11.02.2019

„Die Wendung nach innen führt zu einer subjektivierten Politik“

Interview mit Mark Lilla

Titelbild

Foto: John Duffy via Flickr / CC BY 2.0

Die US-amerikanische Linke verliert durch ihre Betonung der Identitätspolitik den Anschluss an große Teile der Bevölkerung.

Spiked: Im November 2016 haben Sie einen Essay für die New York Times mit dem Titel „The End of Identity Liberalism“ geschrieben. Er hat starke Gegenreaktionen ausgelöst. Hatten Sie erwartet, dass diese Kritik der Identitätspolitik so einen Nerv treffen würde?

Mark Lilla: Den Artikel habe ich an zwei Nachmittagen in der Woche nach der Trump-Wahl geschrieben. Ich musste einfach etwas loswerden. Mit Reaktionen hatte ich gerechnet, vor allem aus der Ecke derjenigen, die sich komplett der Identitätspolitik verschrieben haben. Aber diese Fülle an Reaktionen hatte ich nicht erwartet. Der Text war der meistgelesene politische Kommentar in der New York Times in dem Jahr. Ich hatte mein erstes Twitter-Bad – ein Säurebad – und mir wurde klar, wie schwierig es ist, bestimmte Fragen auch nur zu stellen. Weil die Reaktionen, die ich erhalten habe, so wenig zielgerichtet waren, erst recht bezogen auf die Frage, wie wir in Zukunft gewinnen können, kam ich auf die Idee, aus dem Artikel ein Buch zu machen.

Wie waren die Reaktionen auf Ihr Buch „The Once and Future Liberal. After Identity Politics“ in den USA und in Europa?

In den USA ging es wie gehabt weiter – das ist durchaus deprimierend. Nicht weil ich kritisiert werde, sondern weil es die Aktivisten auf der Seite der linken Demokraten nicht kümmert, ob sie die Wahl gewinnen. Wer z.B. eine Frau in Texas schützen will, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen möchte, oder einen schwarzen Autofahrer in Oklahoma, muss in diesen Gegenden Wahlen gewinnen. Diesbezüglich scheint Gleichgültigkeit zu herrschen. Ich habe erkannt, wie stark symbolisch und selbstverstärkend die Politik der Identitätsbewegung wirkt und wie sehr sie dem Anliegen im Weg steht, im Land wieder eine Mehrheit für die Demokraten zu bilden. Die Reaktion im Ausland bestand dagegen aus interessierter Neugier daran, wie sich die Sache entwickelt. Wie kann es weitergehen? Wie können Linke wieder Macht erlangen?

Was ist Ihr Hauptproblem mit Identitätspolitik? Und warum haben Sie Ihre Einwände gerade zu diesem Zeitpunkt, nach der Wahl Trumps, formuliert?

Es gibt zwei Arten von Identitätspolitik. Einmal die alte Identitätspolitik, bei der es sich tatsächlich um eine Form der Interessenpolitik handelt. Bei der frühen Bürgerrechtsbewegung oder der frühen Frauen- oder Homosexuellenbewegung wurden Menschen mobilisiert, die das gemeinsame Ziel hatten, für ihre Interessen innerhalb unserer politischen Institutionen zu kämpfen. Ihnen ging es darum, innerhalb unserer Institutionen langfristig etwas zu bewegen.

„Kindern wird schon in sehr jungen Jahren ihre Identität vermittelt.“

Schrittweise hat sich von den 1980er-Jahren bis heute die Ausrichtung auf das Individuum verschoben, weg von gemeinsamen Eigenschaften und einer Vorstellung davon, wie wir zusammen eine gemeinsame Agenda verfolgen können. Bei Identitätspolitik in diesem Land geht es immer mehr um Selbstentfaltung, Selbstbehauptung und Selbstfindung. Somit ist der politische Horizont junger Leute, die in dieser Atmosphäre aufwachsen, auf Themen beschränkt, die die zufällige Definition ihrer Identität betreffen. (Und Identität bildet inzwischen eine Mischung von Dingen: Geschlechtsidentität, Ethnie usw.) Dies hat also zu einer Art innerer narzisstischer Wende geführt, die von Gleichgültigkeit begleitet ist und vom Unverständnis dessen, wie sich politisch tatsächlich langfristig etwas erreichen lässt. Diese Wendung nach innen und die damit einhergehende Radikalisierung haben zu einer sehr subjektivierten Politik geführt.

Wenn ich ein politisches Ziel und eine politische Position habe, kann ich darüber mit anderen diskutieren und meine Argumentation und meine Gründe vorbringen. Wenn die politische Position aber aus der Frage erwächst, wie man sich im Intimleben definiert und wie man seine subjektiven Erfahrungen begreift, wird man kein großes Interesse daran entwickeln, sich mit Leuten auseinanderzusetzen, die sehr kritisch sind. Man wird dann sehr sensibel, sieht sein Ich angegriffen, nicht seine Argumente oder seine politische Haltung. Sobald das passiert, werden Menschen gleichgültig und wenden sich nicht nur von der praktischen Politik ab, sondern werden auch in politischen Debatten intolerant. Das ist einer der Gründe für die hysterischen Reaktionen auf die politische Debatte an US-Universitäten, etwa Versuche, Leute zum Schweigen zu bringen oder Bedenken hinsichtlich von „Safe Spaces“. Das liegt an der inneren subjektiven Wende.

Identitätspolitik wird von Konservativen oft als Thema für sogenannte „Schneeflocken“ abgetan. Stimmt das? Oder ist narzisstische, identitätsgetriebene Politik schon länger ein Problem, nicht nur in der aktuellen Generation?

Das hat sich tatsächlich seit den 1980er-Jahren entwickelt, sogar in unserem Bildungssystem. Kindern wird schon in sehr jungen Jahren ihre Identität vermittelt. Der Staat New York veröffentlicht z.B. Curricula-Empfehlungen für Programme ab der Grundschule. Ich habe mir eine davon vor einiger Zeit angeschaut. Ein Vorschlag ist, dass die Kinder ein Tagebuch über ihre Identität führen – im Kindergarten, ab sechs Jahren. Jedes Jahr fügen sie Dinge hinzu, sodass ein kleines Leseheftchen darüber entsteht, wie sie verschiedene Aspekte ihrer Identität entdeckt haben, ihren ethnischen Hintergrund, später ihr Geschlecht usw.

„Unter jungen Leuten gibt es z.B. heute wenig Interesse an Außenpolitik, weil sie mit ihren Identitäten nichts zu tun hat.“

Schaut man sich US-Filme an oder den derzeitigen Umgang mit Diversität in US-Firmen, dann wird Identität als das geheime innere Ich eingebracht, als der kleine Homunkulus, der das wahre Ich bildet und aus all dem Beiwerk besteht, das man beliebig mitnehmen oder fallenlassen kann. Diese Identitäten sollen beschützt und kultiviert und nicht angegriffen werden. Das ist kein psychologisches Modell, das Leuten die politische Diskussion über Dinge erschließt, darunter auch solche, die nicht notwendigerweise was mit ihnen persönlich zu tun haben. Unter jungen Leuten gibt es z.B. heute wenig Interesse an Außenpolitik, weil sie mit ihren Identitäten nichts zu tun hat.

Lassen Sie uns auf die verpatzte Wahl von Hillary Clinton kommen, über die Sie viel gesprochen haben. Sie hat sich auf das Feld der Identitätspolitik begeben und versucht, es zu ihrem Vorteil zu nutzen. Ist sie vor allem darüber gestolpert, dass sie Identität politisiert hat?

Vor allem? Nein. Zunächst einmal hat sie ja die Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereinigt. Und bei einer Niederlage spielen immer mehrere Faktoren eine Rolle. Von einigen lässt sich sagen, hätte sie da richtig gehandelt, dann hätte dies bedeuten können, dass sie die Wahl gewinnt. Z.B., wenn sie erst am Ende in bestimmte Staaten gegangen wäre. Jeder dieser Fehler hat zu ihrer Niederlage beigetragen. Sie ist hingegangen und hat über all die Gruppen gesprochen, die zu den Lieblingen der Demokratischen Partei gehören – bestimmte Minderheiten, Gendergruppen, Frauen usw. (In der Unterstellung, dass nur Demokraten wissen, was Frauen möchten oder dass alle Frauen dasselbe denken.) Aber sie hat allerhand Menschen im Land außen vorgelassen. Rund 20 Prozent der US-Amerikaner halten sich selbst für Evangelikale – sie hat Religion in dieser Weise überhaupt nicht erwähnt. Ungefähr 37 Prozent des Landes liegen im Süden – sie hat den Süden nie direkt angesprochen. Usw. Am Ende hatte sie eine kleine Sammlung bevorzugter Identitäten und hat andere ausgelassen. Wenn man die ganze Zeit über diese Gruppen spricht, ist es unvermeidlich, dass Leute, die zu keiner dieser Gruppen gehören, sich entweder ausgeschlossen fühlen (deshalb sollte man besser jeden erwähnen) oder ein Gruppenbewusstsein entwickeln, sofern sie keines haben – wenn jeder zu einer Gruppe gehört, dann müssen sie das auch tun.

Nehmen Sie den Aufstieg weißer Identität. Es gibt alle möglichen Faktoren, die zu weißen Überlegenheitsvorstellungen („White Supremacy“, Anm. der Red.) beitragen, und die gibt es. Wenn man sich aber Umfragen anschaut, beginnt der derzeitige steile Zuwachs der gekränkten weißen Bevölkerung bereits um 2014. Dazu hat die linke Konzentration auf Identität beigetragen, und auch, wie dies von den rechten Medien genutzt wurde. Es wurde zur Waffe für Fox News und Breitbart, die Demokraten so hinzustellen, als wären sie nur mit diesen Gruppen befasst und nicht mit dem Fox-Zuschauer. In dieser Lage möchte man nicht sein.

„Es ist notwendig, allgemeine Prinzipien zu formulieren, die für verschiedene Gruppen in unterschiedlicher Weise gelten.“

Macht die Politisierung der Identität nicht auch politische Debatten unauflöslich? Es kann zwischen wettstreitenden Identitäten keinen Kompromiss geben, sondern nur Wertekonflikte im Weberschen Sinne …

Wenn man das so radikal zuspitzt, vielleicht. Andererseits gibt es verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Interessen. Das ist in einem demokratischen politischen System normal – es entstehen Interessengruppen. Man kann über Interessengruppen sprechen, ohne das Wort Identität auch nur in den Mund zu nehmen. Afroamerikaner haben einige gemeinsame Anliegen und das ist ziemlich normal. Es ist wichtig, dass die Leute in die alltägliche politische Arbeit einbezogen werden. Dazu gehört: einer Partei beitreten, Kompromisse schließen und eine Rhetorik finden, die Wähler anzieht. Es ist außerdem notwendig, allgemeine Prinzipien zu formulieren, die für verschiedene Gruppen in unterschiedlicher Weise gelten. Es kommt darauf an, dass sich alle an diese Prinzipien gebunden fühlen.

In meinem Buch spreche ich von zwei grundlegenden Prinzipien, die die amerikanische Linke seit der Progressiven Ära belebt haben. Eines ist gesellschaftliche Solidarität, das andere gleicher Schutz durch das Gesetz. Das kann man als politische Botschaft ausgeben – ich gehe davon aus, dass sich viele unterschiedliche Menschen davon angesprochen fühlen. Man kann aber unterschiedliche Dinge auf unterschiedliche Gruppen anwenden, weil sie sich in unterschiedlichen Situationen befinden. Am Beispiel eines arbeitslosen Fabrikarbeiters in Ohio, dessen Kind opiatsüchtig ist und dessen Wohnort den Bach runter geht, lässt sich Solidarität erklären: Solidarität bedeutet, dass wir sie unterstützen. Weil Bürger keine totgefahrenen Tiere am Straßenrand sind. Andererseits gibt es den schwarzen Autofahrer, der die Nase voll davon hat, ständig von der Polizei angehalten zu werden, weil er schwarz ist. Ihm kann man erklären, dass das Prinzip des gleichen Schutzes durch das Gesetz auch für ihn gilt. Unterschiedliche Gruppen haben also verschiedene Interessen und Anliegen, aber die allgemeine Botschaft gilt für alle.

Ärgert es Sie als Linken, dass Kritiker der Identitätspolitik oft als gestrig dargestellt werden – und als rechts?

Ja, das ärgert mich. Natürlich ärgert mich das. Gleich nach der Veröffentlichung meines Artikels in der New York Times hat eine Kollegin von der Columbia-Universität, die ich noch nie getroffen habe, einen Artikel in der LA Review of Books veröffentlicht, in dem sie mich mit David Duke, dem Kopf des Ku-Klux-Klans, verglich. Sie schrieb, dass wir beide weiße Rassisten sind und, obwohl wir uns unterschiedlich kleiden, auf dasselbe Ziel hinarbeiten. Ich glaube, jedes Mal, wenn ich des Rassismus bezichtigt werde, antworte ich, dass ich zu viele weiße Rassisten kenne. Ich hänge keiner Illusion über weiße Überlegenheitsgefühle an. Ich empfinde es vor allem als sehr anstrengend für mein politisches Lager. Wenn dies die Themen sind, über die sich die Leute Gedanken machen, dann bringen wir gerade täglich Steve Bannon das Frühstück ans Bett. Die Gleichgültigkeit dem gegenüber lässt mich verzweifeln.

„Es fehlt der Ansatz, dass man in einer Gesellschaft sowohl Pflichten als auch Rechte hat.“

Hoffen Sie auf ein Revival des klassischen liberalen Subjekts, also eines universellen Individuums, das mit Rechten ausgestattet ist? Oder etwas anderes?

Ich bin für eine Art bürgerschaftlichen Liberalismus. Eine Form des Liberalismus, die auf der Vorstellung basiert, dass wir alle Bürger sind. Und als Bürgern stehen uns nicht nur etwas zu, sondern wir haben auch Pflichten gegenüber anderen Bürgern. Es handelt sich um eine bürgerschaftliche Pflicht. Bei der Individualisierung und Atomisierung unserer Gesellschaften und bei der Individualisierung unserer politischen Rhetorik fällt der gesamte Bereich der Verpflichtungen hinten runter. Es fehlt der Ansatz, dass man in einer Gesellschaft sowohl Pflichten als auch Rechte hat.

In einem weiteren Buch möchte ich mich gerne der Frage widmen, was es heißt, ein demokratischer Bürger zu sein und was es bedeutet, dass wir uns selbst regieren – was dies von uns fordert und was wir daran haben. An diesem Punkt kann ein politisches Programm ansetzen, das auf dem Gedanken beruht, dass wir eine Republik sind – kein Parkplatz, kein Campingplatz, keine Ansammlung von Elementarteilchen. Wir sind eine Körperschaft und das bedeutet, dass wir bestimmte gegenseitige Verpflichtungen haben. Wir haben eine Zukunft und ein Schicksal gemein und darauf können wir gemeinsam hinarbeiten.

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