenden aus islamischen Ländern nach Westeuropa einwandern. Während Juden sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, ihre Identität verbergen und ihre Institutionen geschützt werden müssen, wird der Islam in Westeuropa immer dominanter und sichtbarer, sei es durch Aufmärsche, Fahnen, islamkonforme Verschleierungen und Trachten, Graffitis, laute Märtyrer-Gesänge und Gebetsrufe, durch islamische Institutionen, Moscheen und Halal-Läden.

Es finden auf deutschen Straßen keine Demonstrationen statt, auf denen die Vernichtung eines islamischen Landes gefordert oder Palästina als „Kindermörder“ oder „Völkermörder“ dämonisiert wird. Es gibt auch keine einflussreichen Initiativen, die zum Boykott arabischer Institutionen oder Personen aufrufen. Weder werden Halal-Läden dazu gezwungen, Produkte aus ihrem Sortiment zu nehmen, noch sind deutsche Innenstädte voll von islamfeindlichen Graffitis und Postern. Belgien weigerte sich, ein Fußballspiel mit einer israelischen Mannschaft auszutragen, Künstler forderten den Ausschluss von Israelis von der Biennale in Venedig, die Kasseler Documenta und die Berlinale wurden zu Bühnen israelfeindlicher Akteure und die israelische Sängerin Eden Golan konnte in Schweden ihr Hotelzimmer nur mit Personenschützern verlassen. Islamischen Sportlern, Filmemachern und Künstlern bleibt solche unwürdige und feindliche Behandlung hingegen erspart.

Begriff der „Islamphobie“

Während viele Juden vor der Wahl stehen, sich zu verstecken oder auszuwandern, können sich Muslime frei bewegen. Die einzige Berliner Moschee, die rund um die Uhr Polizeischutz benötigt, wird von einer liberalen Imamin geleitet, die durch radikale Muslime bedroht wird. Überhaupt scheinen Muslime, die den radikalen Islam ablehnen, von allen Muslimen am meisten bedroht zu sein. Aber darauf zielt der Vorwurf der „Islamophobie“ bekanntlich nicht ab.

Der Begriff „Islamophobie“ wurde bereits vor hundert Jahren von französischen Kolonialbeamten in Algerien verwendet, seine Popularisierung erfolgte aber erst in Zuge der radikalen Proteste gegen Schriftsteller wie Salman Rushdie, Irshad Manji oder Ayan Hirsi Ali. Benutzt wurde er vor allem von islamischen Fundamentalisten, denen jede Kritik an ihrer Weltanschauung als Todsünde galt. Khomeini, der Mann hinter dem Rushdie-Kopfgeld, bezeichnete selbst unverschleierte Frauen als „islamophob“. Der Vorwurf diente also dazu, gegen Kritiker und Gemäßigte zu hetzen – häufig mit tödlichen Folgen.

Der von der Islamic Human Rights Commission verliehene Negativpreis „Islamophobe des Jahres“ ging 2015 an die Redaktion von Charlie Hebdo – nur wenige Wochen nachdem Terroristen ein Massaker in der Redaktion begangen hatten, um ihren „Propheten zu rächen“. Auch der „European Islamophobia Report“ der türkischen Seta-Stiftung denunziert Personen wie Seyran Ates als „islamophob“ – eine reelle Bedrohung angesichts der zahlreichen gewaltbereiten Gefährder. Seit vielen Jahren setzt sich die „Organisation für Islamische Zusammenarbeit“ (die 56 Staaten repräsentiert) dafür ein, dass „Islamophobie“ weltweit unter Strafe gestellt wird. Pakistan, das „Blasphemie“ mit dem Tode bestraft, spielt hier eine Schlüsselrolle. Auch die EU zeigt verstärkt Einsatz gegen „Islamophobie“ ein, etwa mit der Finanzierung des „Counter-Islamophobia Toolkit“, das u.a. den Aufbau von „muslim spaces“ (islamischen Räumen) empfiehlt.

„In der Gleichnennung von Antisemitismus und ‚Islamophobie‘ wird sowohl das Besondere am Judenhass als auch das Besondere am Islam verschleiert."

Der berühmte Historiker Bernard Lewis nannte die Vorstellung, der Islam sei eine Religion wie das Christentum, ein fundamentales Missverständnis. Im Islam gelte der, zwischen dem Geistigen und Weltlichen trennende und den Säkularismus begründende Grundsatz „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ nicht. Vielmehr betreffe der Islam „das Leben in seiner Gesamtheit“, also vom Alltag des Einzelnen bis zu den Gewalten des Staates und dem Krieg. Für den französischen Schriftsteller Pascal Bruckner stellt der „Islamophobie“-Vorwurf den Versuch dar, jede Kritik am Islam als rassistisch zu tabuisieren oder gleich zu kriminalisieren. Dadurch würden jede Aufklärung über Praktiken des Islams verhindert und den Radikalen die Deutungshoheit übertragen. Es wäre die Herstellung eines juristischen Zwei-Klassen-Systems, in dem manche Ideologien und politische Praktiken kritisiert werden dürfen, und andere einen privilegierten Status genießen.

In dem Buch „Interregnum. Was kommt nach der liberalen Demokratie“ beschreiben Kolja Zydatiss und ich einen Westen, der sich in einer permanenten Krise befindet. Zu dieser Krise gehört auch der Zweifel an früheren Glaubenssätzen und Gewissheiten. Das erklärt die Aggressivität, mit der heute um die Bestimmung von Begriffen und Symbolen gestritten wird. In den letzten Monaten wurde in Deutschland u.a. um die Bedeutung von „Kalifat“, „Genozid“ und „Scharia“, des Wolfgrußes, des Tauhid-Zeigefingers oder des Gebetsrufes gerungen. Die Institutionalisierung des „Islamophobie“-Vorwurfs macht eine Diskussion über sie unmöglich und wird bestehende Ressentiments nur verstärken.

Der Antisemitismus ist eine Weltanschauung, die den schwedischen Sozialisten, den irakischen Nationalisten, den deutschen Neonazi, den Islamisten, den queeren Aktivisten und die Klimaaktivistin miteinander verbindet. Er ist eine universelle Grammatik, die alle Unterschiede überbrückt, ein Esperanto des Ressentiments. Der Antisemit tut „das Böses für das Gute“ schrieb Jean-Paul Sartre. Er ist ein „Zerstörer aus Berufung, Sadist reinen Herzens“ der sich „den Tod der Juden“ wünscht. Nicht jeder westliche Bürger wollte nach 1945 wissen, was Antisemitismus ist und was der Antisemit will, aber es waren ausreichend viele, so dass ein Rückfall in die Barbarei unwahrscheinlich erschien. Das hat sich geändert. In der Gleichnennung von Antisemitismus und „Islamophobie“ wird sowohl das Besondere am Judenhass als auch das Besondere am Islam verschleiert.

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