22.11.2023

Die Selbstentblößung der Gretatisten

Von Matthias Heitmann

Titelbild

Foto: Anders Hellberg via Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0

Die frühe Greta künstlich von der heute politisch irrlichternden Thunberg abzutrennen, dient dem Ziel, das Schwarz-Weiß-Denken der Klimabewegung nicht allzu offensichtlich werden zu lassen.

Der Aufschrei war groß: Greta Thunberg, Ikone der globalen Jugendbewegung „Fridays for Future“, gefeiertes Gewissen der Welt, alternative Nobelpreisträgerin, Person des Jahres 2019 (laut US-Magazin Time), Ehrendoktorin für Theologie an der Universität in Helsinki und persönlich bekannt mit den mächtigsten Menschen der Welt inklusive Papst, outet sich als linke Antisemitin.

Am 12. November 2023 hatte die 20-jährige Thunberg auf einer Klimaschutz-Demonstration in Amsterdam die Bühne mit der Aktivistin Sara Rachdan geteilt. Die in den Niederlanden lebende Palästinenserin hatte zuvor den Terroranschlag der Hamas auf Israel vom 7. Oktober als legitimen und überfälligen Ausbruch des Widerstands gegen die israelische Besatzung bezeichnet, das Vorgehen Israels in Gaza mit dem bestialischen Verbrechen der Nazis im Konzentrationslager Ausschwitz-Birkenau sowie den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu mit Adolf Hitler verglichen.

Und weil das offensichtlich noch nicht reichte, forderte Greta Thunberg – in eine palästinensische Kufiya gehüllt – 85.000 Demonstranten in Amsterdam dazu auf, „auf die Stimmen jener zu hören, die unterdrückt sind und für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen“, um dann, als sich Protest gegen die Verknüpfung dieser beiden Themen regte, den Slogan „No climate justice on occupied land!“ („Es gibt keine Klimagerechtigkeit auf besetztem Boden!“) anzustimmen. Bereits zuvor hatte sie der Menge verkündet, man streike heute „aus Solidarität mit Palästina und Gaza“.

Natürlich möchte niemand der schwedischen Umweltikone persönlich expliziten Judenhass vorwerfen. Andererseits drängt sich die Frage auf, wie es passieren kann, dass gerade die so sensitive grüne Protestgeneration, die die Welt am liebsten per rigoroser Cancel Culture und politisch-korrekter Verbotspolitik zu ihrem eigenen „Safe Space“ umgärtnern möchte, ausgerechnet bei offensichtlich antisemitischen und den Terror verharmlosenden Äußerungen plötzlich ihr Herz für Vielfalt und Diversität zu entdecken scheint.

Versuch der Distanzierung

In der deutschen Klimabewegung wurden diese Ereignisse von Amsterdam mit Entsetzen registriert. Die deutsche Sektion von „Fridays for Future“ (FFF) betont seitdem noch stärker den bereits zuvor feststellbaren Entfremdungsprozess gegenüber Thunberg. Schließlich war dies nicht der erste „Ausrutscher“ der ökologischen Weltenretterin. Schon Thunbergs überraschende Aussagen zur positiven Rolle der Atomkraft im Klimaschutz und ihr Eintreten für die linke Aktivistin Naomi Klein, die für einen weltweiten Boykott Israels argumentiert, hatten bei den deutschen Umweltengeln für Unwohlsein gesorgt.

Nun scheint das Tischtuch zwischen FFF Deutschland, die sich als die größte Sektion weltweit begreift, und ihrer einstigen Säulenheiligen endgültig zerschnitten zu sein. Die deutsche Bewegung sei längst über die ersten Schulstreiks hinausgewachsen, betont man hierzulande nun den eigenen Reifeprozess. Ein wenig panisch wirkt diese Abkehr indes schon, ist Thunberg doch bis heute die einzige weltweit anerkannte Repräsentantin der Bewegung. Ihr deutsches Pendant Luisa Neubauer tritt seit Amsterdam erstaunlich selten öffentlich auf. Ihre Distanzierung von Thunberg ist vorsichtig darauf bedacht, die Bewegung nicht weiter zu zersplittern: „Greta war eine wichtige Impulsgeberin, FFF Deutschland ist eigenständig, wir haben unsere eigene Geschichte geschrieben“, lautet Neubauers Statement. Sogar über eine Umbenennung wird diskutiert. Politische Klarheit und Zuversicht klingen anders.

„Für Ausgewogenheit, Verständnis, Toleranz und vernetztes Denken stand Greta nie.“

Der Versuch, sich von derlei Äußerungen zu distanzieren ist nachvollziehbar. Aber ist er auch glaubwürdig? Oder ist hierin nicht eher ein verzweifelter Versuch zu sehen, die Bewegung vor der endgültigen politischen Selbstzerfleischung zu retten? Recht schnell nach dem Entstehen der Bewegung hatte sich gezeigt, dass der öffentlichen Protestform des Schulstreiks zum Trotz ein Großteil der Anhänger und Demonstranten in Deutschland tatsächlich deutlich über 30 Jahre und mitnichten schulpflichtig waren. Es war mithin abzusehen, dass die Bewegung sich in die Richtung einer klassisch politischen und keineswegs global und überparteilich ausgerichteten Strömung entwickeln würde.

Deren führende deutsche Repräsentanten setzen nun alles daran, die frühere Greta von der heutigen, die mit „naiven“ und „granatenmäßig dummen“ Äußerungen um sich wirft, abzutrennen, um somit die eigene Geschichte und Legitimation zu retten. So weist man nun darauf hin, dass Thunberg sich anderen politischen Themen geöffnet und weitaus weniger integrierend, sondern vielmehr polarisierend wirke, was nicht im Interesse von „FFF“ sei. Wer sich Greta Thunbergs Aussagen im Verlauf ihrer Karriere genauer anschaut, kann durchaus zu anderen Schlussfolgerungen kommen. Die Anzahl der Themen, die sie öffentlich anspricht und miteinander zu verknüpfen versucht, mag sich vergrößert haben – ein Umstand, den man einer erwachsen werdenden jungen Frau nur wünschen kann.

Autistin als Leitbild

Was hingegen gleichgeblieben ist, ist die Art, wie Thunberg die Welt sieht. Für Ausgewogenheit, Verständnis, Toleranz und vernetztes Denken stand sie nie. Das Gegenteil ist der Fall, und damit geht sie auch völlig offen um. Die Schwedin leidet am Asperger-Syndrom, einer Variante des Autismus. Betroffene sind häufig hochintelligent, aber auch wenig empathisch und menschenorientiert, und zudem neigen sie in ihrer Wahrnehmung der Welt zu einer obsessiven und verengten Fokussierung auf einige wenige Themenfelder. „Das macht, das ich alles schwarz oder weiß sehe“, sagt sie, und beim Klimaschutz sei genau dies richtig und wichtig. Entweder tut man jetzt etwas Radikales oder die Menschheit stirbt aus, glaubt sie bis heute.

Ihr Klima-Engagement, erzählt Thunberg freimütig, habe ihr aus den Essstörungen und der Depression herausgeholfen. Auch in anderen Situationen verbindet sie ihr Engagement mit ihrer Erkrankung und misst ihr sogar eine positive Rolle bei. In einem im ZDF ausgestrahlten Porträt von 2019 erklärt sie: „Wenn ich kein Asperger hätte, wäre all dies hier nicht möglich gewesen. Ich hätte einfach weiter so gelebt und gedacht wie jeder andere auch. Ich sehe die Welt aus einer anderen Perspektive: schwarz und weiß.“

„Es sagt viel über die hiesige Denk- und Debattenkultur aus, wenn sie eine Asperger-Betroffene zu einem politisch-moralischen Leuchtturm des Planeten erklärt.“

Diese Denkweise von Greta Thunberg zeigt sich bis heute unverändert. Sie ist dafür auch nicht zu kritisieren – die Gedanken sind frei. Zudem ist ihr Denken eindeutig mit ihrer Erkrankung in Verbindung zu bringen. Dafür kann Greta Thunberg nichts, und sie kann wohl auch nicht anders. Allerdings muss eine Welt, die ja nicht nur vielschichtig und bunt ist, sondern es auch bleiben will, sich die Frage stellen, ob ausgerechnet Schwarz-Weiß-Denken neue Wege in eine helle und bunte Zukunft aufzeigen kann. Es ist nicht Thunbergs Verdienst, dass dieses Denken heute im westlichen Umwelt- und Klimadiskurs dominant ist. Vielmehr sagt es viel über die hiesige generationenübergreifende Denk- und Debattenkultur aus, wenn sie eine Asperger-Betroffene zu einem politisch-moralischen Leuchtturm des Planeten erklärt.

Tatsächlich ist gerade das kompromisslose und die Komplexität der Realität ausblendende Schwarz-Weiß-Denken die intellektuelle Basis für die Bewegung „Fridays for Future“, die es ohne Greta Thunberg nicht geben würde. Dass es ihr nun im Zusammenhang mit dem Terror der Hamas an Empathie mit den Opfern mangelt, sollte nicht wirklich überraschen. Ihre weltberühmte Anklage an die Mächtigen der Welt „How dare you?“ („Wie könnt Ihr es wagen?“) wurde jahrelang als Ausdruck positiv-kindlicher Radikalität gefeiert. Tatsächlich aber drückt der Satz auch die tatsächliche Unfähigkeit – oder auch -unwilligkeit – aus, Verständnis für große Zusammenhänge zu entwickeln. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis einem globalen Polit-Promi in der modernen vernetzten und mit Fettnäpfen übersäten Welt diese Vereinfachung auf die Füße fällt. Bei Greta Thunberg scheint der Zeitpunkt näher zu rücken.

Die frühe „Hoffnungsträgerin“ Greta künstlich von der heute politisch irrlichternden Thunberg abzutrennen, ist ein fragwürdiges politisches Manöver mit dem Ziel, das Schwarz-Weiß-Denken der Klimabewegung nicht allzu offensichtlich werden zu lassen. Aber es ist auch eine Geschichtsklitterung, denn: Greta Thunberg war auch früher schon keine Hoffnungsträgerin. Sie war das Gegenteil. Aus ihrer obsessiven Angst um das Weltklima erwuchs keine positive Vision, wie die Menschheit Probleme angehen und lösen könne. Angst reicht nicht aus, um konstruktive Lösungen zu entwickeln. Angst reicht nur aus, um Anklage zu erheben. Das war Thunbergs Geschäft. „Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre“, lautet der Satz, den die damals 16-Jährige auf der Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums (WEF) im Januar 2019 der politischen Weltelite entgegenschleuderte und der bis heute ihren Weltruhm begründet.

„Angst macht leicht regierbar, denn aus ihr erwachsen höchstens Proteste, die mehr staatliche Verantwortungsübernahme und härteres Durchgreifen fordern.“

Es ist die emotional vorgetragene Anklage der Mächtigen aus dem Mund eines kleinen Mädchens, die wie kaum ein anderes rhetorisches Stilmittel die politische westliche Kultur unserer Zeit charakterisiert. Von Hoffnung oder gar einer Vision für die Zukunft ist nichts zu sehen. Wie gesagt: Von einer 16jährigen Schülerin ist das nicht zu erwarten. Zu erwarten ist aber von einer erwachsenen und hochentwickelten Welt, dass sie derlei nicht zum Leitbild ihres Handels macht.

Heute ist Angst zum weit verbreiteten und auch akzeptierten politischen Instrument geworden. Angst macht leicht regierbar, denn aus ihr erwachsen höchstens Proteste, die mehr staatliche Verantwortungsübernahme und härteres Durchgreifen fordern. Freiheit und Eigenverantwortung stehen nicht auf der Angst-Agenda, auch nicht auf der grünen. Und selbst wenn sich FFF Deutschland Greta entledigt, so bleiben die Gretatisten immer noch Etatisten. Die Bewegung will mit dem Verweis auf den drohenden Weltuntergang Wohlstand und individuelle Freiheiten beschneiden. Hoffnung auf eine bessere Zukunft sät sie nicht. Stattdessen fordert sie totalen Gehorsam und Nulltoleranz gegenüber Andersdenkenden.

Solange rigorose und radikale Umgestaltungspläne und Umerziehungskonzepte in einem grünen Gewand daherkommen, solange sich der Totalitarismus grün ausrichtet, solange scheinen große Teile der Gesellschaft ihn entweder zu akzeptieren oder ihn nicht zu erkennen. Der Aufschrei kommt erst, wenn der Totalitarismus seine Tarnung aufgibt und sein offen menschenverachtendes Antlitz zeigt. Doch der Aufschrei ist kein Aufwachen – im Gegenteil: Als Folge wird die Schlinge um die Freiheit noch enger gezogen. Die Prognose sei gestattet: Fridays for Future Deutschland ohne Greta wird keinen Deut schlauer, nur deutschlauer.

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