30.04.2018

Die leere Hölle des Schanzenviertels

Von Monika Frommel

Titelbild

Foto: Robert Anders via Flickr / CC BY 2.0

Randale und Blockaden gegen den G20-Gipfel in Hamburg im letzten Jahr waren inhaltsleer. Schwarzer Block und „Interventionistische Linke“ tragen nichts Fortschrittliches bei.

Die Krawalle in Hamburg anlässlich der Blockade des G20-Gipfels im Juli haben – wie zu erwarten – kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Darunter auch die Neigung von Liberalen, „linke“ und „rechte“ Gewalt gleichzusetzen. Zwar liegt es aus der Perspektive einer politischen „Mitte“ nahe, die gesellschaftlichen und politischen Ränder als „gleich weit“ weg vom eigenen Milieu und der eigenen Überzeugung zu konstruieren.

Ein Unterschied fällt aber sofort auf: Extreme Rechte wollen Flüchtlinge vertreiben und Migranten das Leben schwermachen. Die „interventionistische Linke“, die die Proteste in Hamburg mitorgansiert hat, pflegt hingegen einen leeren Antikapitalismus. Gegen strukturelle Gewalt müsse man „kämpfen“, und zwar mit „Gewalt gegen Sachen“. 1 Da ist sie – die unsägliche und seit 50 Jahren rituell beschworene Unterscheidung zwischen „Gewalt gegen Sachen“ und „Gewalt gegen Personen“, wobei Polizisten – was ja bemerkenswert ist – nicht als Personen betrachtet, sondern zu Repräsentanten der Staatsgewalt umdefiniert werden. Kriminologen nennen das eine Neutralisierungstechnik, welche dann frei verfügbar alles Mögliche „rechtfertigt“. Auch diese Strategie ist ziemlich alt. Schon 1967 legitimierte Gudrun Ensslin zusammen mit Andreas Baader und zwei weiteren Mittätern beim sog. Frankfurter Kaufhausbrand ihr Tun damit, dass die angezündete Matratze nur eine Sache und die Gefahr eines Brandes zu vernachlässigen gewesen wäre – der Beginn der RAF.

50 Jahre später fragt der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, wie es wäre, wenn es eine „Braune Flora“ gebe und fordert das Ende aller „rechtsfreien Räume“. Nun gibt es jede Menge „rechtslastiger“ Einrichtungen, wenn auch nicht „besetzt“, so doch gesponsert mit viel Geld, etwa das Studienzentrum Weikersheim. Die Geschichte der letzten Jahrhunderte ist voll von „rechtsfreien, braunen Räumen“. Es macht keinen Sinn, inhaltlich Verschiedenes gleichzusetzen. Aber nicht minder ideologisch ist es, strukturelle Ähnlichkeiten zu leugnen. Sie sollen im Folgenden Thema sein. Wenn also aus der Roten Flora nach diesem Debakel zu hören ist: „Wir sind zwar radikal, aber nicht doof“, so muss dem widersprochen werden. Sie sind nicht „radikal“, sondern inhaltsleer, und „nicht doof“ ist auch zweifelhaft; denn dann hätten sie mehr Weitsicht zeigen müssen.

Gewalt als Lebensform

Jan Philipp Reemtsma untersucht die Attraktivität von Gewalt als Lebensform oder – wenn sie episodisch auftritt – als „Gruppenerlebnis“ und unterscheidet die uns besonders rätselhaft und sinnlos erscheinende ziellose Aggressivität von dem meist zielgerichteten kriminellen Verhalten eines Räubers oder Vergewaltigers. Die vordergründig nicht verstehbare Aggressivität nennt er „autotelische Gewalt“. 2 Sie folgt keiner instrumentellen Logik, wird also nicht zur Erreichung eines Ziels eingesetzt, kann maßlose Machtdemonstration sein oder die Aktion eines meist jungen Mannes, der in der Hierarchie einer Gruppe eine attraktive Position erreichen oder sie zumindest halten will.

„Ein zielgerichtetes Verhalten lässt sich bei keiner dieser auch in sich durchaus heterogenen Gruppen erkennen.“

An besonders eindrucksvollen Beispielen wie extremer Brutalität in Kriegen und Terror zeigt Reemtsma, dass diese Ziellosigkeit ein wesentliches Phänomen ist, das es zu erklären gilt. Dabei scheiterten jedoch „Versuche, Terror nach Maßgaben instrumenteller Logik zu verstehen“ 3, schon daran, dass „die aktive Teilnahme an einem Terrorsystem so viel an psychischer Gratifikation mit sich bringt, dass das Risiko, zu einem Opfer zu werden, wesentlich geringer wiegt“ 4. Der Vorteil der Perspektive Reemtsmas ist der, dass er nicht versuchen muss, nach Inhalten zu unterscheiden, etwa zwischen „linker“, „rechter“ oder neuerdings „islamistischer“ Gewalt. Auch bedarf es keiner „Gender“- Perspektive, um zu erklären, wieso zu allen Zeiten und in allen Kulturen junge Männer überrepräsentiert sind. Derartige Hierarchien sind Relikte aus „kriegerischen Zeiten“ und schon von daher nur für einen spezifischen Typus von „angestrebter Männlichkeit“ attraktiv.

Übertragen wir die Einsichten von Reemtsma über autotelische Gewalt auf das verstörende Geschehen im Hamburger Schanzenviertel. Zweifellos war es ein gewaltiges „Gruppenerlebnis“. Aber fragt man nach dem „Gewinn“ für die als Blockierer angereisten Protest-Touristen und nach den Zielen der um die Rote Flora herum sozialisierten „interventionistischen Linken“, so ging es allenfalls um eine politische Machtfrage: Kann ein Gipfel in einer Großstadt wie Hamburg abgehalten werden? Sollte das ihr Ziel gewesen sein, dann haben sie verloren. Verloren haben sie aber auch, wenn man übergreifend fragt, was 50 Jahre nach 1968 die Zuschreibung „links“ bedeuten kann.

Das Streben nach mehr Demokratie, die Garantie von Grundrechten und die Verbesserung von Chancengleichheit sind nicht mehr als „linke“ Ziele verstehen, sondern mehrheitsfähig geworden. Wer dagegen ist, gilt als „rechts“. Wer mit „links“ eine fundamentale Kapitalismus-Kritik meint, muss zeigen, wie diese umgesetzt werden soll. Wer meint, radikal sein zu müssen, geht in die Falle, die sinnlose Gewalt nun einmal darstellt.

„Derart vage Kritik an der Globalisierung verdeckt mehr, als sie erklärt.“

Übertragen auf die Hamburger Krawalle passt zu Reemtsmas Diagnose, dass es ganz „normale“ Partygänger waren, die in einer aufgeheizten und gewaltschwangeren Atmosphäre jeden Hauch von Zivilität verloren haben und ein sog. „linkes Viertel“ demolierten, in dem sie Schlafplätze für die Demonstration bekommen hatten. Aber auch die martialische Aufmachung des Schwarzen Blocks und der Name der Demonstration („welcome2hell“) zeigte schon, was zu erwarten war. Um es vorweg zu sagen: Ein zielgerichtetes Verhalten lässt sich bei keiner dieser auch in sich durchaus heterogenen Gruppen erkennen.

Globalisierung lässt sich nicht blockieren

Zwar behauptet die Organisatorin der „interventionistischen Linken“ in Hamburg 5, die Politikwissenschaftsstudentin, Emily Laquer, die „Linken“ hätten den G20-Gipfel „behindern“ wollen. Aber was ist das für ein Ziel, inhaltliche Kritik durch reine Blockade und Randale zu verdrängen? Es hat etwas von Tragik, dass außerparlamentarische Aktivitäten in den letzten 50 Jahren meist nur der Verhinderung dienten. Entstanden sind zwar in den Städten kleine Parallelgesellschaften wie etwa in Hamburg die Rote Flora. Aber konstruktive Gestaltung verlangt mehr. Bleibt dies aus, hat das Folgen. Denn eine derart vage Kritik an der Globalisierung – wie von den Hamburger Protestierenden – verdeckt mehr, als sie erklärt.

Globalisierung findet nun einmal statt, unabhängig davon, ob das angeblich „links“ Denkende wollen oder nicht. Diskutieren und wenn möglich minimieren müssen wir alle und erst recht die politisch Handelnden die Nachteile, die dieser Prozess für ganze Regionen und auch in reichen Ländern für sog. Globalisierungsverlierer mit sich bringt. Dass dies in manchen politischen Systemen überhaupt nicht und insgesamt gesehen nicht angemessen geschieht, kann nicht bestritten werden. Aber hätte eine erfolgreiche Blockade des Gipfels irgendeinen Nutzen gehabt? Sicher nein, was zeigt, dass es um etwas anderes geht. Wäre von allen Demonstranten eine gehaltvolle internationale Gegen-Demonstration gewollt worden, dann hätte ein Teil dieser politischen Debatten auch in der Roten Flora stattfinden können und mit bunten Veranstaltungen und breiten Debatten weltweite Aufmerksamkeit erregt.

Stattdessen wollte man sich offenbar nur mit Polizisten rangeln. Dass diese am Ende völlig erschöpft waren und das Schanzenviertel „opferten“, es aus ihrer Sicht opfern mussten, kann man unterschiedlich deuten. Geplant war das sicher nicht, wurde aber in Kauf genommen. Nicht nur fehlende Weitsicht, welches Maß an Destruktivität die „interventionistische Linke“ einkalkuliert hat, sondern bereits die Prioritäten der Sicherheitspolitik (Teilnehmer des Gipfels sind zu schützen) erklären, dass die Lage relativ früh nicht mehr beherrschbar war.

„Das Kontrolldefizit wurde kriminell genutzt für gegen die Bewohner gerichtete Aggression.“

Der Rückzug der Polizei öffnete für einige Stunden einen staatsfreien Raum. Er zeigt die ganze Paradoxie der Gipfel-Gegner. Denn eigentlich müsste das Fehlen staatlicher „Willkür“ einer „Linken“, die für die Freiheit zu kämpfen vorgibt, freudiger Anlass zu konstruktiven Aktivitäten gewesen sein 6, aber sie waren nur auf Blockade und Krawall gebürstet. Das Kontrolldefizit wurde kriminell genutzt für neue und nun gegen die Bewohner gerichtete Aggression (Sachbeschädigung, Raub, Brandstiftung). Diese – für Kriminologen erwartungsgemäße – Folge zeigt die Leere des sich „links“ nennenden Protestes. Sobald sich wieder ein Polizist sehen ließ, ging es weiter – nun mit Vorbereitungshandlungen für gezielte Tötungen und Verletzungen. Kein gutes Zeichen für eine Subkultur, die eigentlich dem freien Spiel der Kräfte Raum lassen will.

Um was also ging es den Organisatoren der Blockade eigentlich? Was hat eine sich „links“ nennende Gruppe davon, mit Hilfe von Gewalt zu versuchen, die Kosten für einen Gipfel so hoch zu schrauben, dass er nur noch an Orten wie Helgoland stattfinden kann? Abgesehen vom kurzfristigen Medien-Echo hat das keinen Sinn. Neben einer die unmittelbaren Realitäten verdrängenden Gruppendynamik 7 ist noch ein weiterer Faktor zu bedenken: der in diesen Subkulturen übliche Überbietungswettbewerb innerhalb der Protest-Szenen: „links“, „linker“, am „linkesten“ (wobei der Doppelsinn hier stehen bleiben kann).

Sympathie und Antipathie

Der Soziologe Armin Nassehi bestätigt, was unter Berufung auf Reemtsma dargelegt wurde. „Gewalt“ ist attraktiv, aber mit einer instrumentellen Logik nicht zu verstehen. Er geht noch einen Schritt weiter und bezeichnet die heute gängigen Ziele von Linken (im weiten Sinne) als Sympathie-Paradox; denn es gibt nur noch wenige Menschen, die etwas gegen die Gleichberechtigung aller Menschen haben (notorisch Gleichheit genannt, was auf Ergebnisgleichheit hindeutet), niemand befürwortet die Kriege oder billigt die Armut in der Welt. Auch akzeptieren fast alle Beobachter der globalisierten Welt, dass die gegenwärtige Weltwirtschaft zwar Vorteile bringt, aber hässliche Kehrseiten hat. Da „links“ nur beschrieben werden kann mit einem Blick auf „rechts“, analysiert Nassehi deren Dilemma.

Verlautbarungen der extremen Rechten laufen auf eine öde Polemik gegen Europa, gegen Fremde, gegen eine offene Migrationspolitik hinaus, sie bejahen teilweise eine völkische Identitätspolitik und wehren sich gegen Vielfalt. Damit haben sie ein Antipathie-Paradox.

Zwar können Realpolitiker die Probleme nicht lösen, die von den extremen Rechten angeprangert werden, aber diese Populisten können auch nicht sagen, wie denn illegale Migration eingedämmt werden soll. Sie findet statt. Kluge Antworten sind schwierig. Was die „Linken“ betrifft, so haben sich spätestens seit den 1980er-Jahren und dann ganz deutlich nach dem Ende des Kalten Kriegs Utopien erschöpft. 8 Es geht nun darum, die komplexen Vor- und Nachteile konkreter politischer Schritte abzuwägen und offen zu sein für konstruktive Ideen und umfassende Dialoge.

„Die Organisatoren der Roten Flora müssten gesellschaftlich zur Rechenschaft gezogen werden.“

Was bedeutet dies nun, wenn Aktivisten ankündigen, gewaltsam einen Gipfel zu blockieren? Die Blockade soll Gruppenerlebnisse schaffen. Selbst wenn man umgekehrt auch die G20 als „politisches Theater“ ablehnen sollte, so ist es wichtig zu zeigen, dass eine Blockade völlig sinnlos ist. Sie hat mit Demonstrationen wenig bis nichts zu tun. Kritik an den Folgen der Globalisierung ist wichtig, aber es ist unangemessen, solche Gipfel verhindern oder erheblich erschweren zu wollen, da in einer medial hochgerüsteten Welt auch „Theater“ unvermeidbar ist. Die angekündigte Blockade war also nicht mehr als ein Ritual. Dass es gewaltsam umgesetzt werden sollte, zwang zu einem großen Polizeiaufgebot. Zu behaupten, die Gewalt sei „Gegengewalt“ und der „Krawall“ lediglich eine Folge von verfehlter Polizeitaktik, ist schief. Selbst wenn die Polizeistrategie verfehlt gewesen sein sollte, rechtfertigt das nicht Nachsicht mit einer Blockade in der Form der Taktik schwarzer Blöcke.

Kommen wir zur Anfangsfrage zurück. Unterscheidet sich „rechter“ (Pegida) von „linkem“ Protest strukturell? Offensichtlich sind nur die inhaltlichen Unterschiede. Aber kann man ferner in den kulturell sehr verschiedenen Ritualisierungen und den inhaltlich äußerst gegensätzlichen „Systemkritiken“ Gemeinsamkeiten erkennen? Nach der bisher dargelegten Analyse sind es die fehlenden politischen Ziele und Konzepte. Wer sich in leerer Empörung erschöpft, sollte seine Meinung zumindest friedlich äußern. Denn was könnte denn durch so leere Forderungen bezweckt werden? Sollten die Veranstalter von Pegida etwa meinen, der AfD zu hohen Stimmenanteilen zu verhelfen? Kurzfristig mag ein gewisses Medienecho dazu führen, aber dieser Effekt verpufft schnell. Letztlich gehen sie in die Antipathie-Falle. Ähnlich sieht es bei der „interventionistischen Linke“ aus. Ein Krawall wie in Hamburg (oder schon zuvor an anderen Orten) bringt linken Parteien sicher keine Stimmen. Ihre politischen Gegner überschlagen sich nun mit reflexartig geäußerten, aber letztlich ebenfalls ins Leere laufenden Gesetzesverschärfungen. Krawall und die anschließenden Debatten übertönen zunächst einmal jedes Argument.

Was könnten nun die Lehren aus der sinnlosen Gewalt in Hamburg sein? Mehr Repression ist sicher der falsche Weg, weil die einzelnen, eindeutig kriminell handelnden jungen Männer nun einmal nicht diejenigen sind, die solche Szenarien herstellen. Es waren Akademiker und Veranstalter aus Hamburg, Anwälte wie die in Hamburg agierenden Andreas Blechschmidt und Andreas Beuth und die Organisatoren der Roten Flora. Sie müssten eigentlich, statt immer wieder neu die Bilder der Randale zu zeigen, gesellschaftlich zur Rechenschaft gezogen werden. Eine internationale Datei derer, die auf Demonstrationen aufgefallen sind, scheint ebenfalls wenig geeignet, präventiv zu wirken. Noch weniger macht es Sinn, das Vermummungsverbot zu lockern. Aber es muss auch von denen, die friedlich sein wollen, akzeptiert werden, dass die Organisationsform „Schwarzer Block“ nicht toleriert werden kann. Und auch diejenigen, welche eine „bunte Reaktion“ suchen, könnten auf einem illusionären Weg sein, die Nähe zur Narrenfreiheit droht. Alle, die an öffentlichen Debatten teilnehmen, müssen sich zwingen, etwas konkreter zu werden.

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