02.09.2022

Cancel Culture verstärkt den Antisemitismus

Von Daniel Ben-Ami

Judenhass lässt sich leichter bekämpfen, wenn er in der Öffentlichkeit steht und nicht ins Verborgene verdrängt wird. Personen zu canceln stiftet hingegen Verwirrung und nährt Verschwörungsdenken.

Es gibt wohl kaum einen Bereich, in dem es sinnvoller erscheint, rückständige Ansichten einzudämmen und zu verbieten als den Antisemitismus. Die lange Geschichte des Judenhasses, zu der natürlich auch der Holocaust gehört, zeugt vom völkermörderischen Potenzial dieser besonderen Form des Rassismus. Vor diesem Hintergrund kann man leicht zu dem Schluss gelangen, dass die Vorteile der Eindämmung antisemitischer Aussagen den Schutz der freien Meinungsäußerung überwiegen.

Deutschland ist bei Weitem nicht das einzige Land mit einer hässlichen antisemitischen Vergangenheit, aber seine Geschichte ist durch die Nazizeit besonders dunkel eingefärbt. Aus diesem Grund kommen Deutschlands führende Politiker oft zu dem Schluss, dass die Bundesrepublik eine besondere moralische Verantwortung trägt. So sagte die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 in einer Rede vor dem israelischen Parlament (der Knesset): „Ich bin zutiefst davon überzeugt: Nur wenn sich Deutschland zu seiner immerwährenden Verantwortung für die moralische Katastrophe in der deutschen Geschichte bekennt, können wir die Zukunft menschlich gestalten. Oder anders gesagt: Menschlichkeit erwächst aus der Verantwortung für die Vergangenheit.“ 1

Obwohl es in der Bundesrepublik kein generelles Verbot antisemitischer Äußerungen gibt, untersagt § 86a des Strafgesetzbuches die Verwendung von Wörtern und Symbolen, die mit der Nazizeit in Verbindung gebracht werden. 2 Das Verbot gehört zum Selbstverständnis der Bundesrepublik als einer wehrhaften Demokratie. Die Einschränkungen mancher liberalen Freiheiten werden als notwendig erachtet, um die Integrität des demokratischen Systems zu schützen. Anders ausgedrückt: Ein gewisses Maß an Intoleranz wird akzeptiert, damit besonders reaktionäre Ansichten verboten werden können. So gesehen gab es im Nachkriegsdeutschland also bereits eine gewisse etablierte Prädisposition für die Cancel Culture.

In diesem Beitrag werde ich darlegen, warum ich glaube, dass es trotz der unbestreitbaren historischen Geißel des Antisemitismus falsch ist, antisemitische Ansichten zu verbieten. Meine Argumentation gründet zum Teil auf dem grundlegenden Prinzip der freien Meinungsäußerung. Die freie Rede kann nicht wirklich frei sein, wenn bestimmte Ansichten, selbst die hässlichsten, verboten werden. Unter solchen Umständen muss man eher von lizenzierter Rede als von freier Meinungsäußerung sprechen.

„Der Antisemitismus taucht meist in verkleideter Form wieder auf.”

Noch wichtiger aber ist, dass die Versuche, antisemitische Ansichten zu unterbinden oder zumindest zu delegitimieren, nicht funktionieren. Im Gegenteil: Der Antisemitismus taucht meist in verkleideter Form wieder auf. Oft werden antisemitische Ansichten in der Sprache des Antizionismus neu verpackt. Durch die Verwischung der Kernfragen, um die es geht, wird es schwieriger und nicht einfacher, antisemitischen Fanatikern entgegenzutreten.

Ich werde versuchen, einige wichtige Unterscheidungen zu treffen, um die Debatte über Cancel Culture und Antisemitismus in Deutschland besser einzuordnen. Erstens will ich darlegen, warum es wichtig ist, deutlich zwischen Meinungsäußerungen und Gewalttaten zu unterscheiden. Menschen sollten ihre Meinung frei äußern können, auch wenn sie beleidigend ist. Gewalttaten aber müssen mit der vollen Härte des Gesetzes geahndet werden. In den nächsten Abschnitten werde ich dann verschiedene Formen des Antisemitismus genauer analysieren. Dazu gehören die relativ selten offen geäußerten Formen des Judenhasses, die in der Regel bei der extremen Rechten und bei Islamisten zu finden sind. Die impliziten Formen des Antisemitismus, um die es anschließend gehen wird, kommen dagegen häufig in Anti-Israel-Kampagnen zum Ausdruck. Abschließend will ich auf die große Gefahr hinweisen, die ich darin sehe, dass das Schreckgespenst des Antisemitismus dazu missbraucht wird, diejenigen zu delegitimieren, die sich außerhalb des politischen Mainstreams befinden. Dazu gehören Kritiker der Corona-Maßnahmen, Impfgegner und sogar EU-Skeptiker. 3 Diese Instrumentalisierung der antisemitischen Bedrohung – mit der versucht wird, politische Gegner „auszuschalten“ – birgt ein erhebliches Risiko, einen antisemitischen Backlash in der Öffentlichkeit auszulösen.

Worum es bei der Redefreiheit nicht geht

Bevor wir uns der vertrackten Frage der Bekämpfung antisemitischer Äußerungen zuwenden, ist es wichtig klarzustellen, wie ich Redeverbote definiere und verstehe. Dies wird hoffentlich dazu beitragen, die Gefahr von Missverständnissen zu verringern.

Zunächst einmal ist die freie Meinungsäußerung, die im weitesten Sinne sowohl die Verwendung von Symbolen als auch die Rede umfasst, ausdrücklich nicht mit Gewalt gleichzusetzen. Es sollte kein Zweifel daran bestehen, dass die Anwendung antisemitischer Gewalt mit der vollen Härte des Gesetzes geahndet werden muss. Das historische Problem im Deutschland des 20. Jahrhunderts bestand darin, dass auf gewalttätige Handlungen oft nicht mit ausreichender Härte reagiert wurde.

Glücklicherweise sind Gewalttaten im heutigen Deutschland relativ selten, aber sie sind nicht unbekannt. Insgesamt wurden in einer Untersuchung des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) e.V. im Jahr 2020 deutschlandweit ein Akt extremer Gewalt und 39 Angriffe festgestellt. 4 Weitere Vorfälle betrafen unter anderem Bedrohungen und gezielte Sachbeschädigungen. Einem neueren Bericht des RIAS und des IIBSA (Internationales Institut für Bildung Sozial- und Antisemitismusforschung e.V.) zufolge kam es während des zweiwöchigen Konflikts zwischen Israel und der im Gazastreifen ansässigen Terrororganisation Hamas im Mai 2021 zu einem besonders deutlichen Anstieg antisemitischer Vorfälle. 5

„Oft werden antisemitische Ansichten in der Sprache des Antizionismus neu verpackt.”

Der Angriff eines schwer bewaffneten Neonazis auf eine Synagoge in Halle (Sachsen-Anhalt) am jüdischen Feiertag Jom Kippur (Versöhnungstag) im Jahr 2019 war ein Beispiel mörderischer Gewalt, wie sie zum Glück bisher eher selten vorkommt. Er erschoss zwei Menschen außerhalb der Synagoge, aber der Vorfall hätte noch schlimmer ausgehen können, wenn es ihm gelungen wäre, das Sicherheitssystem des Gebetshauses zu durchbrechen und in die Räume zu gelangen.

Paradoxerweise aber ist das Bekenntnis zur Meinungsfreiheit eng mit der Ablehnung von Gewalt verbunden. Die freie Meinungsäußerung gibt jedem die Möglichkeit, seine Meinung zu einem bestimmten Thema zu äußern. Im Gegensatz dazu ist Gewalt von Natur aus mit Zwang verbunden.

Tatsächlich liefert die deutsche Geschichte ein klares Beispiel für das umgekehrte Verhältnis zwischen Gewaltakten auf der einen Seite und der freien Meinungsäußerung auf der anderen. Einerseits gab es in der Weimarer Republik Beispiele für Gesetze, die sich gegen das, was wir heute „Hate Speech“ nennen würden, richteten. Dazu gehörte das Verbot von Beleidigungen. Es ermöglichte die Verhängung von Geldstrafen und gelegentlich auch Gefängnisstrafen für diejenigen, die einzelne Juden (im Gegensatz zur jüdischen Gemeinschaft als Ganzes) beleidigt hatten. 6 Ein weiteres Beispiel ist das Republikschutzgesetz von 1922, das sich zwar hauptsächlich gegen die extreme Rechte richtete, aber auch zur Zensur von Sprache und Schrift verwendet wurde. 7

Demgegenüber wurde die nationalsozialistische Gewalt allzu oft auf die leichte Schulter genommen. Das berüchtigtste Beispiel liefert Adolf Hitler selbst, der nach einem versuchten Putsch im November 1923 in München (dem Hitler-Putsch) zunächst nur zu fünf Jahren Haft wegen Hochverrats verurteilt wurde. Freigelassen wurde er bereits Ende 1924. Seine kurze Zeit im Gefängnis nutzte er, um sein autobiografisches und extrem antisemitisches Manifest „Mein Kampf“ zu verfassen.

Ein weiteres mögliches Missverständnis bei der Bekämpfung des Antisemitismus ist die Annahme, dass die Verteidigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung die passive Hinnahme bigotter Meinungen bedeutet. Nichts könnte falscher sein: Mit der Verteidigung der freien Meinungsäußerung geht die Verantwortung einher, rückständige Ideen zu hinterfragen und herauszufordern. Wie oben bereits angedeutet, besteht ein Grund für die Befürwortung der Redefreiheit darin, dass schlechte Ideen leichter bloßgestellt und hinterfragt werden können, wenn sie in der Öffentlichkeit stehen.

„Es sollte kein Zweifel daran bestehen, dass die Anwendung antisemitischer Gewalt mit der vollen Härte des Gesetzes geahndet werden muss.” 

Offene Formen von Antisemitismus

Eine unbeabsichtigte Folge der Tabuisierung von antisemitischen Äußerungen ist, dass diese Art von Rassismus oft eine verdeckte Form annimmt. So stimmte in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Zentralrats der Juden in Deutschland aus dem Jahr 2021 eine sehr große Mehrheit – 92 Prozent der Befragten – der Aussage zu: „Ich habe nichts gegen Juden“. Aber auf die Frage, ob Juden einen überproportionalen Einfluss auf die deutsche Politik hätten (eine eindeutig antisemitische Ansicht), antworteten 24 Prozent mit „ja“. Und die Frage, ob Juden aus dem Holocaust „einen Vorteil ziehen“, fand bei 30 Prozent eine Bejahung. 8

Offener Antisemitismus tritt in der Regel entweder am äußersten rechten Rand oder in islamistischen Kreisen zutage. Ein deutliches Beispiel lieferte die nicht genehmigte Demonstration von etwa 180 Personen in der Nähe einer Synagoge in Gelsenkirchen während des Gaza-Konflikts im Mai 2021. 9 Obwohl der Protest durch einen Konflikt im Nahen Osten ausgelöst wurde, war den Tenor der Demonstration eindeutig antisemitisch. Ein vom Zentralrat auf Twitter veröffentlichtes Video zeigt, wie viele der Demonstranten „Scheiß Juden“ skandieren. 10 Sowohl der Ort der Demonstration – vor einem jüdischen Gebetshaus – als auch die Slogans wiesen also eindeutig auf den antisemitischen Charakter hin.

Die Polizei leitete mehrere Strafverfahren gegen die Demonstranten ein, unter anderem wegen Volksverhetzung, Landfriedensbruchs, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung von Einsatzkräften. 11 Auch Verstöße gegen die Corona-Beschränkungen wurden registriert. Letztendlich wurde mindestens ein Mann wegen der an diesem Tag begangenen Straftaten verurteilt. Ein 30-Jähriger wurde vom Amtsgericht Gelsenkirchen zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, weil er antisemitische Parolen skandiert haben soll. 12

Es ist von außen natürlich schwer zu sagen, was genau am Tag der Demonstration passiert ist. Aber das Prinzip sollte zumindest klar sein: Die Meinungsäußerung – wie hasserfüllt sie auch gewesen sein mochte – sollte nicht verboten werden. Wenn eine Demonstration jedoch in Gewalt umschlägt, z.B. durch Angriffe auf jüdische Gläubige, dann muss dies verboten werden. In diesem Fall wurde ein Mann, zumindest den Presseberichten nach zu urteilen, wegen übler Äußerungen und nicht wegen Anstiftung zur Gewalt verurteilt. Wenn das der Fall ist, dann sollte dies als Verletzung der Meinungsfreiheit betrachtet werden.

„Mit der Verteidigung der freien Meinungsäußerung geht die Verantwortung einher, rückständige Ideen zu hinterfragen und herauszufordern.”

Der Grundsatz der freien Meinungsäußerung stand im Jahr 1977 im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung in den USA: Die Neonazi-Organisation National Socialist Party of America wollte eine Demonstration organisieren, die durch den Chicagoer Vorort Skokie führte. Obwohl die Stadt einen großen jüdischen Bevölkerungsanteil hat, darunter viele Überlebende des Holocaust, entschied der Oberste Gerichtshof der USA mit knapper Mehrheit, dass ein Verbot der Demonstration eine Verletzung des verfassungsmäßig verankerten Rechts auf freie Rede darstellen würde. So schreibt die US-Verfassung in ihrem berühmten „First Amendment“ vor, dass der Kongress kein Gesetz erlassen darf, welches die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes, die Regierungspolitik zu kritisieren (Petitionsrecht), einschränkt. In dem bahnbrechenden Urteil zu Skokie wurde festgestellt, dass ein Verbot der Demonstration einem Verstoß gegen die Rede- und Versammlungsfreiheit gleichkäme. Trotzdem ging sie letztlich durch das Zentrum von Chicago und nicht durch Skokie.

Der Fall Skokie wird heute als Meilenstein im Kampf für die Verteidigung bürgerlicher Freiheiten in den USA betrachtet. Aryeh Neier, der damalige Geschäftsführer der American Civil Liberties Union, entschied sich dazu, das Recht der Neonazis auf eine Demonstration durch Skokie zu verteidigen. 13 Neier wurde 1937 in Berlin in eine jüdische Familie geboren. Zwei Jahre später flüchtete er mit seinen Eltern aus Nazideutschland. Trotzdem unterstützte er das Recht der Neonazis, durch Skokie zu marschieren. Warum? Weil er sich der Freiheit zutiefst verbunden fühlte.

Das Skokie-Urteil gilt als ein Präzedenzfall in der amerikanischen Rechtsprechung. Doch es ist unwahrscheinlich, dass heute ein ähnliches Urteil gefällt würde. Die Angst vor „Hate Speech“ hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen, während die Verbundenheit mit der Redefreiheit abgenommen hat. Im heutigen Deutschland ist es jedoch eindeutig der Fall, dass offen antisemitische Äußerungen als illegal angesehen werden können.

Antizionismus und Antisemitismus: ein Wettlauf ums gegenseitige Canceln

Wie bereits erwähnt, ist ein offenes Bekenntnis zum Antisemitismus im heutigen Deutschland eher die Ausnahme als die Regel. In vielen Fällen verschwimmt die Grenze zwischen dem, was Antisemitismus ist, und dem, was er nicht ist. Am deutlichsten wird dies bei der Diskussion über Israel. Pro-Palästina-Aktivisten im Westen verstehen sich heutzutage in der Regel als Anhänger der BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestition und Sanktionen). Wie der Name schon andeutet, rufen sie zu einem akademischen und kulturellen Boykott Israels auf. Zu ihrer politischen Taktik gehören auch die Organisation von Anti-Apartheid-Wochen an Universitäten, der Boykott israelischer Waren (insbesondere solcher, die in jüdischen Siedlungen hergestellt werden) und die Forderung von Desinvestitionen in israelische Unternehmen. Ihr erklärtes Ziel ist die Beendigung der israelischen „Besetzung und Kolonisierung aller arabischen Gebiete“ und die Anerkennung „des Rechts der arabisch-palästinensischen Bürger Israels auf volle Gleichberechtigung“. Am umstrittensten ist die Forderung, dass die 7,25 Millionen palästinensischen Flüchtlinge – die Nachkommen derer, die bei der Gründung Israels 1948 geflohen sind – in ihre ursprünglichen Häuser oder auf ihre Grundstücke zurückkehren dürfen. 14 Die Organisation wurde 2005 gegründet, aber ihre Vorgeschichte reicht mindestens bis ins Jahr 2002 zurück, als westliche Wissenschaftler begannen, zum Boykott ihrer israelischen Kollegen und israelischer Institutionen aufzurufen. 15

„Unabhängig davon, ob ein bestimmter BDS-Unterstützer Antisemit ist oder nicht, hat die Organisation ein Recht darauf, gehört zu werden – auch, wenn sie Israel kritisiert und sogar sein Existenzrecht in Frage stellen will.” 

In der BDS-Literatur ist kaum etwas offen Antisemitisches zu finden, obwohl Kritiker schnell auf Forderungen hinweisen, die ihrer Meinung nach zumindest implizit antisemitisch sind. So könnte beispielsweise die Forderung nach einem bedingungslosen Recht der Palästinenser auf Rückkehr dahingehend verstanden werden, dass Israel kein Existenzrecht zugestanden wird. Es ist sicherlich richtig, dass es unter den BDS-Anhängern in den sozialen Medien und auf Demonstrationen ein antisemitisches Element gibt. Auf der anderen Seite hat BDS in vielen Ländern auch eine bedeutende jüdische Anhängerschaft.

Unabhängig davon, ob BDS bewusst antisemitisch ist oder nicht: Es handelt sich auf jeden Fall um eine Bewegung der Cancel Culture. Der Boykott israelischer Wissenschaftler zum Beispiel ist ein Versuch, ihnen das Gehör zu verweigern, anstatt ihre Argumente in Frage zu stellen. Es ist auch kaum zu verhehlen, dass die Forderungen der BDS-Bewegung an frühere Boykotte gegen Juden erinnern.

Der Bundestag hatte 2019 also Recht, als er beschloss, die BDS-Bewegung als antisemitisch zu bezeichnen. 16 Er sprach sich jedoch nicht für ein Verbot der Organisation aus, sondern begrüßte es vielmehr, dass zahlreiche lokale Behörden sich geweigert hatten, BDS oder Organisationen, die deren Ziele teilten, finanzielle Unterstützung aus Steuermitteln zu gewähren. Letzteres scheint eine vernünftige Entscheidung zu sein, da keine Organisation ein gottgegebenes Recht darauf hat, staatliche Mittel zu erhalten.

Doch unabhängig davon, ob ein bestimmter BDS-Unterstützer Antisemit ist oder nicht, hat die Organisation ein Recht darauf, gehört zu werden – auch, wenn sie Israel kritisiert und sogar sein Existenzrecht in Frage stellen will. Der Grund ist, dass die offene Debatte die beste Methode ist, um Klarheit über den Zusammenhang zwischen Israel und Antisemitismus zu schaffen. Wenn Menschen gezwungen werden, ihre Ansichten in einer zurückhaltenden oder verschlüsselten Form zu äußern, macht das die Sache nur noch schlimmer.

Der Fall Nemi El-Hassan zeigt, wie heikel und verwirrend die Diskussion um BDS werden kann. Der 28-jährigen Medizinerin und Journalistin wurde ein bereits zugesagter Job als Moderatorin der WDR-Sendung Quarks verwehrt. Dies geschah, nachdem die Bild-Zeitung enthüllt hatte, dass sie 2014 unter anderem an einer Al-Kuds-Protestdemo (Al-Kuds ist arabisch für Jerusalem) in Berlin teilgenommen hatte. Die Zeitung veröffentlichte ein Foto von ihr auf der Demonstration, auf dem sie einen Hijab (Kopftuch) und einen Kaffiyeh (traditionelle arabische Kopfbedeckung) trägt, während sie einen zweifingrigen Siegesgruß macht. Bild berichtete, dass Juden, die die traditionelle Kopfbedeckung Kippot trugen, auf der Demonstration angegriffen wurden. Gefordert worden sei auch die Zerschlagung Israels.

„Die Forderung, BDS-Unterstützer sollten von ihren Arbeitsstellen gefeuert werden, ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit.”

In einer weiteren Nachforschung stellte die Zeitung fest, dass El-Hassan in den sozialen Medien Beiträge der Organisation Jewish Voice for Peace „gelikt“ hatte. Unter den Beiträgen fanden sich solche, die die BDS-Bewegung unterstützten, und auch solche, bei denen es um Lob für verurteilte islamistische Terroristen ging, die israelische Zivilisten getötet hatten und die aus dem israelischen Gilboa-Gefängnis geflohen waren.

El-Hassans ambivalente Reaktion auf die Kampagne gegen sie zeigt, wie viel Verwirrung mit so etwas gestiftet werden kann. Einerseits gab sie dem Spiegel ein Interview, in dem sie sich umfassend entschuldigte: Sie schäme sich für das, was sie in jüngeren Jahren getan habe, sie hasse Israel nicht, sondern mache sich Sorgen um die zivilen Opfer auf beiden Seiten des Konflikts, erklärte sie. Sie sprach auch über ihren palästinensischen Familienhintergrund und betonte, dass sie jüdische Freunde habe und ihr bester Freund schwul sei. 17

Auf der anderen Seite schrieb El Hassan einen Gastbeitrag für die Berliner Zeitung mit der Überschrift „Ich bin Palästinenserin – deal with it!“. 18 Sie nutzte diese Plattform, um ihre Kritiker des antimuslimischen Rassismus zu bezichtigen, und behauptete, dass rechtsextreme Aktivisten die Kampagne gegen sie initiiert hätten. Alles in allem wollte sie sich also gleichzeitig als eine junge Frau darstellen, die in der Vergangenheit schwerwiegende Fehler begangen hat, und als ein Opfer extremer Doppelmoral und Bösartigkeit. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich anders geäußert hätte, wenn sie nicht damit zu rechnen gehabt hätte, gecancelt zu werden. Es ist natürlich unmöglich, genau zu sagen, wie sie sich geäußert hätte, wenn sie nicht um ihre Karriere hätte kämpfen müssen – aber vermutlich wäre es eine authentischere Meinungsäußerung gewesen.

Tatsächlich droht die Debatte über Israel und die Palästinenser zu einer Kampagne zu verkommen, bei der jede Seite das Canceln der jeweils anderen fordert. BDS ist zweifelsohne eine Kampagne, die darauf abzielt, Israel und seine Unterstützer zu delegitimieren – also zu vernichten. Das ist klar zu kritisieren. Aber leider begeben sich viele Gegner der BDS-Kampagne auf das gleiche Niveau. Der Springer-Verlag hat ein Recht auf seine dezidiert israelfreundliche Haltung. Die Forderung aber, BDS-Unterstützer sollten von ihren Arbeitsstellen gefeuert werden, ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit.

Der Versuch, die andere Seite zu canceln, verwirrt die Diskussion über Israel und den Antisemitismus. Antisemitismus lässt sich am besten in der Öffentlichkeit bekämpfen, anstatt die Äußerung solcher Ansichten in den Untergrund zu drängen. Eine offenere Diskussion sollte es auch erleichtern, zwischen prinzipientreuen Befürwortern der palästinensischen Rechte und verdeckten Antisemiten zu unterscheiden.

„Der Antisemitismus wird zunehmend instrumentalisiert, um Andersdenkende zu diskreditieren.” 

Der Missbrauch der Bedrohung durch Antisemitismus

Obwohl Antisemitismus in Deutschland in letzter Zeit zunehmend zum Problem wird, ist ein gefährlicher neuer Trend kaum wahrgenommen worden. Der Antisemitismus wird zunehmend instrumentalisiert, um Andersdenkende zu diskreditieren. Mit anderen Worten: Das Schreckgespenst des Antisemitismus wird benutzt, um unliebsame Meinungen „auszumerzen“. Unabhängig davon, wie man zu diesen unliebsamen Meinungen steht – und in vielen Fällen sind sie zumindest fragwürdig –, ist der Versuch, die Debatte darüber zu unterbinden, ein Angriff auf die Redefreiheit. Außerdem besteht die Gefahr, dass dies antisemitische Gegenwehr auslöst, unter anderem, weil damit der leider weit verbreiteten Ansicht, dass die Gesellschaft von einer zwielichtigen Verschwörung gelenkt wird, zu mehr Plausibilität verholfen wird.

Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, ist ein Erzvertreter dieses Ansatzes. Im Namen der „wehrhaften Demokratie“ und der „Verteidigung der Erinnerungskultur“ fordert er von der Regierung, antisemitische Straftaten schnell zu erkennen und zu ahnden. Dazu zählt er Hass und Hetze im Internet, die gesetzlich bestraft werden sollten. 19 Auch die Querdenker-Bewegung bezeichnet er als „hochgefährlich“. 20

Sein Handeln kann natürlich auf zweierlei Weise interpretiert werden. Die offizielle Lesart ist zweifellos, dass er seine Arbeit tut, indem er sich gegen Antisemitismus ausspricht. Die skeptischere Lesart ist jedoch, dass es sich um ein Beispiel dafür handelt, wie ein hoher Vertreter der Bundesregierung seine Position nutzt, um die Regierung gegen einige ihrer Kritiker zu verteidigen – auch wenn es sich um politische Gegner handelt, die oft eine verschwörungstheoretische und insgesamt abzulehnende Einstellung haben.

In jedem Fall sollte daran erinnert werden, dass friedliche und unbewaffnete Demonstrationen gegen die Beschränkungen im Zusammenhang mit Corona zumindest theoretisch durch Artikel 8 Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes geschützt sind, der das Recht auf Versammlungsfreiheit hochhält. Die Argumente der Querdenker mögen in einigen Fällen vollkommen realitätsfern sein, aber eine freie Gesellschaft sollte ihr Recht zu demonstrieren nicht außer Kraft setzen.

Auch Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, nutzte seine Position, um „Corona-Leugner“, Querdenker und Impfgegner zu kritisieren. Auch hierbei kann es sich um eine mögliche Instrumentalisierung des Antisemitismus handeln. Es sei allerdings daran erinnert, dass der Zentralrat keine völlig autonome Gemeindeorganisation ist, sondern einen Teil seiner Finanzmittel von der Bundesregierung erhält. 21

„Die Cancel Culture birgt die Gefahr, Vorurteile, die auf Verschwörungsdenken beruhen – z.B. dass Juden eine mächtige Kraft sind, die die Mainstream-Gesellschaft manipuliert –, zu verstärken.” 

Schuster störte sich insbesondere daran, dass einige der Demonstranten auf den Querdenker-Demonstrationen gelbe Davidstern-Abzeichen mit der Aufschrift „ungeimpft“ trugen. 22 Sein Einwand war durchaus verständlich, da diese Aktion zu Recht als Verharmlosung des Holocausts angesehen werden kann. Andererseits handelte es sich aber auch hier um eine Ausübung der Meinungsfreiheit. Wenn Freiheit etwas bedeuten soll, muss sie auch für diejenigen gelten, die außerhalb des politischen Mainstreams stehen.

Am fragwürdigsten war wohl die gemeinsame Kampagne des Zentralrats und vieler anderer jüdisch-deutscher Organisationen bei der Bundestagswahl im September 2021, mit der sie dafür plädierten, dass die Wähler ihre Stimme jeder Partei außer der Alternative für Deutschland (AfD) geben sollten. Unter anderem kritisierte der Appell die AfD für ihre Ablehnung der EU. 23

Dieses letzte Beispiel zeigt, wie weit die „Mission Creep“ (die schleichende Ausweitung des ursprünglichen Auftrags) bei der Abwehr von antisemitischen Äußerungen gehen kann. Es ist natürlich völlig verständlich, dass sich insbesondere jüdische Organisationen intensiv mit dem Thema Antisemitismus auseinandersetzen. In diesem Beitrag wurde sogar argumentiert, dass die Befürworter der freien Meinungsäußerung eine besondere Verantwortung dafür haben, dies zu tun. Aber die Bedrohung durch Antisemitismus zu missbrauchen, um Diskussionen über ein breites Spektrum von Themen zu unterbinden, ist eine andere Sache.

Die Cancel Culture birgt in diesem Zusammenhang die Gefahr, Vorurteile, die auf Verschwörungsdenken beruhen – z.B. dass Juden eine mächtige Kraft sind, die die Mainstream-Gesellschaft manipuliert –, zu verstärken. Die reale Bedrohung des Antisemitismus sollte nicht auf diese Weise zu einer Waffe der Politik gemacht werden. Ein solcher Ansatz macht es paradoxerweise noch schwieriger, Judenhass zu bekämpfen.

Antisemitismus muss bekämpft werden, weil er ein immanentes Übel ist. Der beste Weg, dies zu tun, besteht darin, dass solche Ideen frei geäußert werden dürfen, damit ihnen energisch widersprochen werden kann. Was auch immer die Verlockungen der Cancel Culture sein mögen: Sie macht die Sache nur noch schlimmer.

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