01.11.2005
Die Heilige Jungfrau der Schlachthöfe
Analyse von Hartmut Schönherr
Über die neue Bundeskanzlerin Angela Merkel.
„Nichts Wesentliches ändert sich in der Geschichte ohne symbolische Akte, ohne Zeichen, auf die spätere Generationen zurückblicken, um für ihre Zukunft einen Rückhalt zu gewinnen.“ (Jürgen Habermas)
Von der Ex-Kanzlergattin stammt der wohl unfairste Angriff des vergangenen Wahlkampfes auf Angela Merkel. In einem Interview mit der Zeit erklärte Doris Schröder-Köpf, Angela Merkel trage als Ex-Ministerin für Frauen und Jugend Mitschuld daran, dass es heute so wenige Kinder gebe. Weil sie für den Abtreibungsparagraphen zuständig war? Nein, die Politjournalistin Schröder-Köpf meinte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Angela Merkel, da kinderlos, nie interessiert habe. „Frau Merkel verkörpert mit ihrer Biographie nicht die Erfahrungen der meisten Frauen“, lautete das Fazit von Schröder-Köpf.
Wieweit ihr dreifach geschiedener Gatte die Erfahrungen der meisten Männer verkörpert, mag dahin gestellt bleiben. Als Papa der Nation zeigte er ja ein gewisses Talent, immer eine Currywurst zur Hand für die Arbeitslosen und für die Freunde aus der Großindustrie eine Cohiba. Er sagte auch gerne, wo es lang geht, auch wenn die Richtung öfter wechselte. Als Kanzler sieht die Bilanz schlechter aus für den Meister der Kurswenden und der Widerrufe, auch wenn seine Regierung einiges auf den Weg gebracht hat.
Der Angriff von Schröder-Köpf gegen Angela Merkel könnte daher als Schützenhilfe für den angeschlagenen Gatten abgetan werden. Aber vielleicht hat die Ex-Kanzlergattin erspürt, was eine der Stärken von Angela Merkel ausmacht. Die – wenngleich stark gerupfte – Wahlsiegerin vom 18. September fand in den ersten Wochen nach Schröders Neuwahlankündigung auch deshalb so viel Zustimmung, weil sie einen ganz anderen Stil pflegt als der Showkanzler – ganz ohne Familiengetue und unerschütterlich konservativ. Irgendwie passt diese Frau zum deutschen Papst.
Sterben mit Angela Merkel die Deutschen aus?
Schröder-Köpf steht mit ihrem Diktum in einer denkwürdigen Tradition. Seit jeher haben die Deutschen ein eher gespaltenes Verhältnis zu Kindern. Ihre künftige Nutzung, sei es als Soldaten, als Arbeitskräfte oder als Versicherung für das Rentensystem, stand gesellschaftlich stets stärker im Vordergrund, als es die bürgerliche Erfindung der Kindheit erlaubt.
Da Soldaten und Arbeitskräfte zunehmend wegrationalisiert werden, ist dieses System auch seiner letzten Rationalisierungsbasis beraubt. Damit verbunden ist der notwendige Abschied von einem Altersversorgungssystem, das bis zuletzt dem Denken bäuerlicher Kulturen entsprach, wonach die Zahl der Kinder Garant für ein ruhiges Alter war. In einer Gesellschaft, die mit Argusaugen die zerfranste Bevölkerungstanne mit schwindender Basis beobachtet und allerhand chirurgische Eingriffe zu deren Rettung erwägt, strahlt eine kinderlose Kanzlerin etwas geradezu Entspannendes aus.
Angela Merkel könnte einen entscheidenden Fehler vieler Eltern vermeiden: die Verpflichtung künftiger Generationen auf die eigenen Lebensziele. Als Kanzlerin könnte sie überzeugend Schluss machen mit dem Wahn, ein „Aussterben der Deutschen“ wechselweise als erhofften Segen oder als Katastrophe an die Wand zu malen. Sie könnte Schluss machen mit dem Bildungssystem des preußischen Beamtenstaates, dessen moderne Version alle Bürger zu Beamten machen möchte. Dazu muss sie aber mehr zu sagen haben als: „Die Menschen sind verschieden geboren, das ist vom Herrgott so gewollt. Wir sollten sie nicht alle ins selbe Klassenzimmer stecken und gleich machen wollen.“ (Auf Wahlkampf in Bad Oldeslohe, 17.02.05)
Sie könnte, ganz unbeeinflusst durch eigene Erfahrungen, allein der Vernunft folgend, den Akzent auf kinderfreundliche Infrastrukturen verlagern, statt Eltern zu Staatsangestellten mit Gehaltsanspruch zu machen. Mit einer entschiedenen Abwendung von der Geburtenzahlenhysterie könnte unversehens, ganz emanzipiert, auch wieder die Lust auf Kinder steigen. Die Priesterinnen archaischer Fruchtbarkeitskulte blieben selbst ja auch kinderlos, warum es nicht einmal mit einer kinderlosen Kanzlerin versuchen?
Gemessen an dem Monarchismus, den der Brioni-Kanzler symbolisch eingeführt hat, indem er bis zuletzt Staatsangelegenheiten mit Familienangelegenheiten („Doris sagt“) vermengte und sein „Ich“ hinausposaunte, wo es um allgemeine Zukunft ging, gewinnen archaische, präindividualistische Regierungssymbole eine fast schon sympathische korrektive Dimension. Dies zeigte zuletzt der Weltjugendtag in Köln, als dem Papst zugejubelt wurde wie einem Popstar. Offensichtlich wächst wieder die Sehnsucht nach authentischen, „stillen“ Stars. Eine Rolle, die Merkel eher zuzutrauen ist als dem mit seinen Posen bereits verwachsenen Schröder.
Angie, breit’ die Flügle aus
Ihre Eltern haben der CDU-Spitzenfrau den Namen „Angela“ gegeben, die Engelsgleiche. Der Name hat wohl die Spin Doctors des Wahlkampfes dazu verführt, die Kandidatin auf einigen Plakaten als eine Mischung aus Heidi und Mona Lisa zu präsentieren. Allerdings bietet auch Merkels Biografie Anknüpfungspunkte dafür. Michael Schindhelm, Generaldirektor der Berliner Opernhäuser und in der DDR kurze Zeit Akademiekollege von Angela Merkel, hat ihr in seinem Roman Roberts Reise ein literarisches Denkmal gesetzt. Eine nüchterne, abstrakt mit dem „Weltgeist“ kommunizierende Nachwuchswissenschaftlerin namens Renate, die nur auf einsamen Radtouren in der Mark Brandenburg zu „Pathos“ fähig gewesen sei, schenkt dem Ich-Erzähler Gogols „Tote Seelen“ mit der Widmung „Geh ins Offene“. Ein Satz, den Merkel auch dem CDU-Parteitagspublikum in Essen im April 2000 zurief.
Ein anderes Detail, vom Spiegel am 26. Juli mit spürbarer Irritation ausführlich gewürdigt, ist Merkels Leidenschaft für Hirnforschung und dabei besonders für eine Position, die den freien Willen für ein kulturelles Konstrukt hält und das letzte Wort bei Entscheidungen den Neuronen erteilt. Merkel scheint daran vor allem das Motiv der Entlastung von Entscheidungsnöten zu faszinieren. Das sah zumindest der Spiegel so: „Sie ist womöglich bald Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, aber sie ist ohne Furcht. Eine mächtige Frau, geborgen im Neuron.“
Darin zeigt sich eine eigentümliche Verbindung von Naivität und wissenschaftlichem Positivismus. Die wohl auch Merkels Schwäche für Paul Kirchhof als Finanzexperten beeinflusste. Allerdings hatte auch Schröder mit seinen Experten kein großes Glück und hatte ständig zu widerrufen, zu korrigieren und abzumildern, was diese ihm eingebrockten.
"Schwankend zwischen „Eiserner Lady“ und Mutterfigur hat Merkel gerade dadurch gepunktet, dass sie nicht wirklich „eisern“ ist."
Angela Merkel versuchte es im Wahlkampf mit der Wertefloskel „Ehrlichkeit“– dem alten Ersatzprogramm für taugliche Inhalte. Das „ehrlichste Wahlprogramm“ habe sie vorgelegt. Gemeint war die Ankündigung der Mehrwertsteuererhöhung, mit der alle Probleme der Republik zu lösen seien. Dass ihr diese Zahlenmagie als Ehrlichkeit abgenommen wurde, verdankt sie auch ihrer „unschuldigen“ Herkunft aus der DDR. Als Pastorentochter stand sie dem System fremd gegenüber und hat keine verfänglichen Zugeständnisse gemacht.
Nur so konnte sie Helmut Kohl zu seinem „Mädchen“ machen und ihr im Januar 1991 das von ihm neu geschaffene Ministerium „Frauen und Jugend“ übergeben. Dafür, wo die kleinen Kinder herkommen, war unter Kohl ein anderes Ministerium zuständig. Merkel sollte unbefleckt bleiben. Dazu passte dann auch der 1994 folgende Job als Umweltministerin – in welcher Eigenschaft sie das Dosenpfand und die Ökosteuer mitentwickelte. So war sie die ideale Figur, um beim Schwarzgeldskandal Kohls vor das Publikum zu treten und zu sagen: Es gibt noch eine andere, eine „weiße“ CDU.
Die Mutter der Nation
Zum Unschuldsbild gesellt sich das Bild der „Mutter der Nation“, mit deutlich christlichem Beiklang. Unvergessen Merkels Auftritt 2003 bei den 92. Bayreuther Wagner-Festspielen, ganz in nitrophosphatblauen Faltenwurf gehüllt, Walküre und Patrona Bavariae in einem. Geholfen hat es. Stoiber hielt still, als sie zwei Jahre später Kanzlerkandidatin wurde. Nun hat sie im Wahlkampf gelegentlich die rationale Naturwissenschaftlerin wieder hervorgekehrt – und schon kritisiert der Jurist Stoiber ihre „physikalische Wahlkampfführung“.
Schwankend zwischen „Eiserner Lady“ und Mutterfigur hat Merkel gerade dadurch gepunktet, dass sie nicht wirklich „eisern“ ist. Eine ihrer Stärken ist die unzynische Offenheit, die sie oft hilflos wirken lässt. Stark ist sie auch durch die Schwäche der Männer um sie.
Die Ambivalenz im Merkel-Bild hat die Zeit am 18. Juni 2003 auf die Formel gebracht, sie gebe abwechselnd „die Schmerzensmutter der Armen und die Rächerin der Reichen“. Merkel ist gewiss leidensfähig, sonst hätte sie es wohl nicht so lange an der Seite Stoibers ausgehalten. Und sie möchte mit der DDR-Geschichte zugleich auch die 68er-Mythen entsorgen, was sie den Wirtschaftsneoliberalen zutreibt. Beides vereint sich zu einem „Leiden an Schröder“, was sie auch vielen SPD-Wählern sympathisch machte – die Merkel dann mit Mehrwertsteuer und Kirchhof zurücktrieb in den Schoß der Sozialstaatsversprechen.
Am Wahlabend sprach Merkel von der „Demut“, mit der sie den Wählerauftrag annehmen möchte, während Schröder gleichzeitig den unbedingten Willen zur Macht demonstrierte. Die beiden Kandidaten markierten damit stellvertretend die Pole, zwischen denen die bundesrepublikanische Gesellschaft derzeit gespannt ist. Auf der einen Seite die bisweilen an Selbstverleugnung grenzende „ökologische“ Bescheidenheit, auf der anderen Seite forcierte neoliberale Machtergreifung.
Wenn es Merkel gelingt, sich ihre Risikofreudigkeit zu bewahren, könnte sie zwischen den beiden Polen eine erfolgreiche Politik gestalten. Dass sie dies als Problem erkannt hat, zeigte sie in einem Spiegel-Interview vom 30. Oktober 2000, in dem sie über Deutschland sagte: „Wir haben mehr als andere Länder Schwierigkeiten, nicht immer in Extreme zu verfallen. Entweder der Standort ist ganz schlecht, oder wir haben alle Probleme überwunden. Mit einem rationalen Maß Risiken und Chancen abzuwägen und damit vernünftig umzugehen, fällt schwer.“
Merkels Lieblingsautor Reiner Kunze erzählt in Der Löwe Leopold von einem Spielzeuglöwen, der dank starker Sonneneinstrahlung lebendig wird, sein Nachziehbrettchen mit Rädern verlässt und sich einem Zirkus anschließt. Aber Merkel sollte nun nicht nur die Kinderbücher von Reiner Kunze wieder lesen, sondern auch Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Johanna ist an ihrem Zögern gescheitert. Und mahnt am Ende: „Sorgt doch, dass ihr die Welt verlassend/Nicht nur gut wart, sondern verlasst/Eine gute Welt!“