12.06.2020

Die Lives der Anderen

Von Andrea Seaman

Titelbild

Foto: John Lucia via Flickr / CC BY 2.0

Black Lives Matter instrumentalisiert die Tötung George Floyds für seine eigenen Zwecke. Statt das Problem der Polizeigewalt in den USA anzugehen, wird einseitiges Rassendenken propagiert.

Die Tötung von George Floyd durch Polizisten erschütterte die Welt. Es wäre unmenschlich, nicht empört zu sein. Der Zorn über diesen brutalen, tödlichen Polizeiakt ist gerechtfertigt. Die Gewalt bleibt für alle sichtbar in dem inzwischen berüchtigten Video, das Floyds letzte Atemzüge festhält.

George Floyd als Opfer zu ehren und ihm als Mensch Respekt zu zollen, ist das Eine. Doch echte Wut über Polizeigewalt, auch solche über Rassismus, droht derzeit, für Ziele instrumentalisiert zu werden, die man nur als rassistisch betrachten kann.

Die Öffentlichkeit verdient zu erfahren, ob die Ursache von Floyds Tod (systemische) Polizeigewalt oder (systemischer) Rassismus war. Wir müssen dazu feststellen – bei aller  Symbolik eines brutalen weißen Polizisten, der über einem Schwarzen kniet – dass im vorliegenden Fall bis heute keine Beweise für ein rassistisches Motiv vorliegen.

Dennoch wurde George Floyds Tod von der Bewegung Black Lives Matter (BLM) sofort für ihre Zwecke genutzt. Der Weltanschauung von Black Lives Matter zufolge leidet die moderne amerikanische und westliche Gesellschaft darunter, dass sie inhärent rassistisch gegen Schwarze eingestellt sei. Es passt ins Bild dieser Ideologie, wenn ein weißer Polizist einen Schwarzen brutal tötet.

„Wäre George Floyd von einem schwarzen Polizeibeamten getötet worden, wäre BLM nicht in Aktion getreten.“

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Unter vier Prozent der rund 1000 jährlich durch Polizisten getöteten Amerikaner sind unbewaffnete Schwarze, die von einem weißen Polizisten umgebracht werden. „Die Wahrscheinlichkeit“, befindet Heather MacDonald vom Manhattan Institute, „dass ein Polizeibeamter von einem Schwarzen getötet wird, ist 18,5-mal höher als die Wahrscheinlichkeit, dass ein unbewaffneter Schwarzer von einem Polizeibeamten getötet wird“. Das sieht nicht nach systematischem Rassismus aus.

BLM verleiht folglich dem Wert des Lebens von jemandem wie George Floyd hauptsächlich deshalb Bedeutung, um die Verbreitung, Popularisierung und Zementierung der eigenen Ideologie zu fördern. Wäre George Floyd von einem schwarzen Polizeibeamten getötet worden, der Floyd das Knie in den Nacken zwang, wäre BLM nicht in Aktion getreten.

Daher wissen wir, dass BLM heuchelt: Dave Patrick Underwood, ein schwarzer Polizist, wurde während der Unruhen nach Floyds Tod im Dienst vor einem Gerichtsgebäude erschossen und getötet. Der pensionierte schwarze Polizist David Dorn wurde von Plünderern getötet, während er den Laden eines Freundes bewachte. Italia Marie Kelly, eine 22-jährige Schwarze, wurde auf der Flucht vor einem gewalttätigen Black-Lives-Matter-Protest in Iowa tödlich in den Rücken geschossen. BLM verhielt sich gegenüber diesen Todesfällen bemerkenswert passiv. Wenn man bedenkt, dass eine der BLM-Hauptparolen „Schweigen ist Mittäterschaft" lautet, was verrät das über die Bewegung?

Der amerikanische, schwarze Intellektuelle Thomas Sowell von der Universität Stanford bezeichnet BLM als „rassistische Institution". „Alles, was solche Demagogen brauchen", um ihre Sache besser voranzubringen, „ist eine Situation, in der es eine Konfrontation gegeben hat, wo einer weiß und ein anderer schwarz war". Floyds Tod verschaffte BLM genau eine  solche Situation.

„Weiße, die von Polizisten getötet werden, spielen für BLM keine Rolle.“

BLM erklärt Leben für wichtig unter der Bedingung, dass die Person schwarzhäutig ist. Der starke Fokus auf genau solche Fälle verhindert, dass das Problem Polizeigewalt in seiner ganzen Dimension erkannt wird. Weiße, die von Polizisten getötet werden, spielen für BLM keine Rolle. Und auch das Leben von Schwarzen kümmert BLM nur dann, wenn es unrechtmäßig von Weißen, insbesondere von weißen Polizisten, ausgelöscht wird. So wird auch das Problem des Rassismus verkürzt auf solche Einzeltaten, die zwar spektakulär sind, aber nicht der Kern von Rassismus.

Larry Elder, ein amerikanischer Libertärer, bemerkt: Die „Todesursache Nr. 1“ „für junge schwarze Männer ist Tötung, fast immer durch einen anderen jungen schwarzen Mann“. Dagegen protestiert BLM nicht. Ebenso wenig protestierte BLM, als von Schwarzen geführten Geschäfte – deren Lebensgrundlage – während der Unruhe nach Floyds Tod verwüstet wurden.

Black Lives Matter misst dem Leben (auch dem schwarzen) also nur unter bestimmten Bedingungen Bedeutung bei. Eine solch exklusive Sicht ist ebenso rassistisch, wie es eine hypothetische rechtsextreme Bewegung wäre, die sich selbst White Lives Matter nennt und nur das Leben Weißer wertschätzen würde.

Weiße Rassisten, denen das Leben Schwarzer nichts bedeutet, sind abzulehnen. Das gilt umgekehrt genauso. In dieser Hinsicht haben viele Anhänger der BLM hehre antirassistische Absichten. Sie sehen sich selbst als Aktivisten meist auf der Seite der Linken, als Progressive, Sozialisten oder sogar Marxisten. Sie glauben sich auf der Seite des Fortschritts. Doch in Wahrheit ist es reaktionär, eine politische Bewegung auf dem Dogma aufzubauen, dass Menschen mit bestimmter Hautfarbe besondere Bedeutung zukommt.

„Alles menschliche Leben ist wichtig, unabhängig von der Hautfarbe.“

Wenn über die Fortschrittlichkeit der Linken diskutiert wird, stößt man auf ihre Beschäftigung mit Hegels Auflösung von Widersprüchen durch die Synthese von These und Antithese. Oft verkommt die Erklärung dieser Vorstellung zu sehr abstraktem und leerem Gerede, zu bloßem Formalismus. Aber im Zusammenhang mit Black Lives Matter ist dieses Konzept Hegelscher Abstammung von entscheidender Bedeutung für eine wirklich fortschrittliche, antirassistische politische Position.

Die „These“, der sich BLM widersetzt, ist die traditionelle rassistische Vorstellung, dass weiße Menschen zählen, Schwarze aber nicht. BLM vertritt die direkte „Antithese“ dazu, nämlich dass Schwarze wichtiger seien. Die progressive Sichtweise liegt jedoch weder in der These noch in der Antithese, sondern in deren Synthese. Denn These und Antithese an und für sich sind hier nichts Anderes als zwei Seiten einer Medaille.

Die Synthese lautet: Sowohl schwarze als auch weiße Menschenleben sind von Bedeutung. Alles menschliche Leben ist wichtig, unabhängig von der Hautfarbe. Das ist ein Fortschritt, eine großartige Verbesserung  gegenüber den anderen Positionen. Rassismus wird auf diese Weise überwunden, im Sinne der Aufklärung in den Mülleimer der schlechten Ideen geworfen, zugunsten eines universalistischen Humanismus.

„Wahre Solidarität zwischen Schwarzen und Weißen kann niemals existieren, solange eine Seite behauptet, dass ihr Leben mehr zählt als das der anderen.“

Mit dieser wahrhaft fortschrittlichen Position könnten wir uns wirksam gegen alle fatalen Ungerechtigkeiten wenden, die von der Polizei, anderen Staatsbeamten oder wem auch immer begangen werden. Nach diesem Prinzip würde Polizeibrutalität, sei sie rassistisch motiviert oder farbenblinde Bosheit, Proteste oder Gerechtigkeitsforderungen auslösen, wo immer sie auftritt.

Die BLM-Bewegung steht diesem Fortschritt im Wege, da sie einer identitären Antithese zum gegen Schwarze gerichteten Rassismus anhängt. Wahre Solidarität zwischen Schwarzen und Weißen kann niemals existieren, solange eine Seite in der Gleichung behauptet, dass ihr Leben mehr zählt als das der anderen. BLM-Aktivisten sind keine Linken, wenn sie nicht synthetisieren und in Antithesen stecken bleiben. Darüber hinaus veranlasst dieser Fehler regressive Haltungen und Gewohnheiten.

Elaine Brown, ehemalige Vorsitzende der Black Panther Party in den USA, wirft BLM generell eine „Plantagenmentalität" vor. BLM-Aktivisten rufen der Polizei „Hände hoch, nicht schießen!" und „Hört auf, uns zu töten!" zu – mit erhobenen Händen über dem Kopf. Brown zufolge kommt dies einer sich entmachtenden, flehenden Ehrerbietung gleich; es hat „einen Beigeschmack von ‚Master, wenn Sie mich doch nur richtig behandeln würden'".

„Wer Rassismus ablehnt, kann in der öffentlichen Zurschaustellung von Selbsterniedrigung, weil man als Weißer geboren wurde, nichts Tugendhaftes erkennen.“

Nach der Ermordung von Floyd entstand eine neue Mode im Stil dieser Plantagenmentalität. BLM-Demonstranten haben Weiße aufgefordert, vor Schwarzen zu knien. Damit soll die Solidarität mit den Schwarzen zum Ausdruck gebracht, sowie für das Privileg des knienden Weißen um Entschuldigung gebeten und dementsprechend Reue gezeigt werden. Wer Rassismus ablehnt, kann in der öffentlichen Zurschaustellung von Selbsterniedrigung, weil man als Weißer geboren wurde, nichts Tugendhaftes erkennen. Es ist erbärmlich, spaltend und untergräbt die gesellschaftliche Solidarität.

Der britische Autor Douglas Murray schlägt einen Test vor, um zu bestimmen, ob dieses Knien rassistisch ist. Er besteht darin, „das Wort ‚weiß' durch das Wort ‚schwarz' zu ersetzen und umgekehrt". Aus demselben fundamentalen Grund, warum Schwarze nicht vor Weißen knien sollten, sollten Letztere nicht vor den Ersten knien. Damit wird nämlich ein rassistisches Verhältnis der Ungleichheit zwischen dem Knienden und denjenigen, vor denen er niederkniet, hergestellt.

Eine wirkungsvollere und konsequentere antirassistische Position ist, dass alles menschliche Leben wichtig ist. Nichts geht über Martin Luther Kings Botschaft, Menschen sollten nicht nach „der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden“. Diese Position und Botschaft zu unterstützen ist der beste Weg, um im Gedenken an George Floyd zu protestieren.

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