08.08.2019
Die turbulenten Sechziger in den USA
Von Todd Gitlin
Ein amerikanischer Alt-68er gibt Einblick in die Generationskonflikte und Illusionen, die den Aktivismus der 1960er Jahre begleitet haben. Mangelnder Universalismus führte in die Identitätspolitik.
Todd Gitlin ist Schriftsteller, Soziologe, Romancier, Dichter und, wie er es ausdrückt, ein „nicht sehr privater Intellektueller“, der die 1960er Jahre kennt. Nicht aus der Ferne, als monochromatisches Porträt von ausgeleierter, gegenkultureller Unbekümmertheit. Und nicht nur durch Anekdoten, aber durch seine wunderbare Analyse „The Sixties: Years of Hope, Days of Rage“. Vielmehr sieht er sie als einen Zeitraum, den er selbst erlebte und prägte durch seine Zeit als Präsident der Students for a Democratic Society (SDS) und seine intellektuellen Beiträge für die Neue Linke als Ganzes.
Was denkt Gitlin heute über den Radikalismus, den die 1960er-Generation vertrat? Warum sah es so aus, als ob sich die Jugendlichen in den Kampf gegen ihre gutsituierten Eltern stürzen würden? Und was ist mit den Weathermen in den USA, der terroristischen Buchstütze der Hoffnungen einer Generation? Im Folgenden gibt Gitlin seine Gedanken zu diesem denkwürdigen Jahrzehnt wieder.
Generation der 1960er
Es stimmt wahrscheinlich, dass die meisten Aufstände die Form eines Generationenkonflikts annehmen (auch wenn dies keine Zwangsläufigkeit ist). Denn bei einem politischen Kampf geht es um die Untergrabung des Status quo und den Wunsch, ihn zu überwinden – sowohl ideologisch als auch kulturell sowie auf vielen weiteren Ebenen. So neigen Umbrüche dazu, den ewigen Charakter sozialer Konflikte anzunehmen, die ihren Ursprung im Konflikt zwischen Kindern und Eltern haben. Das soll nicht heißen, dass sie sich auf Eltern-Kind-Konflikte reduzieren lassen. Dennoch spielt dabei immer eine Dimension von Generationsgefühlen mit.
Lassen sich die 1960er Jahre als Ganzes in einen Generationsrahmen eingliedern? Die Vorstellung von den 1960er Jahren als Generationenkonflikt war in gewisser Weise übertrieben. Die Bewegung gegen den Vietnamkrieg Mitte der 1960er Jahre begann durchaus größtenteils als eine Bewegung junger Menschen. Nicht lange, nachdem sich die Bewegung aus Jugendlichen und Studenten formiert hatte, entwickelte sich auch im Lehrkörper Widerstand gegen den Krieg, der sich mit den jungen Leuten zusammentat. Ich denke hier an die Teach-in-Bewegung an den Universitäten, den Versuch, akademische Intelligenz zum Problem des Vietnamkrieges arbeiten zu lassen, der weitgehend ignoriert wurde.
„Auch innerhalb der Bürgerrechtsbewegung spielte der Generationsaspekt eine Rolle.“
1969 war die Vielfalt der Antikriegsbewegung besonders auffällig. Es gab so gut wie keinen Beruf, keine Organisation ohne Kriegsgegner. Das galt für den Klerus, und es galt für die Anwälte. Es galt für die Groß- wie für die Kleinstädte. Die Anti-Kriegsbewegung war überall. Während die Konflikte der 1960er Jahre also ein generationsspezifisches Element enthielten, gab es auch generationenübergreifende Tendenzen.
Aber wenn wir uns wieder der Bürgerrechtsbewegung zuwenden, die den Radikalismus der 1960er Jahre geprägt hat, wird die Dimension der Generation deutlicher. Dabei geht es um die Kräfte, die den Bruch mit der Vergangenheit vollzogen, die neue Taktiken und Strategien ausprobierten. Um die Kräfte, die am deutlichsten im Busboykott von Montgomery 1955 und darin spürbar war, dass Martin Luther King populärer wurde. Diese Kräfte waren weitgehend die einer Altersschicht. Es waren junge baptistische Pfarrer, die sich gegen das Versagen und die politischen Grenzen der Elterngeneration auflehnten. Bis 1960 war eine studentische Komponente der Bürgerrechtsbewegung entstanden und beschloss, sich eigenständig zu organisieren – das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC). Zu dieser Zeit waren King und seine Leute Anfang dreißig, und die SNCC wurde hauptsächlich von Menschen in den Zwanzigern organisiert. Auch innerhalb der Bürgerrechtsbewegung spielte der Generationsaspekt also eine Rolle.
Warum haben die sozialen und politischen Revolten der 1960er Jahre gerne eine generationenspezifische Form angenommen? Wie ich bereits erwähnt habe, gilt für alle Aufstände eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, sich auf eine generationsbedingte Dimension zu erstrecken. Abgesehen davon denke ich jedoch, dass es sehr viel mit der Rolle der Jugend in der amerikanischen Gesellschaft zu tun hatte.
Babyboom und die Folgen
Dies war zum Teil die demographische Tatsache des Babybooms. Die Führung der Studentenbewegung bestand größtenteils aus älteren Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges geboren worden waren und somit genau genommen Vorgänger der Babyboomers waren. Außerdem gab es ein riesiges Bevölkerungswachstum. 1946 war das erste Jahr, in dem in den USA über vier Millionen Babys geboren wurden. Üblicherweise bezeichnet man die Jahre, in denen diese Vier-Millionen-Grenze geknackt wurde, als Babyboom, in den USA also den Zeitraum von 1946 bis 1964.
Ein Ergebnis des Babybooms war der enorme Zuwachs an Hochschulbildung. Die Zahl der von den US-Universitäten vergebenen Abschlüsse verdoppelte sich zwischen 1956 und 1967. Es handelte sich also um eine beispiellos große Menge junger Menschen, die oft die ersten in ihren Familien waren, die zur Universität gingen. Dies ist eine soziale Einrichtung, die sie vor den Kräften des Erwachsenenlebens beschützte und von diesen abschirmte, indem sie das lieferte, was der große Psychoanalytiker Erik Erikson ein psychosoziales Moratorium, einen Schmelztiegel, einen Haltebereich nannte, in dem sich soziale Formen, Bindungen und enge Beziehungen entwickeln konnten. Es war nicht vorbestimmt, dass die Universitäten politischen Charakter annahmen, aber angesichts dessen, was in der Welt vor sich ging, trat dies in vielen Fällen ein.
„Es ist auffällig, welch jugendliches Selbstverständnis die politischen Aufstände der 1960er Jahre hatten.“
Neben der Expansion der Universitäten wurde auch die Jugendkultur immer mehr ins Rampenlicht gerückt. Sie begann nicht erst in den 1960er Jahren, sondern wurde durch das Aufkommen der Rockmusik und schließlich durch das der Drogenkultur erheblich verstärkt und in gewisser Weise radikalisiert. So wurde sie von einer Domäne der Farbigen zur Domäne weitestgehend weißer Studenten. Ich denke also, dass der Babyboom, der Ausbau der Universitäten und die Intensivierung und Radikalisierung der Jugendkultur wesentlich zum Generationsbezug der Aufstände der 1960er Jahre beigetragen haben.
Es ist auffällig, welch jugendliches Selbstverständnis die politischen Aufstände der 1960er Jahre hatten. Wenn man sich zum Beispiel die Gesinnung der Linken der 1930er Jahre anschaut, sucht man vergeblich nach einer solchen altersbezogenen Selbstzuschreibung. Um eine Erklärung dafür zu finden, muss man meiner Meinung nach untersuchen, wie sich kulturelle Definitionsformen entwickeln. Wenn ich meine eigenen Erfahrungen reflektiere, aber auch darüber nachdenke, wie sich die Dinge für andere entwickelt haben, komme ich zu dem Schluss, dass der starke Sinn für Generationendivergenz in den 1960er Jahren historisch bedingt ist: die Große Depression gefolgt vom Zweiten Weltkrieg und dann von der Atombombe. Es gab scharfe historische Abgrenzungen: Depression, Krieg, Bombe.
Ich spürte das sehr deutlich in der Beziehung zu meinen eigenen Eltern, als ich versuchte, sie davon zu überzeugen, dass es eine Generationenlücke gibt und dass sie aufgrund ihres Alters nicht in der Lage sind, sie zu verstehen. Mir war sehr wohl bewusst, dass meine Situation eine andere Form und Färbung hatte als die ihre. Ich hatte die Depression nicht miterlebt und konnte deshalb weniger dankbar für ihr Ende sein. Ich hatte den Krieg nicht erlebt. Ich wurde zwar währenddessen geboren, hatte aber keine Erinnerung an ihn. So konnte ich nicht so viel Erleichterung daraus ziehen, dass der Faschismus besiegt worden war und sie eine Integration innerhalb der amerikanischen Gesellschaft genießen konnten, die zuvor unmöglich gewesen war. Die Tatsache, dass ich Jude bin, ist auch relevant. Meine Eltern wuchsen in einem Amerika auf, in dem es systematischen Antisemitismus in beachtlichem Ausmaß gab. Er war nicht gewalttätig, aber er hatte ausschließenden Charakter. Die Tatsache, dass ich ihn nicht mehr miterlebt habe, hat also auch die Generationendivergenz verstärkt.
In unserem Verständnis als Neue Linke (oder was dabei war, sich zu dieser zu entwickeln) war die Angst vor Atomwaffen in unser Weltbild in einer Art und Weise eingebrannt, dass es für unsere Eltern nicht nachvollziehbar war. Ich bin 1943 geboren. Ich hatte keine Erinnerung an eine Welt ohne Atomwaffen. Aus den Erfahrungen in Diskussionen mit meinen Eltern bin ich zu der Auffassung gelangt, dass sie nie verstehen würden, wie radikal dieser Bruch in der Menschheitsgeschichte war.
Die Neue Linke entsteht
Mit Beginn der Neuen Linken gab es auch eine veränderte Haltung gegen die Glorifizierung Amerikas und die sogenannte Wohlstandsgesellschaft der 1950er Jahre. Wie ich in „The Sixties“ geschrieben habe, entstand eine Dialektik zwischen Wohlstand und Terror, moralischem Terror. War man in einer weißen bürgerlichen Welt von rebellischem Geist, ging es bei dem Sammelsurium an Metaphern, bei den großen Erzählungen um eine Konfrontation zwischen einem moralischen Sinn und dem absoluten Bösen. Der Kampf gegen den Faschismus war auf eine bestimmte Art und Weise persönlich und transhistorisch. In und für diese Welt lebendig zu sein bedeutete, auf der moralischen Rasierklinge zu balancieren. Deshalb war uns das Werk von Albert Camus so wichtig, der darüber spekulierte, wie es möglich ist, in einer absurden, gottlosen Welt ethisch und moralisch zu leben.
Zur Erfahrung des Wohlstands kam also auch die einer Welt hinzu, die etwas Schreckliches und Endgültiges durchgemacht hatte und in der man aufgerufen war, zu werden, wer man wirklich ist, in welcher Form auch immer. Die Herausforderung war immens, und doch wurschtelte sich die offizielle Gesellschaft, die Gesellschaft von Präsident Eisenhower, mit Verleugnung, Verstecken und Selbstschutz so durch.
„Wir haben uns nicht nur gegen den reaktionären Kapitalismus, sondern auch gegen die große Bürokratie, Zentralisierung, Hierarchie aufgelehnt.“
Was ich hier beschreibe, war die Kernsensibilität der neuen Aktivisten, nicht die der breiten Jugendkultur. Wir waren eine viel kleinere, viel konzentriertere Gruppierung – zu diesem Zeitpunkt, Anfang der 1960er Jahre, zählten wir nur ein paar tausend Menschen. Diese Sensibilität zeigte sich in den frühen Passagen der „Port-Huron-Erklärung“, dem politischen Manifest der SDS von 1962. Wir hatten das Gefühl, historisch ängstlich zu sein, nicht mehr verankert, sondern vertrieben, verdrängt und ratlos abgesondert. Wegen eines historischen Umstandes, den wir uns selbst zu erklären versuchten. So war die Welt sofort gespalten in diejenigen, die die Vorstellung ernstnahmen, dass es für die Menschheit eine neue Ausgangssituation gibt, und denen, die sich weigerten, das anzuerkennen. Daran lässt sich ablesen, wie der Konflikt, die kulturelle Kollision, die Form eines Generationenkonflikts annehmen würde.
Zu diesem Zeitpunkt versuchte die Mehrheit der alten Linken noch immer, die stalinistische Katastrophe zu überwinden. Die Ereignisse von 1956, als der sowjetische Führer Nikita Chruschtschow in seiner Geheimrede die Verbrechen der stalinistischen Ära anprangerte und die Sowjetunion den ungarischen Aufstand zerschmetterte, zerstörten das Selbstvertrauen der alten Linken. Viele verließen sie. So war es für meine Leute einfacher, sich von der alten Linken Tradition befreit zu fühlen, und es wurde als notwendig angesehen, sich davon zu befreien.
Die Port-Huron-Erklärung legt sehr gut die Gründe dar, warum wir den Liberalismus als unbefriedigend empfunden haben. Es lag nicht daran, dass er völlig korrumpiert war, wie es die alte leninistische Tradition war. Sondern er wurde als unzureichend angesehen, um Rassismus, Rassentrennung und Diskriminierung zu überwinden und den Sozialstaat zu etablieren. Wie ich bereits in „The Sixties“ geschrieben habe, gab es in der Proto-Bewegung eine anarchistische und gegenkulturelle Stimmung, die für die geschäftsmäßige Seite des Liberalismus unbefriedigend war. Wir haben uns nicht nur gegen den reaktionären Kapitalismus, sondern auch gegen die große Bürokratie, Zentralisierung, Hierarchie aufgelehnt. Diese Elemente wurden anfangs nicht vollständig realisiert, aber sie waren vorhanden.
Wir waren also Teil eines kulturellen Wandels und in diesem Sinne auch enger verbunden mit Elementen der anarchistischen Tradition, welche natürlich in Amerika nie wirklich ausgeprägt war. Ich denke, wir waren Teil einer großen historischen Bewegung gegen die zentralisierten Organisationen. Eine Bewegung, die eine Abkehr anstrebte von den Idealen der zentralisierten Führung einschließlich des Staatssozialismus wie auch hierarchischer Organisationsformen. Ich glaube, all das gehörte dazu, war damals aber nur schwer zu erkennen.
Generationskluft und Studentenbewegung
In den frühen 1960er Jahren kristallisierte sich die Generationsidee heraus. Zu beobachten war dies an der Entwicklung der selbstbewussten Proklamationen von Studentengruppierungen. Man sah es sowohl im SNCC im Süden der USA als auch in der SDS. Letzterer war selbst ursprünglich ein Zweig einer Organisation älterer Erwachsener gewesen, bis jedoch klar wurde, dass es generationsbedingte Meinungsverschiedenheiten gab. Konfliktthemen waren nicht nur der Kommunismus, sondern auch Stil- und Kulturfragen – also Dinge, die für uns wichtiger waren als für sie. Diese Bedingungen führten bis einschließlich 1964 zur Entstehung des Massenaufstands der Studenten, welcher als „Free Speech Movement“ (FSM) bekannt ist.
Zugegebenermaßen wurde der Generationscharakter des FSM überbewertet, was einem Journalisten zu verdanken ist, der die Aussage: „Wir trauen niemandem über 30“ fälschlicherweise als Kernaussage des FSM darstellte. Dies war vermutlich ein vorsätzliches Missverständnis dessen, was einer der FSM-Führer gesagt hatte, als er auf die Frage antwortete, ob es in der FSM Kommunisten gäbe. Sinngemäß sagte er in etwa: „Kommunisten sind alt, und wir sind neu – wir trauen niemandem über 30“. Trotzdem enthielt das Missverständnis eine Halbwahrheit. Die Revolte innerhalb der Universität richtete sich gegen die alten Institutionen und die Annahme, dass die Mächtigen alleine grundlegende Entscheidungen darüber treffen dürfen, was ein akzeptables Universitätsleben ausmacht.
„Die Bewegung hatte eine aufgeblähte Vorstellung von ihrer eigenen Macht in Amerika.“
Das war Ende 1964. Von da an verschärfte sich der Generationscharakter der Bewegung. Besonders aufgrund des beginnenden Vietnamkrieges und weil junge Leute wegen der Wehrpflicht eingezogen wurden. Die Elemente des Generationsbewusstseins waren natürlich bereits vorher vorhanden gewesen. Dennoch sorgte der Einzug junger Menschen in den Krieg für das Gefühl der Generationenspaltung und des Generationenbruchs.
Ich begann gegen Ende der 1960er Jahre über das, was ich das eingebaute Dilemma der radikalen Studentenbewegung genannt habe – den Konflikt zwischen einer „Politik für andere“ und „Politik für sich selbst“ – nachzudenken, als ich zu ergründen versuchte, was falsch lief. Ich wollte herausfinden, warum die Neue Linke zu weit ging und warum es Illusionen über die Klassen- und die Generationsidentität der Bewegung gab sowie darüber, was die Bewegung aus sich heraus erreichen konnte. Während des Jahres 1968, als die Militanz der Bewegung wuchs, wurde mir klar, dass die Bewegung eine aufgeblähte Vorstellung von ihrer eigenen Macht in Amerika hatte. Und diese Illusion führte zu gravierenden politischen Fehlern.
In den frühen 1960er Jahren hatte die SDS auch mit dem Problem zu kämpfen, für wen die Bewegung war und durch wen sie ihre Ziele erreichen würde – obwohl sie dies anders formuliert hätte. Die SDS hätte wohl so etwas gesagt wie: „Wir sind selbstbewusst radikal. Wo sind die Organisationen des Wandels?“. Dies war die Terminologie, die C. Wright Mills benutzte, der in den frühen Jahren einen recht großen Einfluss besaß. So sahen wir uns in gewisser Hinsicht als Avantgarde, aber wir waren uns dessen bewusst, dass wir selbst demographisch und sozial eingeschränkt waren. Also stellte sich die Frage: „Wo suchen wir nach Organisationen des Wandels?“.
Aber wir schätzten nicht wirklich die Klassen-, Kultur- und andere Unterteilungen, die dieses Modell erschweren würden. So begab sich 1966 eine Fraktion der SDS daran, die Idee des Studentensyndikalismus auszuarbeiten, die Vorstellung von Studenten als Vorhut einer neuen Klassenbildung. Mit anderen Worten: Marxistisch Geprägte probierten, die kulturellen und klassenbezogenen Entwicklungen der 1960er Jahre in einen marxistischen Kontext zu setzen. Es war Teil der Erkenntnis, dass sich etwas Merkwürdiges ereignete, dass sich Studentenbewegungen von früheren radikalen sozialen Bewegungen unterschieden. Es wurde die Auffassung vertreten, dass die Bewegung eine neue Klassenstruktur vorwegnähme. Aber Studenten unterschieden sich grundlegend von Arbeitern. Universitäten sind vielleicht auf metaphorischer Ebene Fabriken ähnlich. Aber es sind keine Fabriken. Sie sind eine Lebensphase.
Die Weathermen
Die Weathermen, eine Gruppierung, die 1969 aus der SDS hervorging, versuchte mit einem verzerrten Blick auf die Welt, dieses Dilemma zu umgehen. Aus ihrer Sicht befand sich die Welt inmitten einer Revolution, angeführt von Farbigen – von den Kubanern bis zu den Chinesen. Mit anderen Worten, wir befanden uns in einer unüberlegten marxistisch-leninistischen Welt. Amerika galt als Zentrum der imperialistischen Macht und die Black-Panther-Partei war Vertreterin dieser globalen Revolution. Die Frage für diese weißen Revolutionäre war also, wie sie ihre Rolle in der Revolution verstanden. Ihre Antwort auf diese Frage war, dass sie die Katalysatoren, die Organisatoren, die Mobilisatoren einer weißen Arbeiterklasse-Bewegung sein würden. Durch ihre Gewalttätigkeit und Härte hielten sie sich für einen wichtigen Bestandteil der weltweiten Revolution.
„Die Identitätspolitik erstarkte auf der Grundlage eines zu schwachen Universalismus.“
Dabei handelte es sich natürlich um reine Fantasie. Der Gedanke eines Weltaufstands war eine Annäherung aus dritter Hand an das, was in der Dritten Welt geschah. Für die USA war dies jedoch irrelevant. Damit ihr Konzept (wenigstens oberflächlich) funktionierten konnte, hätten sie sich – bei klarem Verstand, über den sie nicht verfügten – in die Rolle eines neuen Lumpenproletariatsflügels der Bewegung begeben müssen. Eines Flügels, der die Führungsrolle der Farbigen respektiert hätte.
Die Vorstellung, eine revolutionäre Kraft zu sein, war völlig illusionär. Klar wurden ihn das im Sommer 1969, als sie junge weiße Arbeiter nach Chicago riefen, von denen sie glaubten, dass sie auf der Seite der Revolution stünden. Sie hatten erwartet, dass Zehntausende von Menschen dem Aufruf folgen würden. Aber am Ende kamen nur ein paar hundert, und das Ganze wurde von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Das war im Oktober, und innerhalb von ein paar Monaten entschieden sie sich, angesichts dieses unlösbaren Dilemmas in den Untergrund zu gehen und sich dem Terror der Tat zuzuwenden. In den nächsten Jahren versuchten sie, den Generationsaspekt ihrer Arbeit hervorzuheben, indem sie die Gegenkultur betonten, entschieden, dass ihre Gegenkultur nicht reaktionär war, dass es, um ihre maoistische Terminologie zu verwenden, das Meer war, in dem sie schwimmen konnten. Aber nichts davon funktionierte, alles entpuppte sich als Hirngespinst.
Der Aufstieg der Identitätspolitik
In meinem Buch „The Twilight of Common Dreams“ geht es um den Aufstieg der Identitätspolitik und des Multikulturalismus. Darin vertrete ich die Auffassung, dass die marxistische Tradition ein universalistisches Versprechen hatte, das jedoch auf dem Rücken des Stalinismus gebrochen wurde. Einige der Gründungsmitglieder der SDS waren sich dessen bewusst und versuchten, den Universalismus umzuformulieren, basierend auf der Idee der partizipativen Demokratie. Im Wesentlichen war es ein Versuch, den Universalismus darauf zu begründen, dass jeder ein Bürger ist, der mitwirkt.
Dies war ein nobler Versuch, das universalistische Versprechen der Linken zu erneuern. Er ist jedoch gescheitert. Er war nicht einleuchtend, überzeugend, haltbar genug, um eine ganze soziale Bewegung zu beleben. Es stellte sich heraus, dass sich die Menschen in der Bewegung stärker dafür begeisterten, sich selbst als Teil eines Stammes oder eines Sektors zu betrachten denn als ein Teil des großen Ganzen. So fühlten sich die Menschen eindeutiger schwarz, weiblich oder dann auch homosexuell oder als irgendeiner Ethnie zugehörig. Sie fühlten sich eher diesen Identitäten zugehörig denn als Bürger. So erstarkte die Identitätspolitik auf der Grundlage eines zu schwachen Universalismus, der nicht mehr in der Lage war, eine eigene Bewegung hervor zu bringen. Wenn sie die Macht oder den Drang nach Gemeinschaft verspürten, dann verspürten sie ihn als Angehöriger eines Stammes und nicht als Angehöriger einer universellen Bewegung.
„Die so genannten Millennials sind von Erfahrungen der Instabilität und Prekarität geprägt.“
Der Vietnamkrieg diente jahrelang als universelles Bindeglied. Anders formuliert: Man wusste vielleicht nicht, wer man war, aber man wusste, dass man den Vietnamkrieg hasste. Das war als verbindendes Element ziemlich erfolgreich, bis der Krieg vorbei war und Amerika verloren hatte. Das führte zu der Frage „Wer sind wir?“ Und es gab keine gute Antwort auf diese Frage. Philosophisch betrachtet, mag es gute Antworten gegeben haben. Aber in Bezug auf die Verortung der Menschen und ihrer Gefühle, gab es keine brauchbare Antwort. So triumphierte die Identitätspolitik, teils aufgrund der Inspiration durch die schwarze Befreiungsbewegung, aber auch, weil es an wirklich überzeugenden Alternativen fehlte.
Boomer-Beschuldigung
Generationenpolitik ist einfach. Und bequem. Ich habe oben erwähnt, dass die Depression, der Zweite Weltkrieg und die Atombombe die Dreh- und Angelpunkte für das Selbstverständnis dieser Generation waren. Bisweilen gab es neuere Erfahrungen, die die Geschichte zu spalten schienen. Das Ende des Kalten Krieges, die Unsicherheit der Weltwirtschaft und ihre Entwicklung hin zum Finanzmarkt sowie zuletzt die Wirtschaftskrise von 2008.
So sind die so genannten Millennials von Erfahrungen der Instabilität und Prekarität geprägt, die von einer anderen Qualität sind als die meiner Generation oder der ihr folgenden. Es gibt also weltgeschichtliche Phänomene, die tatsächlich ein sehr starkes Bruchgefühl hervorrufen. In der echten Welt begannen die Familieneinkommen zu sinken, Arbeitseinkommen schrumpften, die Hoffnungen auf wirtschaftliche Prosperität schmolzen dahin. Es gibt eine materielle Grundlage für einen Generationenbruch. Das Ressentiment gegenüber den Babyboomern speist sich also zum Teil aus denjenigen, denen etwas genommen wurde bzw. die Angst davor haben, dass ihnen etwas genommen wird, gegenüber denen, die es „geschafft“ haben.
Doch es ist eine Farce, die großen historischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, als Generationsprobleme zu betrachten – wenn man so will, ist das eine Primitivierung der großen, sich vollziehenden Veränderungen. Aber die übertriebene Vereinfachung und Schuldzuweisung an eine Generation sind spürbar. Das hat sich aber schon lange angebahnt. In den 1980er Jahren fand diese Vereinfachung in Form von Spott über Yuppies statt. Es gab nicht einmal so viele Yuppies. Ich habe einmal eine Überschlagsrechnung angestellt mit dem Ergebnis, dass es in Amerika höchstens 4,5 Millionen Menschen gab, die als Yuppies in Frage kamen. Das war kein großer Bevölkerungsanteil. Aber es war leicht, sie als selbstverliebte, kulturzerstörerische Ausverkäufer usw. zu betrachten.
Ich möchte die Herausforderungen an die Jugend in dieser Welt der Instabilität nicht unterschätzen – die Herausforderungen sind sehr groß. Aber es ist ein Fehlschluss zu denken, dass man sein Leiden seinen wohlhabenden, selbstgefälligen, aufgeblasenen Eltern zu verdanken hat.