22.03.2016
Die Rebellion der Ausgegrenzten
Essay von Sabine Beppler-Spahl
Die jüngsten Erfolge der AfD sind nicht nur eine Reaktion auf die Flüchtlingskrise. Immer mehr Menschen fühlen sich vom grün-liberalen Konsens in Politik und Medien nicht mehr repräsentiert.
Nun ist sogar Angela Merkel zum obersten Grenzschließer geworden. Nach den Kommunalwahlen ging es ganz schnell. Die Türkei wurde zum Türsteher ernannt (ungeachtet der großen Probleme, mit denen das Land selbst zu kämpfen hat) und der Tonfall gegenüber unseren Nachbarstaaten wurde verschärft: Es gereiche Europa nicht zur Ehre, sich so schwer bei der Lastenteilung zu tun, sagte die Kanzlerin im Bundestag. Politik, so heißt es, sei eben ein Rendezvous mit der Wirklichkeit.
Dabei ist ziemlich klar, dass die Politik der Grenzöffnung nicht an den administrativen Herausforderungen gescheitert ist. Diese waren zwar beträchtlich, wurden aber im Großen und Ganzen – manchmal besser, manchmal weniger gut – bewältigt. Registrierung, Unterbringung, „Willkommensklassen“ usw. waren und sind mit Schwierigkeiten behaftet, aber keinesfalls unlösbar. Das viel größere Problem ist, dass der recht vernünftige Satz der Kanzlerin vom Sommer letzten Jahres („Wir schaffen das“) zu wenig mit politischem Inhalt gefüllt wurde. Es fehlte die Substanz, die diesen Satz hätte stützen müssen. Das wurde in den Monaten nach dem angeblich so märchenhaften September immer deutlicher.
Warum sollten Menschen in Sachsen Anhalt, wo die Arbeitslosigkeit noch immer bei über zehn Prozent liegt, das Diktum der Kanzlerin kritiklos hinnehmen? Viele Fragen, die die Finanzierung, die Sozialhilfe, die Veränderung des täglichen Lebens für die Alteingesessenen, die Meinungen der Zugezogenen oder auch einfach nur die noch zu erwartenden Einwanderungszahlen betreffen, wurden viel zu leichtfertig übergangen und häufig sogar als eine Art Tabubruch (nach dem Motto: „Wer so etwas fragt, muss eine Dumpfbacke sein“) abgetan. Aber Wähler haben das Recht, kritische, harte Fragen zu stellen und Antworten zu verlangen.
„Es ist eine Auseinandersetzung zwischen denen, die den gesellschaftlichen Konsens über Jahre entscheidend beeinflusst haben und denen, die sich nicht mehr als Teil dieses Konsenses fühlen.“
Damit wären wir bei dem größten Problem: Hinter den hitzigen Streitereien der letzten Monate verbirgt sich ein ganz anderer, viel grundlegenderer Konflikt. Er hat mit der Flüchtlingskrise nur indirekt zu tun, macht aber eine offene, ehrliche Debatte über Einwanderung sehr schwer. Es ist eine Auseinandersetzung zwischen einer grün-liberal geprägten Mittelschicht, die den gesellschaftlichen Konsens über Jahre entscheidend beeinflusst hat, und einer Gruppe von Bürgern, die sich nicht als Teil dieses Konsenses fühlt. Viele von ihnen sind ehemalige SPD- oder CDU-Wähler mit ganz anderen Lebenserfahrungen und Überzeugungen als jenen der grün-liberal-kosmopolitischen Klasse. Und sie vertreten eher traditionelle Meinungen zu Fragen wie Familie, Schwulenehe oder Immigration.
Diese eher traditionell orientierten Gruppen fühlten sich seit langem in der etablierten Politik nicht mehr repräsentiert und suchten andere Möglichkeiten, ihren Überzeugungen Ausdruck zu verleihen. Ein Beispiel für eine solch außerparlamentarische Opposition war die Mobilisierung gegen die Lehrplanreform in Baden-Württemberg vor fast zwei Jahren, als annährend 200.000 Menschen eine Petition unterzeichneten. (Damals sollte die sexuelle Vielfalt verpflichtend an Schulen unterrichtet werden.) Nun ist es die Öffnung der Grenzen, die im September für viele überraschend kam und die sie wie eine Überrumpelung empfanden, die den Protest angefeuert hat. Anders als vor zwei Jahren aber gibt es unterdessen eine Partei – die AfD – die es geschafft hat, den Unmut aufzugreifen und in parlamentarische Bahnen zu lenken.
Die anti-mainstream Protestpartei
„85% Prozent bleiben cool (…) die Übergroße Mehrheit wählt Parteien, die Angela Merkels Flüchtlingspolitik mittragen“, titelte die taz nach den Wahlen. Diese Überschrift zeigt, wie sich Mainstream und Anti-Mainstream in den vergangenen Jahren verschoben haben. Die taz, die sich selbst als unabhängig und links beschreibt und vor über 30 Jahren selber als Stimme gegen die etablierte Politik gegründet wurde, wähnt sich heute auf der Seite einer satten Mehrheit von 85 Prozent der Bevölkerung. Ist sie damit noch anti-Mainstream? Ja, es gibt so viel Übereinstimmung zwischen den einstigen politischen Gegenpolen, dass der grünen Spitzenkandidat in Baden Württemberg, Winfried Kretschmann, vor den Wahlen sagte, er bete täglich für Angela Merkel. (Man stelle sich vor, Willy Brandt hätte gesagt, er bete täglich für den Erfolg Helmut Kohls!).
Es ist wie die Schriftstellerin Monika Maron schreibt: „Seit alle Parteien sich um den Platz in der Mitte streiten und die CDU den konservativen Teil der Bevölkerung sich selbst überlassen (…) hat, seit das Wort Normalität nur noch in Anführungszeichen benutzt werden kann, aber jede Minderheit nicht nur Akzeptanz, sondern Deutungshoheit beansprucht, seitdem war es nur eine Frage der Zeit, wann sich am verwaisten konservativen Flügel der Gesellschaft eine politische Kraft ansiedeln würde“
Doch jetzt, da es diese Kraft gibt, hat sie Menschen mitgezogen, die früher nie auf die Idee gekommen wären, eine Protestpartei zu wählen. Geholfen hat ihr dabei, dass die Kanzlerin bei der Einwanderungsfrage – ähnlich wie bei dem Atomausstieg – ohne große Ankündigung und ohne die Debatte zu eröffnen gehandelt hat. Wie bei der Energiewende dürfte sie auf die Unterstützung der grün-liberalen deutschen Mittelschicht, die der Einwanderung tatsächlich in großen Teilen positiv gegenübersteht, verlassen haben. Doch die Einwanderungsfrage hat sich als polarisierender erwiesen als der Atomausstieg. Der Vorwurf, die Kanzlerin habe gegen ihr demokratisches Mandat gehandelt (oder dieses bei einer so weitreichenden Entscheidung überschritten) stand von Anfang an im Raum. Die AfD profitierte von dem Gefühl, dass sich mit der Öffnung der Grenzen schon wieder eine finanziell gut-situierte Schicht durchgesetzt habe, die für die normalen Menschen ohnehin mehr Verachtung als Verständnis aufbringt.
„Auch eine Partei wie die AfD hat ihren Sinn in einer Demokratie, weil sie Fragen anspricht, die viele Wähler bewegen“
Leider sind die Reaktionen vieler Einwanderungsbefürworter sowie der etablierten Parteien nicht geeignet, diesen Eindruck zu korrigieren. Tatsächlich wurde mehr Energie darauf verwendet, die AfD zu beschimpfen, als sich deren kritischen Fragen zu stellen. Anständige Menschen wählten keine AfD, schrieb zum Beispiel der SPD Politiker Roger Lewentz aus Rheinland Pfalz. (Besonders perfide ist, dass er die AfD im gleichen Schreiben vor allem dafür kritisiert, dass sie behauptet habe, seine Regierung täte nicht genug, um Flüchtlinge abzuschieben: „Die Aussage von Uwe Junge, Rheinland-Pfalz tue zu wenig bei Abschiebungen und Rückführungen, ist falsch. Das ist reine Stimmungsmache auf dem Rücken von Flüchtlingen“, so der Politiker). Seine Regierungschefin, Malu Dreyer verweigerte sogar jede Fernsehdebatte mit der AfD. Für Dreyer war dieser Boykott eine Frage des Prinzips, da sie nicht mit Rechten spreche. Abgesehen davon, dass dies einiges über ihre Einstellung zur Redefreiheit und offenen Debatte aussagt, bringt dies auch eine deutliche Verachtung für die AfD-Wähler zum Ausdruck. Ist das die Art und Weise, mit der sich die SPD der Sorgen und Ängste der normalen Bürger zuwenden möchte, wie sie in oft paternalistischem Ton behauptet?
Die Strategie schwankte zwischen Beschimpfung, Boykott und Anbiederung. Als die CDU-Kandidatin in Rheinland Pfalz, Julia Klöckner, merkte, dass die AfD zu einer ernsthaften Gefahr wurde, begann sie (ähnlich wie Seehofer in Bayern) deren Parolen nachzuplappern. Fast lächerlich wirkte ihr Plan A2, mit dem sie panisch versuchte, sich von Angela Merkel abzugrenzen. Er ließ sie opportunistisch und unstet wirken. Ein noch traurigeres Bild gab die SPD ab, deren Vorsitzender Sigmar Gabriel beim Versuch, die unterschiedlichen Fraktionen seiner Partei zusammenzuhalten, aus seinem Schlingerkurs zwischen Abgrenzung und Anbiederung kaum mehr herauskam. Statt langfristiger Lösungen und Strategien, dachte er, man könne den Wähler mit Geldversprechungen zufriedenstellen, und schlug ein Solidaritätsprojekt für die deutsche Bevölkerung, parallel zur Flüchtlingskrise, vor. Das alles waren mehr als nur kleinere, taktische Fehler, sondern Ausdruck dafür, vor welch große Probleme die AfD die etablierten Parteien stellt. Zwar beklagte man sich jahrelang über die stetig wachsende Zahl der Nichtwähler, doch keine der Parteien bemühte sich ernsthaft, sie zurückzugewinnen. Jetzt, wo viele von ihnen als AfD-Wähler wieder aufgetaucht sind, finden die Funktionäre nicht einmal die richtigen Worte, um mit ihnen zu sprechen.
„Als sie merkte, dass die AfD zu einer ernsthaften Gefahr wurde, begann sie deren Parolen nachzuplappern.“
All dies hat in der Flüchtlingsdebatte viel Schaden angerichtet. Die AfD konnte punkten, weil sie die Arroganz und Abgehobenheit der etablierten Politik und ihrer Unterstützer bloßgestellt hat. Seit langem habe es keinen so spannenden Wahlabend mehr in diesem Land gegeben wie am 13. März, meinte z.B. die Journalistin Brigitte Fehrle von der Berliner Zeitung: „Wer wählt, befindet sich im demokratischen Spektrum und ist für öffentliche Debatten und hoffentlich auch für Argumente noch erreichbar“, schreibt sie. Doch das hält sie nicht davon ab, im gleichen Kommentar noch hinzuzufügen, dass alle Anständigen wegen dieser neuen Partei in Zukunft noch einiges auszuhalten haben werden.
Es ist dieser arrogante Tonfall, der viele verärgert. Es geht nicht darum, die AfD und ihre Wähler mit Samthandschuhen anzufassen. Ganz im Gegenteil: gerade jetzt brauchen wir eine harte, klare politische Auseinandersetzung. Doch genau das ist das Problem, denn diese wird durch die Abwertung und Beschimpfung der AfD und ihrer Wähler vermieden. Bürger, die hart arbeiten, Steuern zahlen und sich Sorgen um die Zukunft ihres Landes machen, dürften es wenig schätzen, als unanständige Menschen bezeichnet zu werden, nur weil sie eine andere Meinung zur Immigration haben. Sie sehen nicht ein, weshalb ihre Gegner ihnen vorwerfen, nicht solidarisch genug zu sein, obwohl sie sich oft sehr viel solidarsicher mit ihrem unmittelbaren Umfeld zeigen als ihre Kritiker. Sie sehen die Spannungen, die die Flüchtlingskrise hervorgerufen hat und glauben nicht, dass die Krise Europa zu einem besseren, humaneren Ort hat werden lassen (wer die Bilder aus Idomeni sieht, muss ihnen Recht geben). Sie sehen es als ihr gutes Recht an, die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin zu kritisieren (viele waren schon zu DDR-Zeiten gegen die Vormundschaft einer lehrmeisterhaft auftretenden Elite). Vor allem aber erkennen sie die Widersprüche einer Politik, die vorgibt, demokratisch zu sein und trotzdem alles tut, um andere Meinungen zu diskreditieren. Dies alles hat dazu geführt, dass sich nicht nur alte, enttäuschte Konservative, sondern viel mehr Wähler als erwartet, der AfD zugewandt haben.
Debatten statt Kulturkämpfe
Die wahre Tragik ist, dass all diese Irrungen und Wirrungen auf dem Rücken der Flüchtlingskrise ausgetragen werden. Diejenigen, die für Immigration sind, haben den Gegnern vorgeworfen, die Krise für die eigenen Zwecke auszunutzen. Doch tun sie nicht das Gleiche, indem sie die Haltung zu Flüchtlingen zu einer Art Glaubensbekenntnis umwandeln? Das alles ist umso ärgerlicher, da keine Partei mehr für wirklich offene Grenzen eintritt. Die Krise, so der neue Konsens, könne nur europaweit gelöst werden. Damit aber werden die Konflikte nur weitergeleitet und ausgedehnt. Ist es etwa richtig, wenn die deutsche Regierung von anderen europäischen Regierungen (z.B. der polnischen) fordert, gegen den Willen der eigenen Bevölkerung vorzugehen? Was ist das für ein Demokratieverständnis, das hier zum Ausdruck kommt (noch dazu häufig mit dem Hinweis, diese Länder hätten schließlich schon viele Gelder von der EU erhalten und müssten nun eben tun, was wir verlangten).
Tatsächlich wäre es das Beste, wenn Europa gemeinsam handeln könnte. Die Flüchtlingskrise war kein Naturereignis, das plötzlich über den Kontinent hereingerollt ist. Es wäre gut gewesen, wenn unsere Politiker schon viel früher dazu übergegangen wären, die Debatte zu eröffnen und ihre Bevölkerungen bei dieser zentralen Frage einzubeziehen. Was damals verpasst wurde, muss jetzt nachgeholt werden. Nur so werden wir wirklich weiterkommen. Es gibt gute und wichtige Gründe, für ein Europa mit offenen Grenzen einzutreten, aber nur mit – und nicht gegen – die eigene Bevölkerung. Nach wie vor sehen viele auch die großen Chancen, die mit der Einwanderung verbunden sind. Hinzu kommt der ganz natürliche Wunsch, anderen zu helfen. Die Frage, die sich uns stellt ist, wie wir für offene Grenzen eintreten können, ohne in einen unguten Kulturkampf, der viel zu viele ausschließt, hineingezogen zu werden.