20.06.2022

Die Schweiz ist nicht mehr die Schweiz

Von Andrea Seaman

Titelbild

Foto: Martin Abegglen via Flickr / CC BY-SA 2.0

Durch die Beteiligung an Sanktionen gegen Russland und die Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat gibt die Schweiz ihre sprichwörtliche Neutralität auf, ohne dass das Volk gefragt wurde.

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine wird nicht auf magische Weise verschwinden. Eine Seite wird den Sieg mit brachialer militärischer Gewalt erringen. Oder ein Friedensabkommen könnte die Frage klären, wie der Konflikt gelöst werden soll, bevor die Härte einer der beiden Seiten in vollem Umfang auf die Probe gestellt wird. Aber so oder so werden sich die beiden Parteien höchstwahrscheinlich auf neutralem Boden einigen müssen – und sei es nur, um die Bedingungen für eine Kapitulation, einen Sieg oder ein Patt zu bestätigen.

Ein solcher Versuch, den Frieden auf diplomatischem Weg zu sichern, könnte von der Schweiz vermittelt werden, wobei Genf als Verhandlungsort fungieren würde. Die Schweiz hat eine Geschichte der Neutralität, die für ihre nationale Identität grundlegend ist.

Es war der Völkerbund, der 1920 die immerwährende Neutralität der Schweiz anerkannte und damit an den Wiener Kongress von 1815 anknüpfte, der diese bestätigte. Das Genfer Abkommen von 1954, das die friedliche Wiedervereinigung Vietnams und die Beendigung des französischen Eingreifens in Vietnam vorsah, war eine direkte Folge der neutralen Haltung unseres Landes, die bis ins 21. Jahrhundert andauerte. So vertritt die Schweiz beispielsweise Georgien in seinen Beziehungen zu Moskau, seit sich die beiden Länder 2008 bekriegt haben.

Leider hat die Schweiz vor kurzem ihre Neutralität aufgegeben, um auf den nationalen und internationalen Druck zu antworten und Stellung zum Krieg in der Ukraine zu beziehen. Vier Tage nach Beginn des Krieges beschloss die Schweizer Regierung, die zahlreichen Wirtschaftssanktionen durchzusetzen, die die EU zur Bestrafung Russlands für seine Invasion rasch ergriffen hatte. Außerdem ist die Schweiz gerade für den Zeitraum von 2023 bis 2024 in den Uno-Sicherheitsrat gewählt worden.

„Der Uno-Sicherheitsrat hat in der Vergangenheit Kriege abgesegnet, so dass die Mitgliedschaft in diesem Gremium bei einem angeblich neutralen Land keinen guten Eindruck macht.“

Mit der Verhängung von Sanktionen und dem Beitritt zum Uno-Sicherheitsrat wurde die Neutralität der Schweiz faktisch aufgehoben. Die New York Times griff diese Tatsache auf, als sie berichtete, dass die Schweiz „mit der Neutralitätstradition des Landes gebrochen hat, indem sie sich den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und anderen bei der Verhängung von Sanktionen gegen Russland für dessen Einmarsch in der Ukraine anschloss." Und der Uno-Sicherheitsrat hat in der Vergangenheit Kriege abgesegnet, so dass die Mitgliedschaft in diesem Gremium bei einem angeblich neutralen Land keinen guten Eindruck macht. 

Dies wäre an sich nicht moralisch verwerflich, wenn das Schweizer Volk einen solchen Schritt gutgeheißen hätte. Umfragen lassen die Vermutung zu, dass eine Mehrheit, die für diese Sanktionen eintreten würde, bereits gebildet werden könnte. Doch die Resultate von Umfragen ersetzen keine demokratisch getroffenen Entscheidungen und sind meist zweifelhaft, aus Gründen, die Sir Humphrey in der britischen Sitcom „Yes, Prime Minister“ brillant erklärt. Das Schweizer Volk wurde jedenfalls bis heute nicht im Geringsten dazu befragt, ob es diese Sanktionen ergreifen oder dem Uno-Sicherheitsrat beitreten will. Keine wirkliche Debatte darüber fand statt, und das ist ein Skandal, denn hier wurden wesentliche Schritte in die Wege geleitet, die die Schweiz von nun an grundlegend neu prägen werden.

Das ganze Sanktionspaket ist somit eine antidemokratisch verfügte Änderung eines grundlegenden außenpolitischen Prinzips der Schweiz und markiert eine drastische Veränderung des internationalen Status der Schweiz als Nationalstaat. Es bedeutet auch, dass das Ethos, der Charakter und die Identität, die das Schweizer Volk historisch geprägt haben, ohne dessen Zustimmung von oben nach unten radikal umgestaltet werden. Vielleicht gerade weil unsere Eliten wussten, dass sie dies nie erreichen würden, wenn es zu einer nationalen Abstimmung käme.

Russland hat die Schweiz daher auf eine Liste feindlicher Länder gesetzt, die versuchen, Russlands Wirtschaft und nationale Sicherheit zu untergraben. Unter diesen Umständen kann die Schweiz in Zukunft nicht mehr als glaubwürdiger Vermittler oder neutraler Verhandlungsort für Russland und die Ukraine oder andere Nationen fungieren. Die Aussicht, dass der Krieg beispielsweise in Genf, dem europäischen Haupsitz der Vereinten Nationen, beigelegt werden könnte, hat sich in Luft aufgelöst. Wie es mit der Rolle der Schweiz bei den Verhandlungen für Georgien weitergehen wird, kann man nur vermuten. Vielleicht bleibt sie aus Trägheit vorerst bestehen.

„Man fragt sich, ob die Schweiz in einem möglichen zukünftigen Weltkrieg ein sicherer Ort zum Leben sein wird, da Russland leicht zum Feind auch kleinerer westlicher Ländern werden könnte.“

Die Politiker, die die Haltung der Schweiz in internationalen Angelegenheiten begrüßen, die sich direkt negativ auf eine der atomar bewaffneten Weltmächte auswirkt, leugnen diese Tatsachen. Bundespräsident und Außenminister Ignazio Cassis (FDP) besteht darauf, dass die Schweiz nach wie vor ein neutrales Land sei. Bundesrätin Karin Keller Sutter (ebenfalls FDP), betont, dass durch die Sanktionen der Schweiz kein „Paradigmenwechsel" stattgefunden habe. Sie weist darauf hin, dass die Schweiz kürzlich auch EU-Sanktionen gegen Syrien umgesetzt hat. In diesem Sinne war die Verhängung von Sanktionen gegen andere Länder durch die Schweiz nicht völlig neu und seit geraumer Zeit absehbar.

Doch indem sie den russischen Bären mit wirtschaftlichen Stöcken stach, hat die Schweizer Elite nun die Nation, die sie angeblich vertritt, selbst unter den mächtigsten Ländern der Welt diskreditiert. Dieser Schaden ist irreparabel. Genf, einst Hauptstadt wichtiger friedensstiftender Maßnahmen zwischen den Ländern, und Empfänger so vieler Bemühungen und Steuergelder, um diesen Status und dieses Image zu fördern, hat seine Funktion nun eingebüßt. Man fragt sich, ob die Schweiz in einem möglichen zukünftigen Weltkrieg ein sicherer Ort zum Leben sein wird, da Russland leicht zum Feind auch kleinerer westlicher Ländern werden könnte.

Außenminister Cassis hat sich selbst einen Strick gedreht, um die von der Schweizer Regierung abgelehnte Neutralität mit der neugeschmiedeten Feindschaft zu Russland zu rechtfertigen. Er hat unsere Neutralität zur „kooperativen Neutralität" umdefiniert. Damit meint Cassis, dass die Schweiz mit Washington und Brüssel bei deren dezidiert nicht-neutralen Aktionen kooperieren soll. Er erklärt: „Einem Aggressor in die Hände zu spielen ist nicht neutral." Cassis impliziert, dass die Schweiz Russland hilft, wenn sie Russland nicht schadet. Damit wird der paradoxe Grundsatz aufgestellt, dass die Neutralität einer Nation mit Parteilichkeit gleichzusetzen ist. Cassis hätte genauso gut sagen können: „Entweder ist man für die Ukraine oder gegen die Ukraine, und damit Punktum!."

Aber wenn die fortbestehende Neutralität der Schweiz eine friedliche Lösung zwischen der Ukraine und Russland hätte erleichtern können, spielt diese Ablehnung der Schweizer Neutralität, die Cassis mitgetragen hat, Russland dann nicht in die Hände? Weil sie der Ukraine schadet, indem sie eine bewährte friedliche diplomatische Konfliktlösungsstrategie über die erfahrenen Schweizer Dienste nahezu unmöglich macht?

„Die Schweiz hat soeben ihre hart erkämpften Vorteile und ihr Ansehen auf der Weltbühne weggeworfen.“

Anfang Juli, mitten im Krieg, findet in Lugano eine internationale Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine statt. Ursprünglich – vor mehr als einem Jahr – sollte es darum gehen, die Ukraine zu reformieren, um sie weniger korrupt zu machen. Jetzt soll es laut Cassis in Lugano ein offener, „inklusiver" und „positiver" Prozess „unter Freunden und Partnern" sein. Dazu gehört natürlich nicht Russland, das von vornherein als Feind betrachtet wird. Mit dieser Haltung ist die Schweiz alles andere als neutral. Zudem erlaubt die Neutralität der Schweiz nicht, der Nato beizutreten. Aber Verteidigungsministerin Viola Amherd (Die Mitte) sondiert bereits, wie eine zukünftige Zusammenarbeit mit dem nordatlantischen Militär-Bündnis aussehen könnte. Die Linke und einige Politiker der Liberalen Partei fordern sogar, die Schweiz solle schwere Waffen in die Ukraine schicken.

Kritiker der Schweizer Neutralität weisen auf die vielen Fälle in der Vergangenheit hin, in denen die Schweiz nicht neutral war. Das Beispiel der Sanktionierung von Syrien ist ein solcher Fall. Diese Kritiker nehmen dies als hinreichende Rechtfertigung für den aktuellen Bruch des Staates mit dem vermeintlichen „Mythos" der Neutralität. Aber vergangene Übel können gegenwärtige Übel derselben Art nicht rechtfertigen. Auch die tatsächlich neutralen Perioden der Schweizer Vergangenheit, wie unsere Neutralität im Ersten und Zweiten Weltkrieg – ganz zu schweigen von der unschätzbaren Rolle Genfs während des Kalten Krieges – sollten nicht als Mythos betrachtet werden.

Welche Folgen es haben wird, dass sich die Schweiz so gründlich und endgültig ihrer Neutralität entledigt, ist schwer abzusehen. Aber der Krieg in der Ukraine zeigt uns, dass sich geopolitische Bruchlinien neu formieren und dass in Zukunft der Bedarf an Konfliktlösungen groß sein wird. Doch die Schweiz hat soeben ihre hart erkämpften Vorteile und ihr Ansehen auf der Weltbühne weggeworfen. Genf hat kein Alleinstellungsmerkmal mehr gegenüber anderen Uno-Sitzen wie dem in New York.

Am deutlichsten zeigt sich bereits jetzt die Kluft zwischen den wenigen, die die Elite der Schweiz bilden und das Staatsschiff steuern, und dem Volk, dessen Wünsche in Fragen der Außenpolitik und der nationalen Identität des Landes als unerheblich gelten. Eine Demokratie kann nicht lange bestehen, wenn Politiker von sich aus und ohne große Vorüberlegungen oder Debatten folgenschwere Entscheidungen treffen. Das Schweizer Volk sollte diejenigen, die diese Sanktionen unterstützt haben, aus dem Amt jagen und die demokratische Kontrolle durch eine nationale Abstimmung wiederherstellen.

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