03.11.2016

Die Entzauberung der Angela Merkel

Analyse von Kai Rogusch

Die Hypotheken des Systems Merkel – Unbestimmtheit, Gegenwartsfixierung und Ziellosigkeit – schlagen zum ersten Mal ernsthaft auf Merkel zurück.

Lange Zeit galt Angela Merkel als unangefochtene, unangreifbare und über allem schwebende Sachwalterin und Pflegerin der europäischen Staatsräson und der deutschen Befindlichkeit in Zeiten permanenter Krise. In den Augen der deutschen Bevölkerung schien sie die deutsche Führungsrolle und Lehrmeisterschaft in Europa zu verkörpern. Sie schien sich in den vertraulichen, bürgerfernen und intransparenten EU-Strukturen pudelwohl zu fühlen. Ihr Politikstil, der die Bürger nicht allzu sehr mit komplexen Sachverhalten und abstrakten Prinzipien behelligte, traf in Deutschland auf ein cooles und laut Allensbach-Umfrage „entspannt fatalistisches" Lebensgefühl.

Jedoch wird Merkels bisherige Rolle als Gravitationszentrum und Stabilitätsanker europäischer und nationaler Regierungsgeschäfte zunehmend in Zweifel gezogen. Angesichts unbewältigter Herausforderungen durch Flüchtlingsströme, sich zuspitzender Konflikte im Euroraum und nicht zuletzt dem Brexit zeigen sich in Deutschland und Europa vermehrt Risse. Merkel mag nach wie vor „alternativlos" erscheinen, doch in den Augen einer wachsenden Zahl von Kritikern läuft ihre Zeit langsam ab. Das ist kein Wunder: Merkel steht im Zentrum eines selbstbezüglichen Politikbiotops, dessen Strategielosigkeit sich angesichts des sich auftürmenden Problemdrucks einer unkontrollierbar erscheinenden und kapitalistisch geprägten Weltunordnung ad absurdum führt.

Nach wie vor wähnen sich viele Mittelschichtsangehörige zwar in einer sozial abgesicherten und komfortablen Lage. Doch auch für sie verkörpert Merkel mehr und mehr ein ratloses politisches Establishment, das weder Zuversicht noch Sicherheit vermittelt. Den politischen Eliten gelingt es nicht, die Entwicklungspotenziale und Wanderungsbewegungen innerhalb eines als alternativlos angesehenen marktwirtschaftlichen Weltsystems für weite Teile der Bevölkerung gewinnbringend zu kanalisieren. Der Grund dafür liegt in der Anspruchslosigkeit ihrer Politik innerhalb eines bürokratisch organisierten europäischen Großraums im Rahmen der EU. Dieser fehlt es an demokratisch vermittelter Selbstverständigung. Neue Zukunftsperspektiven und Konzepte zugunsten von Wohlstand und Entwicklung für alle Bürger lassen sich so nicht generieren.

„Merkel steht im Zentrum eines selbstbezüglichen Politikbiotops.“

Nun rächt es sich, dass sich Merkels „Politik" nach dem endgültigen Wegfall der kommunistischen Systemalternative in den letzten 25 Jahren primär in der pragmatischen Anpassung an die Erfordernisse eines aufgrund der „Globalisierung“ angeblich der makroökonomischen Steuerung entzogenen Weltmarktes erschöpfte. Merkels politische Karriere begann nach dem Untergang der DDR im Zuge der „Wende" in den damals ideenpolitisch verbrauchten altbundesrepublikanischen Apparaten. Lange Zeit profitierte sie davon, dass sie in Zeiten des Umbruchs als eine weder durch DDR-Vergangenheit vorbelastete noch durch traditionellen Ballast eines längst nicht mehr zeitgemäßen westdeutschen Konservatismus allzu sehr beschwerte Aufsteigerin fungieren konnte.

Ihr gelang es, in einer Zeit, als sich dieser westdeutsche Konservatismus nicht mehr mittels antikommunistischer Rhetorik zu rechtfertigen vermochte, als personifizierter Katalysator eines an niedrigen Erwartungen, Flexibilität und Pragmatismus orientierten Ideenfundus zu profilieren. Nun ging es darum, die niedrigen Erwartungen, die man damals schon längst im Hinblick politischer Gestaltbarkeit von Natur und Wirtschaft hegte, zu einer zunehmend auch institutionell verankerten Tugend zu erheben. So wurde nach und nach die visionslose Haltung eines neuen Politikbiotops zum Standard, das heute immer weniger in der Lage ist, belastbare Antworten bei der Bewältigung der anstehenden Herausforderungen anzubieten.

Lange Zeit gelang es zwar, die Integration möglichst vieler Menschen in einen störungsfreien marktwirtschaftlichen Betriebsablauf zu bewerkstelligen. Man schien gegenüber den Zumutungen einer außerhalb Deutschlands und Europas außer Rand und Band geratenen Welt immun zu sein, solange man nur die Aufmerksamkeit auf die gegenwärtigen Anforderungen des persönlichen Lebensumfeldes beschränkte. In Zeiten von Rekordbeschäftigung in sozialversicherungsrechtlich und zugleich flexibel strukturierter Erwerbsarbeit sorgte Merkel bei einem Publikum, das die Prämisse gedämpfter Erwartungen bezüglich Wohlstandssteigerungen verinnerlicht hatte, durch ihr maternalistisch und zugleich managerhaft anmutendes Gebaren für ein gewisses Gefühl von Geborgenheit.

Damit hatte es aber ein Ende, als die so genannte Flüchtlingskrise scheinbar unerwartet in die Lebenswelt der deutschen und europäischen Bevölkerungen hereinbrach. Nun wurde deutlich, dass Merkels Politik aller wohl klingenden Modernisierungsrhetorik zum Trotz letztlich einen Defätismus in der Bevölkerung kultiviert, der nun auf Merkel selbst zurückfällt. Der ambitionslose Konservatismus Merkelscher Prägung nährt im Zuge des Andrangs von Flüchtlingen nämlich die in der Gesellschaft grassierenden Vorbehalte ob der „Grenzen der Belastbarkeit". Denn unter Merkels Regentschaft hat sich die ökologistische Idee eingebürgert, dass wir unsere Lebensverhältnisse auf einem niedrigeren Erwartungsniveau fortsetzen müssen, um das letztlich unausweichliche Dahinsiegen „begrenzter Ressourcen" bestenfalls aufzuschieben.

„Reformen" und „Modernisierung" bedeuten nach Merkels Philosophie lediglich die Anpassung an die etablierten Prämissen der sparsamen Ressourceneffizienz. Dass unter ihr  „Risikotechnologien" wie die Atomkraft abgewickelt wurden, deutet auf ihre Vorliebe für stimmungsgetriebene und risikoaverse Kurzschlusshandlungen. Bedenklich ist zudem die Tendenz, den Trend sinkender Produktionsfortschritte zu ignorieren und stattdessen Deutschland als Wachstumslokomotive hochzujubeln. Das wird angesichts der lähmenden Austeritätspolitik in europäischen Krisenländern als zynisch empfunden.

„Dabei hat man das Ziel, die Lebensverhältnisse für alle Bürger messbar zu verbessern, sukzessive aufgegeben.“

Merkels Politik präsentierte sich dabei zwar bisweilen scheinbar innovativ, als sie denjenigen Institutionen, Politikertypen und Glaubenssätzen den finalen Todesstoß versetzte, über die die Zeit hinweggegangen war oder die aus der Zeit gefallen schienen. Doch hierbei handelte es sich um ein an der unmittelbaren Gegenwart orientiertes, aus einer drängenden Situation ergebendes und ohne vorherige Debatte sich vollziehendes sukzessives Abräumen „überkommener" Positionen. „Politik" fungiert hier nur noch als ein Ausfluss aus einer endlosen Abfolge zwingender und stillschweigend als unabänderlich betrachteter Notwendigkeiten.

Dabei hat man das Ziel, die Lebensverhältnisse für alle Bürger messbar zu verbessern, sukzessive aufgegeben. Eine Gesellschaft aber, die nicht mehr weiß, wohin sie strebt, steht den Herausforderungen, die etwa in der Integration zahlreicher Ausländer in Wirtschaft und Gesellschaft liegen, immer abwehrender gegenüber. So bleibt zu hoffen, dass die Entzauberung des Systems Merkel die nach wie vor humanistisch eingestellte Mehrheit der Bevölkerung zu mehr und vor allem auch politischem Engagement animiert.

Immerhin vertrieb der plötzliche Zustrom vieler Menschen aus Weltgegenden, in denen Krieg und wirtschaftliche Not herrschen und in denen ein hierzulande als naiv angesehener Wunsch nach drastischen Wohlstandszuwächsen existiert, die Lethargie vieler Bürger in Deutschland – und animierte sie zu einer anarchistisch anmutenden Solidarität. Dass viele Bürger einen neuen Lebenssinn abseits der ausgetretenen Pfade suchen, ist eine nicht zu unterschätzende Folge von Merkels Kapitulation vor dem massenweisen Streben nach einem besseren Leben.

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