06.09.2022

Die seltsame Symmetrie zwischen Islamismus und Woke

Von Daniel Ben-Ami

Titelbild

Foto: Amrei-Marie via Wikimedia / CC BY-SA 4.0

Die Ähnlichkeiten zwischen dem Islamismus und dem Wokeismus gehen tiefer als auf den ersten Blick ersichtlich.

Die Reaktion auf den brutalen Messerangriff auf Salman Rushdie erinnert uns an die erheblichen Überschneidungen zwischen Islamismus und Identitätspolitik. Die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden gehen viel weiter, als allgemein angenommen wird.

Zwar haben die meisten Politiker und Kommentatoren die Gewalt gegen den in Indien geborenen Romanautor verurteiltet – mit Ausnahme einiger, die extreme Randgruppen repräsentieren. Aber es gab auch ein weit verbreitetes Gefühl, zumindest in woken und islamistischen Kreisen, dass der Autor sich die Gewalt teilweise selbst zuzuschreiben hatte. In beiden Kreisen ist die Ansicht verbreitet, er hätte nicht in einer Weise schreiben dürfen, die andere verletzen könnte. Beide sind auch der Meinung, die freie Rede müsse eingeschränkt werden, wenn sie als beleidigend oder verletzend empfunden werden kann. Das bedeutet in der Praxis natürlich, dass es überhaupt keine Redefreiheit gibt, da es immer einige Menschen geben wird, die sich über Ansichten außerhalb des Mainstreams aufregen.

Insbesondere der Islam soll, in der Sicht mancher, vor Kritik abgeschirmt werden. Islamisten glauben natürlich, dass der Islam über jeden Vorwurf erhaben sein sollte. Aber auch die Woke Linke hält es für notwendig, den Islam vor Kritik zu schützen, da sie ihn als Religion der Unterdrückten betrachten. Diese Linken sind der Ansicht, dass die Öffentlichkeit so vorurteilsbelastet oder bigott ist, dass negative Äußerungen über den Islam leicht zu Pogromen gegen Muslime führen könnten.

„Beide sind der Ansicht, dass die ihrer Meinung nach schwache muslimische Gemeinschaft vor dem ihrer Meinung nach grassierenden Rassismus in der Öffentlichkeit geschützt werden muss. Beide sind von der Identitätspolitik durchdrungen."

Manche dieser Überschneidungen zwischen Islamismus und Wokeismus sollten also für jeden, der kritisch darüber nachdenkt, zu erkennen sein: Beide, Islamismus und die Woke Bewegung, glauben, dass die freie Meinungsäußerung eingeschränkt werden sollte, wenn sie Anstoß erregt. Beide sind der Ansicht, dass die ihrer Meinung nach schwache muslimische Gemeinschaft vor dem ihrer Meinung nach grassierenden Rassismus in der Öffentlichkeit geschützt werden muss. Beide sind von der Identitätspolitik durchdrungen – wobei die muslimische Identität einen besonderen Platz in ihrem Weltbild einnimmt.

Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass die Ähnlichkeiten zwischen dem Islamismus und dem Wokeismus noch tiefer gehen, als auf den ersten Blick ersichtlich. Um zu verstehen, wie das funktioniert, muss man zunächst die wichtigsten Merkmale dieser beiden Weltanschauungen genauer untersuchen.

In Bezug auf den Islamismus ist es wichtig festzustellen, dass er, wie ich bereits an anderer Stelle argumentiert habe, am besten als eine Form von religiöser Politik zu verstehen ist. Er ist nicht das Gleiche wie  – und steht sogar im Gegensatz zum-  Islam als religiösem Glauben mit weltweit etwa zwei Milliarden Anhängern. Der Islamismus entstand erstmals in den 1920er Jahren in Ägypten, mit der Gründung der Muslimbruderschaft, und hat sich seitdem weltweit verbreitet. Obwohl er in mehrheitlich vom sunnitischen Islam geprägten Gemeinschaften entstanden ist, hat er auch die schiitische Welt beeinflusst, vor allem den Iran.

Die Identitätspolitik hingegen, oder das, was manchmal als „Woke“-Philosophie bezeichnet wird, gehört durchaus zum Mainstream. Obwohl sie oft als radikale Randmeinung angesehen wird, sollte man sie eher als eine Eliten-Ideologie betrachten. Sie rückt immer mehr ins Zentrum des Weltbildes der technokratischen Mittelschicht, die heute die westlichen Gesellschaften beherrscht. (Präsident Joe Biden, der sich dem Trans-Aktivismus verschrieben hat, ist ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Trend).

Natürlich sind der Islamismus und Wokeismus nicht vollkommen identisch. Die Unterschiede zwischen ihnen sind jedoch oft oberflächlich. Islamisten verwenden die Sprache der Religion, während Anhänger der Identitätspolitik das Vokabular der sozialen Gerechtigkeit benutzen. Beide Seiten neigen dazu, sich unterschiedlich zu kleiden, wobei die Islamisten oft religiöse Gewänder tragen. Grundlegender ist die unterschiedliche Haltung gegenüber Frauen und Schwulenrechten.

Trotzdem sind die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gruppen sehr groß. Was folgt, ist eine Auflistung dieser Gemeinsamkeiten:

Beide Bewegungen lehnen die mit der europäischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts assoziierten Ideen ab. Dazu gehören Vorstellungen von Vernunft, Wissenschaft (als ergebnisoffene Forschung), Toleranz, Freiheit und Fortschritt. Sie verkörpern eine Reaktion gegen die Moderne und stehen einer liberalen Politik im weitesten Sinne des Wortes feindlich gegenüber. Aus der Perspektive beider ist es daher sinnvoll und erstrebenswert, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Für die Islamisten bedeutet dies ein Verbot der Blasphemie, während die Woken versuchen, sogenannte „Hassrede“ zu verbieten. Beide Auffassungen unterstützen auch die Unterdrückung von politischem und religiösem Dissens. So verurteilt die „Woke“-Bewegung beispielsweise diejenigen, die die Mainstream-Politik zum Klimawandel kritisieren, als „Leugner“.

„Weder für die Islamisten noch für die Woken sollte die Öffentlichkeit der wichtigste Schiedsrichter bei politischen Entscheidungen sein."

Sowohl der Islamismus als auch die Woke-Ideologie stehen der Demokratie und dem Nationalstaat skeptisch gegenüber. So stellt der Politologe und Autor Bassam Tibi in seinem scharfsinnigen Buch Islamism and Islam (Yale University Press) fest: „Alle Islamisten verfolgen das Ziel, eine islamische Staatsordnung, den nizam Islami, zu errichten.“ Für Islamisten umfasst die Umma (Weltgemeinschaft der Gläubigen) die potenziellen Subjekte dieser neuen Ordnung. Hier gibt es Parallelen zur globalistischen Sichtweise der westlichen Eliten, die sich die Europäische Union und andere transnationale Organisationen zu eigen machen. Beide Seiten verabscheuen die Idee des Nationalstaates als Form der demokratischen Gemeinschaft.

Im Zusammenhang mit der Feindseligkeit gegenüber dem Nationalstaat steht die Ablehnung der Idee der Volkssouveränität. Weder für die Islamisten noch für die Woken sollte die Öffentlichkeit der wichtigste Schiedsrichter bei politischen Entscheidungen sein. Stattdessen haben sie eine elitäre Vorstellung von Souveränität. Die Islamisten haben eine Vorstellung von einem Staat, der auf der Scharia (islamisches Recht) und der Herrschaft Gottes beruht. Die Öffentlichkeit spielt in dieser Vorstellung von Souveränität keine Rolle. Für die woken Eliten werden die wichtigsten Entscheidungen am besten von einer technokratischen Kaste getroffen – ihrer säkularen Version einer Priesterschaft.

Beide verkörpern Antisemitismus. Der Islamismus war von seinen Anfängen in den 1920er Jahren an vom Hass auf Juden geprägt. Heutzutage wird dieser Hass oft explizit geäußert, nimmt aber manchmal auch die verschlüsselte Form eines Hasses auf Israel an. Die Sprache der westlichen Identitätspolitik ist in einem wichtigen Punkt anders. Expliziter Antisemitismus wurde im Westen nach dem Holocaust zum Tabu. Doch die heutige „woke“ kulturelle Elite verwendet den Antizionismus oft gerne als eine verschlüsselte Form des Antisemitismus. Ihre Abscheu gegenüber Israel geht weit über die Art und Weise hinaus, wie sie über andere Nationen sprechen. In zunehmendem Maße wird auch von einem weißen Privileg gesprochen – wobei Juden oft als dessen größte Nutznießer betrachtet und präsentiert werden.

Selbst wenn es um die Unterstützung von Gewalt geht, ist der Unterschied zwischen den beiden nicht so groß wie allgemein angenommen. Islamistische Dschihadisten sind per Definition gewaltbereit, aber die meisten Islamisten fallen nicht in diese Kategorie. Die so genannten partizipatorischen oder institutionalistischen Islamisten üben in der Regel selbst keine Gewalt aus, obwohl sie oft bereit sind, sie zu unterstützen. Die Anhänger von Woke neigen dazu, selbst keine Gewalt anzuwenden, aber das ist kein ehernes Gesetz. Einige sind zum Beispiel bereit, Zwang anzuwenden, um Unterstützer Israels aus Universitäten zu vertreiben.

Zuletzt ist noch zu sagen, dass die Diskussion in Frankreich mit seiner verfassungsmäßigen Bindung an den Laizismus sich deutlich von der den USA oder Großbritannien zu unterscheiden scheint. Dort wird seit etwa zwei Jahrzehnten eine Debatte über den sogenannten Islamo-Gauchisme geführt. Einige haben dort auch die politische Linke für ihre selbstgefällige Haltung gegenüber dem Islamismus kritisiert, aber das Thema erfordert eine weitere nähere Betrachtung. (John Jenkins von der britischen Denkfabrik Policy Exchange ist eine prominente Stimme zu diesem Thema).

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